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Politik

Als Annalena Baerbock im Frühjahr 2021 zur Kanzlerkandidatin der Grünen gekürt wurde, versetzte das einen Teil der Republik in Euphorie. “Die Frau für alle Fälle”, titelte der “Spiegel”. Der “taz” war sie ein “Politikstar”. Die “Zeit” schrieb, es spreche “nichts gegen sie”. Baerbock weckte also große Hoffnungen. Sie ist jung und gilt als zielstrebig, fleißig und integrierend. Und nicht zuletzt: Sie ist eine Frau. Zwar hatte Deutschland mit Angela Merkel die vergangenen Jahre eine Bundeskanzlerin. Die machte allerdings nicht mit beim Repräsentativitäts-Bingo der Journalisten. Dass eine Frau und Ostdeutsche Bundeskanzlerin war – die Ostdeutschen und Frauen haben das nicht wirklich gemerkt.

Mit Annalena Baerbock sollte das anders werden. Die Unterzeile des “Spiegel”-Titelblatts prophezeite, dass “keiner mehr an ihr vorbeikommt”. Am Ende hat sich diese Prognose als etwas gewagt erwiesen. Baerbock wird nicht deutsche Bundeskanzlerin. Zutreffend war der Spruch aber in jedem Fall für Robert Habeck, den Grünen Co-Vorsitzenden. Der war im Nachgang sichtlich enttäuscht, dass Baerbock ihm die Kanzlerkandidatur genommen hatte. Er habe sich erst mal schütteln müssen, sagte er. Was progressive Kreise in Euphorie versetzt hatte, empfand Habeck anders. In der grünen Partei haben Frauen Erstzugriff auf wichtige Ämter. Baerbock habe diese “Frauenkarte” gespielt, sagte Habeck.

Dass Robert Habeck diesen Vorwurf in Stellung brachte, mag viele überrascht haben. Weniger überraschend war, wie scharf dieser Vorwurf im anderen Teil der Republik vorgetragen wurde, der nicht euphorisiert war von Baerbocks Nominierung. Hier galt sie ohnehin nur als Quotenfrau. Entsprechend kalt war der Gegenwind, der ihr entgegenblies. Zwar machte Annalena Baerbock mit dem angenommenen Weihnachtsbonus, den frisierten Lebensläufen und Plagiatsstellen in ihrem mittlerweile zurückgezogenen Buch keine glückliche Figur. Allerdings musste kein Mann, der fürs Kanzleramt kandidierte, es ertragen, dass falsche Nacktbilder von ihm erstellt und auf Pornoportale hochgeladen wurden. Auch müssen Männer sich nicht mit dem Vorwurf herumschlagen, eine “nervige Stimme” zu haben. Diese Art von Sexismus erleben die Frauen leider exklusiv.

Politik wurde schon immer von Männern dominiert. Von den 255 Frauen, die 2021 in den Bundestag gewählt wurden, zogen nur 78 über ein Direktmandat ein. Bei der AfD schlugen überhaupt nur 13 Prozent der Kreisverbände eine Frau als Direktkandidatin vor. Zum Vergleich: Den höchsten Anteil an den Direktkandidaturen hatten Frauen bei den Grünen – und auch hier traten sie mit 48,2 Prozent in weniger als der Hälfte der Wahlkreise für die Partei an. Die restlichen 178 Parlamentarierinnen zogen über einen Listenplatz ein. Insgesamt ging nur jeder vierte Wahlkreis an eine Frau, während nur vier von zehn erfolgreichen Listenplatzkandidaten weiblich waren. Bis 1998 waren nie mehr als 30 Prozent der Bundestagsabgeordneten Frauen. Seitdem ist ihr Anteil immerhin nicht mehr unter diese Marke gefallen. Der aktuelle Bundestag hat einen Frauenanteil von 34,7 Prozent.

Frauen wählen anders als Männer

Die entscheidende Frage ist: Wie bekommen wir mehr Frauen in die Parlamente? Die Wurzel dieses Problems liegt nicht nur auf der aktiven Seite. Jana Faus beschäftigt sich mit Zahlen und Umfragen zu Wahlen, auch im Hinblick auf Geschlechterunterschiede. Faus ist Geschäftsführerin der Agentur Pollytix. “Frauen wählen anders als Männer”, sagt Faus. Bis in die 1980er Jahre gab es einen traditionellen Gender Gap. Frauen wählten christdemokratischer, konservativer. Das führt Faus vor allem auf das traditionelle Rollenbild der Frau im Kontext einer religiösen Erziehung zurück. Ab den 1980er Jahren ändert sich das. Unterschiede im Wahlverhalten zu den Männern brechen auf. Klassische Konfliktlinien spielen kaum noch eine Rolle.

