"Die Volksparteien schmelzen weiter ab"

Politik

Karl-Rudolf Korte, Universität Duisburg-Essen

Foto: Julia Nimke

“Die Wahlen haben im Schatten von Angst und Helfestolz stattgefunden. Sie waren ein Plebiszit über die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung – die sich durch das Ergebnis bestätigt fühlt. Protestparteien sind in der Erfolgsfalle, wenn der Anlass des Protests verschwindet oder nachlässt. Wenn sie allerdings einen neuen gesellschaftlichen Konflikt abbilden, wie z.B. den zwischen Globalisierungsgewinnern und -verlierern, dann halten sie sich länger im Wettbewerb. Diesen Weg könnte die AfD möglicherweise gehen. Die FDP konsolidiert sich und setzt ihre Serie der Re-Parlamentarisierung fort. SPD und CDU müssen sich für neue Regierungsformate öffnen – Drei- oder Vier-Parteien-Koalitionen, Minderheitsregierungen etc. Multikoalitionsfähig sind sie bereits jetzt.”

Ulrich von Alemann, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

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“Die direkten Auswirkungen auf die Bundespolitik sind gering: Die Große Koalition bleibt im Amt mit Merkel an der Spitze. Aber indirekte Wirkungen werden wegen der Wahlerfolge der AfD in einer noch härteren Flüchtlingspolitik spürbar werden. Die Volksparteien schmelzen weiter ab, aber der harte Kern – Union um die 30, SPD um die 20 Prozent –  bleibt und keine Regierung ist ohne eine der beiden Parteien möglich. Die AfD wird kein Strohfeuer wie die Piraten, denn es steckt eine feste autoritäre und ausländerfeindliche Minderheit dahinter, die bisher keine Partei fand. Ob es ein Flächenbrand wird, ist noch nicht ausgemacht und wird auch von der klaren Haltung der übrigen Parteien abhängen. Ungebundene und Protestwähler werden weiter wachsen, da soziokulturelle Bindungen sinken. Damit steigen die Bedeutung von Persönlichkeiten und der Amtsträgerbonus. Die FDP hat für die Bundestagswahl Gelände gut gemacht, sie muss sich aber wie die anderen Parteien neuen (Dreier-)Bündnissen öffnen. Insgesamt gilt: Je politischer die Wahl, desto höher die Beteiligung. Das ist gut und auch, dass demokratische Regierungsmehrheiten in allen drei Ländern möglich bleiben.”

Kai Arzheimer, Johannes-Gutenberg-Universität Mainz

Foto: privat

“Die Wahlen waren kein Plebiszit über Merkel und ihre Amtsführung, aber sie erhöhen den innerparteilichen Druck sowie den Druck auf die Koalition, sich zusammenzuraufen. Die enormen Wählerbewegungen und die starken Kandidateneffekte (Kretschmann und Dreyer) zeigen, dass sich alle Parteien immer weniger auf eine feste Stammwählerschaft verlassen können. Ob die AfD eine zeitlich begrenzte Erscheinung wie die Piratenpartei bleiben wird, wird von drei Faktoren abhängen: der zukünftigen Bedeutung des Themas Flucht und Migration, der Performanz der neugewählten AfD-Fraktionen in den Landtagen sowie der Fähigkeit der Parteiführung, die verschiedenen Strömungen in der Partei zusammenzuhalten und bundesweit eine glaubwürdige Ausrichtung zu finden, die für ein größeres Wählersegment akzeptabel ist. Die FDP hat in zwei früheren Stammländern die parlamentarische Repräsentation zurückgewonnen und wird sich vielleicht sogar an einer Regierungskoalition beteiligen. Über die Fraktionen gewinnt die Partei Sichtbarkeit und finanzielle Mittel zurück und kann außerdem ihre Wähler und Mitglieder durch diese Erfolge motivieren. Dass die Partei 2017 bundesweit genug Stimmen erhält, ist trotzdem noch nicht ausgemacht. In zwei Ländern ist nach jetzigem Stand die Große Koalition nicht möglich, was für sich genommen schon eine Sensation ist, von ‘kleinen’ Zweierkoalitionen ganz zu schweigen. Die beiden ehemals großen Parteien müssen sich zumindest für die nächste Zeit auf komplizierte Dreierbündnisse einstellen.”

Brigitte Fehrle, Chefredakteurin der “Berliner Zeitung”

Foto: Christine Blohmann

“Die Ergebnisse für die AfD sind nicht wirklich überraschend. Die etablierte Politik hat in den vergangenen Monaten viel dafür getan, dass die AfD groß wurde. Wer mit so viel Verzagtheit, mit so viel demonstrativer Uneinigkeit und parteipolitischem Streit auf die Flüchtlingsfrage reagiert, muss sich nicht wundern, dass die Menschen das Vertrauen verlieren. Nach diesen Wahlen setzt also eine Gruppe von Wählern ihre Hoffnung in die AfD. Was ist daran schlimm? Immerhin haben diese Menschen demokratisch gewählt und damit zum Ausdruck gebracht, dass sie etwas verändern wollen im Land. Das mag der Mehrheit nicht gefallen, aber das ist kein Unglück. Wer wählt, befindet sich im demokratischen Spektrum und ist für öffentliche Debatten und hoffentlich auch für Argumente noch erreichbar. Jetzt müssen Frauke Petry und ihre Parteifreunde zeigen, wie sie – ebenfalls innerhalb der demokratischen Regeln – mit diesem Wählerwillen umgehen. Ein uneingeschränkt positives Ergebnis hat dieser Wahlabend: Die Wahlbeteiligung ist gestiegen. Wenn wir dafür die AfD gebraucht haben? Bitte – dann haben wir es nicht besser verdient.”