Die Renaissance des politischen Salons

Politik

Vertrauen ist ein hohes politisches Gut. Vertrauen muss sich bilden und gelebt werden. Dafür braucht es Einheiten, Räume und Gelegenheiten. Eine der kleinsten Einheiten erlebt seit einiger Zeit eine Renaissance: der politische Salon. Zwei Megatrends befördern seine Entwicklung. Demografischer Wandel und Individualisierung lassen Wirtschaft und Gesellschaft nicht nur altern, sondern vor allem auch bunter und komplexer werden. Davon betroffen ist auch die politische Landschaft: Das Denken in Lagern ist passé, der Stammwähler zunehmend in der Minderheit, die Volatilität von Koalitionen und Personen nimmt zu. Noch vor Kurzem für utopisch gehaltene Bündnisse werden heute auf dem Markt der Politik gehandelt: “r2g” (Rot-Rot-Grün), “Jamaika” (Schwarz-Grün-Gelb) oder “Ampel” (Rot-Gelb- Grün).

Frontal ist out

Die Bundestagswahl 2013 markierte vor allem für FDP und Grüne eine historische Zäsur. Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik verpassten die Liberalen den Wiedereinzug ins Parlament. Aus Sicht der Grünen reichte es zum dritten Mal in Folge nicht für eine Koalition mit der SPD. Auch die anderen Parteien werden sich in Zukunft stärker gegenüber anderen Bündnissen und Milieus öffnen müssen. In der “Multioptionsgesellschaft” haben die Parteien und die Personen die Nase vorn, die anschlussfähig sind, ohne zu langweilen. Da der Trend zur Personalisierung weiter zunehmen wird, werden sich auch die Orte und Formate politischer Debatten und Vermittlung ändern müssen. Out sind Großveranstaltungen und Frontalbeschallung, in sind Wohnzimmer und Dialog auf Augenhöhe. SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück hat das Format der Wohnzimmer-Gespräche im Wahlkampf 2013 probiert. Eine Live-Berichterstattung war nicht gewollt, hätte aber wahrscheinlich Millionen Bürger interessiert.

“Zu viele Leute wissen zu viel übereinander”

Als Ursache für das neue Tempo und die Volatilität in der Politik wird gemeinhin eine radikal veränderte Medienlandschaft genannt. Die Pluralisierung der politisch-diskursiven Landschaft hat zu einer “neuen Unübersichtlichkeit” (Jürgen Habermas) geführt, von der besonders die Medien betroffen sind. Die vierte Gewalt steht jedoch im Unterschied zu den drei politischen Gewalten unter starkem Ökonomisierungsdruck. Die Folge: eine permanente Erregungs- und Aufmerksamkeitsspirale des Moralisierens und Skandalisierens.

Vorgetragen wird das Stück durch sich kopierende Talkshows, in denen Journalisten Journalisten interviewen. Die Politik passt sich der Logik der Mediendemokratie an. Öffentlich dominieren die “sprachliche Unauffälligkeit und das programmatisch Ungefähre als Schutzhülle, an der eine schweifende Erregungsbereitschaft und der lauernde Furor abgleiten”, schreibt der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen in seinem neuen Buch “Kommunikation als Lebenskunst”. Der Politiker wird hier zum “Medienchamäleon”, der bei Bedarf die Farbe wechselt.

In der Mediendemokratie wird der Klassiker “only bad news are good news” ersetzt durch “the medium is the message” (Marshall McLuhan). Es geht nicht mehr um die Botschaften, als deren Träger sich die Medien einst verstanden, sondern um die Medien selbst. Auf Inhalte und neue Ideen, gar auf geistige Orientierung kommt es den Medien immer weniger an. “Zu viele Leute wissen zu viel übereinander. Unsere neue Umgebung erzwingt Einsatz und Partizipation. Unumkehrbar sind wir in sie involviert worden und füreinander verantwortlich”, so der Medientheoretiker McLuhan. “Einsatz und Partizipation” finden jedoch kaum noch in den Parteien statt. Als große Organisationen des Diskurses und der Integration sind sie zu langsam, wenig repräsentativ und nur für die Bürger interessant, die über ein ausreichendes Maß an Zeit und Leidensfähigkeit verfügen.

