Gesetzgebung und politische Entscheidungen leben durch Verfahren. Das Grundgesetz und die Geschäftsordnungen unserer Verfassungsorgane bestimmen detailliert, wie die ablaufen. Abseits davon existieren aber auch ungeschriebene Regeln. Diese informellen Verfahren prägen den deutschen Politikbetrieb seit Jahren.
Mittlerweile hat sich das jedoch verändert, insbesondere im Bundestag: Sechs Fraktionen nehmen unter der Reichstagskuppel Platz, koalieren miteinander – und stellen informelle Absprachen teilweise lautstark infrage. Während in manchen Fällen neue Kompromisse gefunden werden, muss in anderen Fällen das Bundesverfassungsgericht über geschriebene und ungeschriebene Ansprüche entscheiden.
Wie wählen die Gewählten?
Nach der Wahl ist vor den Wahlen: Direkt nach der Bundestagswahl beginnt in den Fraktionen ein erbitterter Machtkampf um die Rollen der Vizepräsidenten des Bundestags und die Vorsitze der Ausschüsse. Die Positionen sind einflussreich und prestigeträchtig, denn neben den Fraktionsvorsitzenden sind sie diejenigen, die Themen setzen und Gesetzgebungsverfahren entscheidend steuern können. Obgleich es bei diesen Wahlen um viel Gestaltungsmacht im Parlament geht, sind die Regeln dazu überwiegend ungeschrieben: Lange nominierten alle im Bundestag vertretenen Fraktionen einen eigenen Vizepräsidenten. Die anderen Fraktionen wählten die Kandidaten der anderen dann einfach mit. Ähnlich lief es bei den Ausschüssen. Die größte Fraktion wählte zuerst einen Ausschuss, dessen Vorsitzenden sie stellen wollte. Sodann wählte die zweitgrößte, dann die drittgrößte, bis alle Ausschussvorsitze verteilt waren. Wenn die Fraktionen dann die Kandidaten vorschlugen, die sie an die Spitze des jeweiligen Ausschusses zu setzen gedachten, wurden diese üblicherweise bloß per Akklamation bestätigt.
In Rechtstexten wird diese parlamentarische Praxis nur angedeutet. Art. 40 des Grundgesetzes kennt zwar das Amt des Stellvertreters des Bundestagspräsidenten, legt aber nichts Näheres fest. Nach § 12 der Geschäftsordnung des Bundestages soll „die Regelung des Vorsitzes in den Ausschüssen […] im Verhältnis der Stärke der einzelnen Fraktionen“ vorgenommen werden. Trotz dieser schmalen Regelung gab es so gut wie keine Probleme – bisher.
Informelle Verfahren unter Vorbehalt?
Mit dem Einzug der AfD in den Bundestag wurden diese informellen Übungen hinterfragt. Die übrigen Abgeordneten zweifelten an der Eignung und Verfassungstreue der Kandidaten, die die Rechtspopulisten aufstellten. Sie wollten den Vorschlägen daher nicht einfach folgen. So wurde seit dem Einzug der AfD 2017 keiner ihrer Kandidaten erfolgreich in das Amt des Vizepräsidenten gewählt. Dagegen zog die AfD-Fraktion vor das Bundesverfassungsgericht. Dieses entschied im März 2022, dass es keinen Automatismus auf eine Vizepräsidentschaft gibt, sondern stets der Vorbehalt der Wahl durch die Abgeordneten besteht.
Eine vergleichbare Diskussion zeichnet sich bei den Ausschussvorsitzen ab: Nach dem oben beschriebenen Verteilungsverfahren könnte die AfD in der aktuellen 20. Legislaturperiode den Vorsitz in drei Ausschüssen übernehmen: im Innenausschuss, im Gesundheitsausschuss und im Ausschuss für Entwicklungszusammenarbeit. Entgegen der üblichen Bestätigung per Akklamation entschieden sich die Abgeordneten für eine Abstimmung über den Vorsitz in geheimer Wahl. Dabei fielen die Kandidaten der AfD allesamt durch. Auch damit befasst sich nun das Bundesverfassungsgericht. Einen Eilantrag auf Einsetzung der AfD-Kandidaten als Ausschussvorsitzende lehnten die Karlsruher Richter ab – die Hauptsache wird noch verhandelt.
