Ihre Reden sind langweilig, ihre rhetorische Kraft bescheiden. Elegant ist sie ebenso wenig, alles andere als pompös, mit einer scheinbaren Distanz zum eigenen Körper; eine „Bewegungs-Idiotin“ sei sie schon als Kind gewesen, sagte sie einmal. Kaum jemand behauptet, sie besäße Charisma. Und doch ist Angela Merkel, seit bald zehn Jahren deutsche Bundeskanzlerin, die mächtigste Frau der Welt.
Was ist Macht? Was macht Macht aus? Worauf gründen mächtige Frauen und Männer ihren Erfolg? Vielleicht ist es so: Wie das Land, so die Herrschaft. Angela Merkel verkörpert norddeutsche Nüchternheit, protestantisches Arbeitsethos und kontrolliertes Temperament. Sie kommt sehr deutsch daher.
Nach Max Webers Definition passt Angela Merkel perfekt in das Raster der legalen Herrscherin. Sie ist weder eine charismatische noch eine traditionelle Führerin. Merkel trägt keine Königskrone; die devoten Ergebenheitsadressen von Parteifreunden, Wirtschaftsvertretern oder Lobbyisten sind ihr wohl innerlich zuwider.
Merkels Renommee fußt auf ihrer Bescheidenheit, ihrer Distanz zu aller Großspurigkeit, zu Geld und Protz. Barocke Selbstinszenierung ist nicht ihr Ding. Sie agiert vielmehr nach dem Prinzip Uckermark: bodenständig, unaufgeregt, karg. So bildete Merkel das für einen Politiker wichtigste Kapital, nämlich Vertrauen. Es ist ihr gelungen, den Menschen das Gefühl zu vermitteln, sie verlässlich zu umsorgen. Die Deutschen – in weiten Teilen immer noch staatsgläubig – mögen das.
Merkels Kosename „Mutti“, ursprünglich spöttisch intendiert, symbolisiert diese Beziehung. Mit den Worten „Sie kennen mich“ beendete Merkel kurz vor der Bundestagswahl 2013 das Fernsehduell mit ihrem Herausforderer Peer Steinbrück. Der wollte den Bürgern inhaltlich etwas abverlangen, sie rhetorisch herausfordern, strapazieren. Das Rennen ging bekanntlich eindeutig zugunsten Merkels aus.
Den Gegensatz zu Merkels Machtstil jenseits von Charisma und Pathos bildet US-Präsident Barack Obama. Wie das Land, so der Herrscher. In den Vereinigten Staaten ist Politik ohne Charisma nichts. Die Gabe, sich geschickt zu präsentieren, geht weit über die politische Sphäre hinaus. In den USA ist jeder Polizist, Feuerwehrmann, Sanitäter, der eine Heldentat vollbracht hat, in der Lage, sich vor laufender Kamera perfekt in Szene zu setzen. Viele Menschen empfinden das hierzulande als Show, als Selbstdarstellung. Wie groß war in Deutschland einst die Häme über Ronald Reagan, nur weil der als Schauspieler gearbeitet hatte!
In den USA, wo die Religiosität einen weit höheren Stellenwert einnimmt als bei uns, kommt manche politische Rede wie eine Predigt daher. So etwas ist den Deutschen heute suspekt und allemal fremd. Vermutlich ist das auf den Nationalsozialismus zurückzuführen, als aufpeitschende Reden und Hitlers rhetorische Exzesse die Politik dominierten. In den vergangenen Jahrzehnten sind in Deutschland oft exzellente Rhetoriker an mittelmäßigen Rednern gescheitert. Man denke nur an Oskar Lafontaine, der bei der Bundestagswahl 1990 als SPD-Kanzlerkandidat gegen Helmut Kohl unterlag.
