Die Spielchen der Mächtigen

In unserem politischen Alltag offenbart sich eine Reihe von Symptomen, die auf das hindeuten, was die Politikwissenschaftler als Postdemokratie bezeichnen – eine Demokratie, in der politische Eliten mithilfe einiger Medien und einflussreicher Unternehmen allein die Agenda bestimmen, und in der die eigentlichen demokratischen Institutionen massiv an Einfluss verlieren.
Wir erleben es im Parlament regelmäßig, dass das Abnicken ohne ausgiebige oder gar strittige Diskussionen für die Regierungsfraktionen immer mehr zur Routine wird. Die Ökonomisierung der Politik verfestigt sich zunehmend, und die Politiker, vor allem die Basisgruppen der Parteien, verlieren ihre politischen Gestaltungsspielräume.
Immer wieder hat die Bundesregierung die Mitwirkungsrechte des Bundestags, des eigentlichen Gesetzgebers, missachtet – eine Entwicklung, die sich seit vorigem Jahr eher verschlimmert als verbessert hat. Der Euro-Rettungsschirm, die Verhandlungen zur Etablierung eines permanenten Stabilitätsmechanismus für die Eurozone, die Vorgänge um die Laufzeitverlängerungen der Atomkraftwerke oder die Einsetzung einer Ethikkommission zum Atomausstieg sind nur einige von unzähligen Beispielen. Beim Rettungsschirm hat die Bundesregierung wochenlang taktische Spielchen gespielt, um dann unausgegorene Vorschläge ohne ausreichende Beratungszeit durch den Bundestag zu peitschen. Bei den Verhandlungen über den Stabilitätsmechanismus ist sie ihrer Informationspflicht gegenüber dem Parlament viel zu lange nicht nachgekommen und hat verhindert, dass der Bundestag ausreichend eingebunden wurde.
Die Debatten über die Atompolitik sind exemplarisch: Als die Regierung die Laufzeiten der deutschen Atomkraftwerke im Herbst 2010 verlängerte, wurde der Opposition nicht genügend Beratungszeit eingeräumt, die Aussprachen im Umweltausschuss waren eine Farce und der Dimension und Wichtigkeit des Themas nicht angemessen. Einer zeitlich viel zu knapp bemessenen Anhörung folgten zwei Sonderausschuss-Sitzungen, in denen die Regierungsfraktionen ihr Mehrheitsrecht überstrapazierten und nur eine Diskussionsrunde zu dem gesamten Themenkomplex zuließen. Dies hatte definitiv eine neue Qualität. Anstand bewies hier auf Regierungsseite lediglich Bundestagspräsident Norbert Lammert, der der Regierung vorwarf, die Atomgesetze zu schnell durch das Parlament gepeitscht zu haben. Er sprach von „Zumutung“ und „mangelnder Sorgfalt“. Mutig war dies vor allem deshalb, weil er als CDU-Mitglied selbst zu einer Regierungsfraktion gehört und wegen dieser Aussage sicher nicht viel Beifall von seinen Kollegen erhalten hat.

Gewissen aufgegeben?

Auch nach Fukushima, als die Regierung zwar verbal eine Kehrtwende bei ihren eigenen Positionen vornahm, gab es leider kein Umdenken bei der Gestaltung des demo­kratischen Willensbil­dungsprozesses. Wieder regierte ein en­ger Zeitplan,­ und wieder sollte das eigentliche Entscheidungsgremium, das Parla­ment, am Ende nur die Vor­schläge der Re­gie­rung abnicken. Erarbeitet wurde diese Entscheidung dagegen in der Atomkraft-Ethikkommission, in der kein einziger Parlamentarier vertreten war.
Ich habe nichts gegen die Beratung durch Wissenschaftler, Ökonomen und Unternehmensvertreter. Doch gibt es dafür Anhörungen, in denen wir, die Abgeordneten, die Fragen stellen und mit den Fachexperten diskutieren können, anstatt uns am Ende die Antworten vorgeben zu lassen. Ich kann nicht verstehen, wie die gewählten Volksvertreter der Regierungsparteien sich durch solche Gremien oder aufgrund angeblicher Zeitnot immer wieder freiwillig entmündigen lassen und am Ende die fremdbestimmten Vorgaben auch noch brav abnicken. Gerade bei der Atomdebatte wird doch offensichtlich, wie wenig die Abgeordneten ihrem Gewissen folgen. Entweder hatten Fraktionsmitglieder von Union und FDP bei der Laufzeitverlängerung ihr Gewissen vollständig aufgegeben oder sie taten es, als sie im Sommer die Kehrtwende beschlossen haben.
Wenn der Bundestag und die Abgeordneten wieder zur Entscheidungsmitte in diesem Land werden wollen, müssen sie sich selbst ernst nehmen und das Parlament gegenüber der Exekutive stärken. Dazu gehören mindestens eine bessere Ausstattung mit wissenschaftlicher Expertise und genügend Beratungszeit bei Gesetzesvorhaben. Dazu gehört auch, dass Experten zu Anhörungen eingeladen werden, die die Abgeordneten bei Entscheidungen beraten und nicht selbst die Vorlagen erarbeiten.
Doch nicht nur in den Fraktionen, sondern auch in den Parteien regieren weiterhin kleine intransparente Eliten, welche die Spitzenfunktionen und Ämter unter sich ausmachen. Es ist zur Routine geworden, dass zahlreiche Politiker auf diesem Weg Vorsitzende ihrer Parteien und Fraktionen werden. Einmal von der Spitze vorgeschlagen, könnten die Parteien dem Bewerber nur um den Preis massiver Schäden ihre Zustimmung verweigern.