In der laufenden Legislaturperiode wird noch ein anderes Besetzungsverfahren hochrelevant, dessen Ausgang das Land auf Jahre prägen wird: Mehr als die Hälfte der Richter des Bundesverfassungsgerichts müssen in den kommenden Jahren neu besetzt werden. Wer einen Vorschlag machen darf, entscheidet sich nach der „3-3-1-1“-Formel. Demnach sollen in den beiden Senaten je drei Richter auf Vorschlag von CDU/CSU, drei auf Vorschlag der SPD und je einer auf Vorschlag von FDP und Grünen sitzen. Auf diese Formel haben sich die beteiligten Parteien bei einer informellen Absprache geeinigt. Dabei zeigt das Vorschlagsrecht, dass sich auch ungeschriebene Praktiken veränderten Umständen anpassen können – und müssen. Denn zu Zeiten, als CDU/CSU und SPD noch nahezu mühelos eine Zweidrittelmehrheit erreichten und die Landesregierungen kontrollierten, teilten sie die Vorschlagsrechte unter sich auf. Nur vereinzelt traten sie ihre Rechte an Grüne und FDP ab.
Parteien und „ihre“ Stiftungen
Die parteinahen Stiftungen sind aus dem politischen Betrieb kaum wegzudenken. In Lebensläufen von vielen Politikern findet sich eine Verbindung zu der Stiftung, die ihrer Partei nahesteht. Stiftungen bieten nicht nur Stipendien an und organisieren Seminare. Sie unterhalten dazu Auslandsbüros und veröffentlichen zu aktuellen politischen Fragen. Während die Finanzierung von Parteien den engen Vorgaben des Parteiengesetzes unterliegt, wurde zu parteinahen Stiftungen nie ein spezifisches Gesetz beschlossen. Stattdessen weisen lediglich einzelne Haushaltstitel den sechs parteinahen Stiftungen jährlich über 500 Millionen Euro Steuergeld zu. Zum Vergleich: Nach den strengen Maßstäben des Parteiengesetzes für die staatliche Parteienfinanzierung werden für das Jahr 2021 weniger als die Hälfte dieses Betrages, nämlich 180 Millionen Euro, auf 20 Parteien verteilt.
Diese Praxis hat Jahrzehnte gut funktioniert und selbst das Bundesverfassungsgericht hat sie nicht beanstandet. Die Karlsruher Richter haben lediglich festgehalten, dass alle dauerhaften politischen Strömungen angemessen berücksichtigt werden müssen. [Die Stiftungen selbst haben 1998 in einer gemeinsamen Erklärung festgehalten, dass es dem Parlament obliegt zu entschieden, wann erstmals Zuschüsse an eine neue Stiftung verteilt werden. Als Anhaltspunkt nennen sie aber eine wiederholte Vertretung (d. h. zwei Mal hintereinander) im Bundestag und davon zumindest einmal in Fraktionsstärke. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung trat 2003 der Erklärung bei und wird mittlerweile ebenso aus dem Bundeshaushalt bedacht.]
Nicht nur die Höhe der Zuwendungen, sondern die AfD bringt eine verstärkte Dynamik in die Diskussion um ein formelles Gesetz und die Frage, wann ein Rechtsanspruch auf die Förderung solcher Institutionen besteht. Denn mit der Desiderius-Erasmus-Stiftung hat sich 2017 eine Stiftung gegründet, die von der AfD als parteinahe Stiftung anerkannt worden ist. Diese hat bisher noch keine Bundesmittel erhalten. Dagegen klagt die AfD derzeit vor dem Bundesverfassungsgericht, da sie als Partei ihr Recht auf Chancengleichheit aus Art. 21, 3 I des Grundgesetzes verletzt sieht.
Die Bundesregierung und der Bundestag vertreten dagegen die Auffassung, dass es im Grundgesetz gerade keinen unmittelbaren Anspruch auf eine Förderung gebe. Im Kontrast zur Gemeinsamen Erklärung der Stiftungen sind Bundestag und Bundesregierung der Auffassung, dass die AfD noch nicht lange genug im Bundestag vertreten sei. Am 25. Oktober wird das Bundesverfassungsgericht mündlich dazu verhandeln. Dann wird insbesondere auch die Verfassungstreue der Stiftungen zur Sprache kommen. Ob das Verfassungsgericht der AfD einen Anspruch zuerkennt oder ein formelles Gesetz fordert, lässt sich schwer voraussagen. Die Debatte ist jedenfalls neu entfacht.