Den modernen, smarten Machttypen verkörpern die Ministerpräsidenten Matteo Renzi (Italien) und Manuel Valls (Frankreich), mit Abstrichen auch der britische Premierminister David Cameron, der die Unterhauswahlen im Mai wider Erwarten haushoch gewann und gar die absolute Mehrheit für die Tories zurückeroberte. Renzi, gerade einmal 40 Jahre alt, ist der jüngste in diesem Trio. Einen jungenhaften Charme aber haben sie alle. Dieser erinnert an den frühen Tony Blair, und an den ehemaligen US-Präsidenten Bill Clinton, die beide einst für Modernität standen.
In Russland steht Wladimir Putin schon seit 15 Jahren – in verschiedenen Funktionen – an der Spitze des Staats. Putin ist kein Politiker westlichen Typs, und er legt großen Wert darauf, heute noch mehr als in der ersten Phase seiner Herrschaft. Die Bevölkerung überzeugt er nicht etwa mit nüchternem Technokratentum. Er setzt auf nationales Pathos, mit Bezügen zur Sowjetunion, in deren Zusammenbruch er „die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ sieht. Machohaft zeigt er sich mit freiem Oberkörper, auf der Jagd oder beim Angeln.
Putin versteht allerhand von symbolhafter Politik. Existenziell ist für ihn sein Schulterschluss mit der orthodoxen Kirche, nicht zuletzt im gemeinsamen Kampf gegen westliche „Dekadenz“, also Pluralismus, eine offene Kultur und freie Medien. „Putin sammelt Sympathien bei homophoben Autokraten in Afrika, bei reaktionären Regimes im Mittleren Osten und fördert gezielt rechtsradikale, antieuropäisch ausgerichtete Parteien in der EU“, sagt der Historiker Heinrich August Winkler im Gespräch mit dem Zürcher „Tagesanzeiger“.
Putin ist es in den vergangenen Jahren misslungen, sein großes Land zu modernisieren. Bei wirtschaftlicher Infrastruktur, Bildung, Gesundheitsversorgung und Lebenserwartung sind keine Fortschritte erkennbar. Sein Erfolgsmodell: Er bemüht sich um nationales Pathos, Stolz auf die eigene Geschichte und imperiale Großmacht-Allüren. Die Besetzung der Krim und die Destabilisierung der Ostukraine sind nicht zuletzt ein innenpolitisches Programm, ein Beitrag zur Absicherung der eigenen Macht.
Zurück nach Deutschland, wo die Bürger in zwei Jahren zu entscheiden haben, wer sie künftig als Bundeskanzler regieren wird. Wer kann der Merkel – mit welchen Attributen der Macht – jene Macht streitig machen? Wem könnte es gelingen, Merkel aus der Regierungszentrale zu vertreiben?
Sigmar Gabriel, der Vorsitzende der SPD, gilt als deren wahrscheinlicher Kanzlerkandidat. Gabriel besitzt Charisma – jedenfalls, wenn er will. Er kann es an- und ausknipsen. Gabriel ist Lutheraner und er gibt sich zuweilen ähnlich wortgewaltig wie einst der Reformator zu Wittenberg. Anders als Merkel ist Gabriel eine schillernde Führungspersönlichkeit, mit extremen Stärken und Schwächen und einigen biografischen Brüchen.
Schon manchen politischen Haken hat Gabriel geschlagen. Er bewundert seinen niedersächsischen Landsmann, Vorgänger im Amt des Ministerpräsidenten und Parteifreund Gerhard Schröder. Manchmal gibt sich Gabriel wie dieser. An Chuzpe mangelt es auch ihm nicht. Von Politikstil und Führungskultur wäre ein Wechsel von Merkel zu Gabriel ähnlich fundamental wie der von Schröder zu Merkel. Nach Schröders Scheitern als Kanzler Ende 2005 hieß es, die Zeit der testosterongesteuerten Politiker sei vorbei. Merkel statt Schröder, Steinmeier statt Fischer. Sollte das Pendel beizeiten wieder zurückschlagen? Das käme Gabriel gewiss entgegen.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe politik&kommunikation II/2015. Das Heft können Sie hier bestellen.