Steinbrück hochgejubelt

Statt offener Kandidaturen und Diskussionen entscheidet die Hinterzimmerdiplomatie. In der SPD gab es zaghafte Bestrebungen, dies nach der harten Wahlniederlage zu ändern. Doch Neuerungen und Parteireformen blieben häufig in der Versuchsphase stecken. Neben den wenigen Politik-Akteuren spielen auch einige Medien mit im Machtkarussell. Da werden Politiker wie Peer Steinbrück zu Kanzlerkandidaten hochgejubelt, bevor die betroffene Partei darüber ernsthaft diskutiert. Häufen sich diese Lobhudeleien, oder wird ein Name für eine wichtige Funktion nur häufig genug ins Spiel gebracht, wird aus dem medial erkorenen Favoriten automatisch ein aussichtsreicher Kandidatenaspirant. Genauso werden mögliche Kandidaten runtergeschrieben, womit sie unter Druck geraten und eventuell sogar ihre Favoritenrolle verlieren. Die Meinungsforschungsinstitute tun ihr Übriges. Sie allein treffen die Auswahl, wer in Umfragen als möglicher Konkurrent beispielsweise gegen Angela Merkel gestellt wird. Die eigentlichen Entscheider, die Parteimitglieder, werden so von ihren Spitzen und der medial erzeugten Stimmung gleich doppelt entmündigt.
Sicher haben wir es noch selbst in der Hand, den Einflussverlust von Abgeordneten und Parteien insgesamt einzudämmen und eine generelle Gefährdung unserer parlamentarischen Demokratie abzuwenden. Einerseits schreitet zwar die „Postdemokratisierung“ voran, andererseits erleben wir zunehmend eine Gegenöffentlichkeit.
Die Bevölkerung spürt, dass etwas schief läuft. Viele ziehen sich politisch völlig zurück und bleiben selbst bei Wahlen zu Hause. Andere werden aktiv, beteiligen sich, organisieren Proteste, unterschreiben Petitionen oder wenden sich an die Mandatsträger. Auch in meinem Büro haben die Anfragen und Gesprächswünsche von Bürgern und von kleinen Initiativen in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen.

Zaghafte Bemühungen

Es gibt zudem immer mehr Medienvertreter, die die Situation im Parlament – sei es nun der Lobbyismus oder die Entmachtung der Fraktionen – kritisch hinterfragen und öffentlich machen. Vor allem der Lobbyismus ist im vergangenen Jahr immer häufiger unter die Lupe genommen worden. Aber die journalistische Kritik weist die Bürger immer mehr auch auf die Gesamtproblematik hin. Schlagzeilen wie: „Steht auf, wenn ihr freie Abgeordnete seid!“ oder „Die Bundesregierung treibt die Entmündigung des Parlaments voran“ häufen sich. Auch der Einfluss von Initiativen wie Lobby-Control, Transparency International und Campact nimmt zu. Dies beweist zum Beispiel die Diskussion über die Veröffentlichungspflicht der Nebeneinkünfte von Abgeordneten. Nach ersten Plänen sollte es eine „Bagatell-Grenze“ von 10.000 Euro pro Jahr geben. Die Organisationen haben zu Recht auf die Gefahr der Verschleierung von Einkommen bei einer solchen Regelung hingewiesen, einen beispiellosen Protest organisiert und so dafür gesorgt, dass die Regelung noch einmal überarbeitet wird.
Es weist nichts darauf hin, dass die zweite Hälfte der Legislaturperiode anders werden wird. Vor allem die europäischen Vorlagen werden die Entscheidungsfreiheit des Bundestags weiter massiv einengen. Aber es gibt immer mehr Abgeordnete, die zumindest einige Regeln für Lobbyisten und auch für sich selbst aufstellen wollen, und die beginnen, die Entwicklung als Problem zu erkennen. So gab es zum Thema Lobbyismus und Transparenz der Abgeordneten schon einige Vorlagen im Bundestag, die die Regierungsfraktionen allerdings alle ablehnten. Nun sind diese ersten Bemühungen noch zaghaft, und zu Recht werden Kritiker einwenden, dass sie nur erste Schritte sind und sich erst in Regierungsverantwortung beweisen wird, wie reformwillig die Oppositionsfraktionen wirklich sind. Aber ein Anfang ist gemacht.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Think-Tanks – Ihre Strategien, ihre Ziele. Das Heft können Sie hier bestellen.