Ein ähnliches Spannungsfeld zwischen ungeschriebener Übung und unklaren Ansprüchen besteht bei der Ausstattung ehemaliger Bundeskanzler und Bundespräsidenten. Ihnen wird ebenfalls nur durch einen Haushaltstitel lebenslang die Beschäftigung von bis zu sieben Mitarbeitern ermöglicht. Hier stellt sich ebenso die Frage, ob Art, Umfang und Dauer der Ausstattung nicht besser durch ein Gesetz zu regeln seien und welche Gründe – gerade im Hinblick auf die Causa Schröder – zur Aberkennung der kostspieligen Mitarbeiterausstattung führen könnten.
Nachts im Kanzleramt? Der Koalitionsausschuss
Wenn vor dem Kanzleramt auch spätabends noch Journalisten auf Statements warten, ringt meistens der Koalitionsausschuss um einen Durchbruch. Er gilt als das Machtzentrum der Bundesregierung und Austragungsort schwerster Kraftproben. Besondere Aufmerksamkeit hat der Koalitionsausschuss zuletzt am 23. März 2022 erfahren. Nach zähem Ringen um eine angemessene Reaktion auf Preissteigerungen und die Energiekrise hatte sich die Koalition auf die Einführung des Neun-Euro-Tickets, den Weiterbetrieb von Kohlekraftwerken und die Energiepreispauschale geeinigt.
Trotz seiner Bedeutung und Macht ist der Koalitionsausschuss weder im Grundgesetz noch andernorts vorgesehen. Das ist insofern keine Überraschung, als auch Koalitionsverträge nicht in den Gesetzen genannt werden. Letztlich dienen beide Instrumente der informellen, regierungsinternen Abstimmung: Nachdem sich die Koalitionspartner auf ihr politisches Programm im Koalitionsvertrag geeinigt haben, sollen im Koalitionsausschuss die kniffeligsten Streitigkeiten geklärt werden. Wenn sich Fragen zwischen den Ministern nicht lösen lassen, kommen sie hier auf den Tisch. Die Partei- und Fraktionschefs versuchen dann den schwelenden Streit zu schlichten und eine gesichtswahrende Lösung zu finden. Anschließend setzen die zuständigen Minister und Fraktionsvorsitzenden die Absprachen in den offiziellen und geschriebenen Gesetzgebungsverfahren um. Rechtlich bindend sind die Entscheidungen des Koalitionsausschusses nicht.
Daneben ist der Koalitionsausschuss Stabilitätsanker und Blitzableiter für die verschiedenen Strömungen und Ansichten in einer Regierungskoalition. Vielen Beobachtern des Berliner Politikbetriebs steht noch die Kontroverse zwischen Angela Merkel und Horst Seehofer um die Asylpolitik vor Augen, die fast zum Bruch der Unionsparteien geführt hätte. Nach zähem Ringen im Sommer 2018 wurde schließlich mit dem Koalitionspartner SPD eine Lösung im Koalitionsausschuss gefunden.
Das Informelle schafft Vertrauen
Keine Verfassung und kein Gesetz können alles im Detail regeln. Institutionalisierte Gepflogenheiten gehören daher zum politischen Alltag dazu und können gute Lösungen hervorbringen. Auch schafft das Informelle wechselseitiges Vertrauen der Akteure darin, dass die eigenen Ziele genauso durch Kompromiss erreicht werden können wie die der anderen Handelnden – und werden von denjenigen kritisiert, die das System als Ganzes infrage stellen wollen. Schnell werden dann Rufe nach einem das institutionalisierte Informelle legitimierenden Gesetz laut, entweder zum Schutz der bisherigen Regel oder zur Veränderung dieser. Ob dazu perspektivisch auch die Fragen der Ausschussvorsitze und Stiftungen dazugehören, wird sich vermutlich bald in diesem politisch sowieso aufgeladenen Herbst zeigen.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 140 – Thema: Anspruchsvoll. Das Heft können Sie hier bestellen.