Heute beobachtet Faus einen modernen Gender Gap. Demnach wählen Frauen generell eher links oder “wohlfahrtsstaatlich”. Mit diesen Begriffen verbanden sie während der Kanzlerschaft Angela Merkels die CDU. Heute bringen sie eher die SPD und die Grünen damit in Verbindung. Besonders auffällig ist, dass Wählerinnen tendenziell die politischen Ränder meiden. Sie wählen wesentlich seltener die AfD. Bis heute ist der Gender Voting Gap bei keiner Partei größer als bei den Rechtspopulisten. Faus vermutet, dass Frauen stärker die soziale Stigmatisierung fürchten oder den größeren Wunsch nach sozialer Harmonie hegen. Bei der Bundestagswahl 2021 ließ sich das mit Zahlen erhärten. Zwar kommt man auf dieselbe Reihenfolge der Parteien, wenn man nur deren weibliche Stimmenanteile zählt. Aber die prozentualen Ergebnisse unterscheiden sich deutlich (siehe Grafik). Während AfD und FDP bei Männern besonders beliebt sind, entschieden sich Frauen häufiger für Grüne und SPD.

Auch beim Wann der Stimmenabgabe unterscheiden sich Männer und Frauen. Frauen fällen ihre Wahlentscheidung deutlich später. Das fand Faus bei einer Nachwahlbefragung heraus. Fast ein Viertel der befragten Frauen gaben an, erst am Wahltag ihre Wahlentscheidung getroffen zu haben. Bei den Männern war es weniger als ein Fünftel. Auch unabhängig vom Stichtag fällen Frauen ihre Wahlentscheidung wesentlich später als Männer. Für die Parteien ergibt es also durchaus Sinn, zum Ende eines Wahlkampfes noch einmal gezielt weibliche Wählergruppen anzusprechen.

Frauen gehen seltener zur Wahl

Dafür muss aber überhaupt gelingen, Frauen zur Stimmabgabe zu bewegen. Etwa jede vierte Frau gab an, nicht gewählt zu haben. Bei den Männern war es nur rund jeder fünfte. Als Grund dafür, nicht gewählt zu haben, nannten Frauen häufig “Zeitmangel”. Jana Faus sagt: “Die Kinderbetreuung könnte eine große Rolle spielen.” Als weitere Gründe, warum Frauen seltener wählen gehen, vermutet Faus ein geringes Interesse an Politik “Frauen tendieren zu einem unpolitischen Selbstbild”, sagt Faus. Strukturelle Probleme würden oft als privat empfunden und sich selbst oder dem Umfeld zugeschrieben.

Nicht nur im Wahlverhalten unterscheiden sich Frauen von Männern. Frauen fügen sich in eine spezifische Rolle bei Diskussionen in gemischten Gruppen. “Hier kommt es häufig zu einer geringeren Einschätzung der eigenen politischen Kompetenz und geringerer Selbstwirksamkeitserfahrung”, hat Faus bei Studien beobachtet. Während Männer auch zu Themen sprächen, in denen sie über eine geringe fachliche Kompetenz verfügten, äußerten sich Frauen zurückhaltender. Speziell in politischen Gesprächsrunden ist Faus aufgefallen, dass Frauen eher Validierung bei den Männern suchten. Selbst bei paritätisch oder mit höherem Frauenanteil besetzten Gruppen konnte Faus bei weiblichen Teilnehmern eine erhöhte Unsicherheit ausmachen. Häufig würden sie sich männlichen Gesprächsteilnehmern zuwenden. Es ist deshalb fraglich, ob eine Quotierung von Gremien allein ausreicht, um einen wirklichen Kulturwandel in den Rollenbildern zu erreichen. Das Problem liegt tiefer. “Es ist anzunehmen, dass es eine sexistische Gesprächskultur innerhalb des politischen Handelns gibt, in der nach wie vor Frauen häufiger als Männern in Diskussionen über den Mund gefahren wird”, sagt Jana Faus.

Politikerinnen sind häufig Zielscheibe

Das größte Problem für Politikerinnen ist und bleibt jedoch der Sexismus. Das betrifft nicht nur Spitzenpolitikerinnen wie Annalena Baerbock. In einschlägigen Studien berichten Politikerinnen aller politischen Ebenen von Hass und Hetze. Beleidigungen im Netz treffen Frauen viel häufiger als Männer. Sie zielen bei Politikerinnen, anders als bei Politikern, oft nicht auf politische Aussagen oder Einstellungen, sondern richten sich meist gegen das äußere Erscheinungsbild. Sexistische Kommentare kommen hierbei jedoch nicht ausschließlich von Männern. Auch Frauen hetzen gegen Frauen.

Doch sind weibliche Politikerinnen bei Wählerinnen wenigstens beliebter? Diese Frage beantwortete Faus in einer Gesprächsrunde, die die Politikberaterinnen von Degepol W organisiert hatten. “Nein, es gibt kein Same Gender Voting”, sagte Faus. Weder konnte Angela Merkel in ihren drei Wahlkämpfen aufgrund ihres Geschlechts bei der weiblichen Wählerschaft besonders punkten, noch konnte Annalena Baerbock im vergangenen Wahlkampf bei Frauen besonders punkten. Tatsächlich fühlten sich auch nach 16 Jahren Kanzlerinnenschaft nur 40 Prozent der Deutschen mit einer weiblichen Kanzlerin wohl, fand Faus in einer Umfrage heraus. Selbst unter den Frauen denken 48 Prozent so. Die Mehrheit will also wieder von einem Mann regiert werden. Das wird in den kommenden Jahren Olaf Scholz sein. Immerhin hat er schon im Wahlkampf angekündigt, sein Kabinett zur Hälfte mit Frauen zu besetzen.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 137 – Thema: Die neue Mitte?. Das Heft können Sie hier bestellen.