Die Politik ist ausgewandert: von den Parteien hinein in Gesellschaft und Wirtschaft. Dort trifft sie auf eine andere Art von Öffentlichkeit: hart und engagiert in der Sache, fair und freundlich im Ton. Von diesem Trend können Stiftungen, NGOs, aber auch Unternehmen profitieren, wenn sie Geschäft und Geist trennen und ihre Gäste in den Mittelpunkt der Gespräche stellen. Es geht um Köpfe, Kontakte und Konzepte. Und es geht um die Voraussetzung von Vernetzung, den Aufbau von Vertrauen. Der politische Salon ist die alte und wiederentdeckte Form des politischen Diskurses. Er ist eine Talkshow ohne Show, geschützt und abhörsicher.

Der “Salon Brasil”: ordem e progresso

Im politischen Berlin sind in den vergangenen Jahren diverse Debattierkreise entstanden, beginnend mit dem Salon des Ehepaares Boy über die “Berliner Mittwochsgesellschaft des Handels” bis hin zum “Politischen Salon” der Agentur MSL. Eine der jüngsten Gründungen ist der “Salon Brasil”. Gestartet im Jahr der Fußballweltmeisterschaft in Brasilien diskutieren in vertraulicher Runde 20 bis 30 Teilnehmer – darunter Journalisten, Publizisten und politisch interessierte Unternehmer – mit einem prominenten Gast aus der Politik.

Das Motto des Salons ist der brasilianischen Flagge entlehnt – “ordem e progresso” – und beschreibt eine Kombination aus Ordnungspolitik und Fortschritt. Ort ist das Berliner Zimmer einer zum Büro umfunktionierten Altbauwohnung der Richard Schütze Consult. Der Charme des Ortes passt zum Charakter des Salons: Gäste und Teilnehmer sitzen in einem bibliophilen und künstlerisch gestalteten Ambiente einander direkt gegenüber. In der Runde gibt es keine Tische, gegessen und getrunken wird nach der Diskussion, die auch meist länger als geplant andauert. Statt eines Eröffnungsvortrags beginnt die Moderation mit einem kurzweiligen, lockeren Gespräch. Ziel ist es, den Gast politisch und privat kennen zu lernen. Themen sind seine Überzeugungen, seine Werte und Ziele.

Vertraulichkeit schafft Raum für Kreativität und Freiheit. In nicht-öffentlichen Runden kann zudem angstfrei gesprochen und von altem Denken Abstand genommen werden. Neben dieser vertraulichen Atmosphäre sind die Zusammensetzung der Gäs­­te, die informell gehaltene Moderation und die Inszenierung des Raumes entscheidende Erfolgsfaktoren des Formats.

Die “Ayinger Gespräche”: Europa in der Provinz

Die 2013 gegründeten “Ayinger Gespräche” sind ein Beispiel dafür, dass sich die Idee des politischen Salons nicht nur in der Hauptstadt einer neuen Beliebtheit erfreut. Der Gesprächskreis, an dem Unternehmer, Vertreter aus Politik, Gewerkschaften und Verbänden teilnehmen, versteht sich dabei als ein “Trainingslager für jene, die bereit sind, die Grenzen der eigenen Disziplin, der jeweiligen Parteien und Interessen zu überschreiten, um in der Konfrontation mit der Vielfalt von Erfahrungen und Perspektiven anderer zu lernen”.

Die Gespräche befassen sich mit zukunftsorientierten, gesellschaftspolitischen Fragen in Europa: demografischer Wandel, Veränderungen in der Arbeitswelt, Bewahrung der Gesundheit, Sicherung der Arbeitsproduktivität. Das Format verbindet politischen Salon und Thinktank. Diskutiert wird vertraulich, die Ergebnisse und Themen werden aber in Newslettern und Artikeln veröffentlicht. Diese sollen Politik und Öffentlichkeit im besten Sinne aufklären und beraten.

Beide Räume, politischer Salon und Thinktank, verbinden das Interesse der Veranstalter an Selbstwahrnehmung mit dem Interesse von Politikern und Teilnehmern an Fremdwahrnehmung. Sie sind ein politisches “Geschäft auf Gegenseitigkeit” – Vertrauen ist dabei die gemeinsame Währung.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Denken. Das Heft können Sie hier bestellen.