"Die großen Schlachten im Parlament sind geschlagen"

Politik

Herr Riesenhuber, wenn Sie an die letzten 40 Jahre zurückdenken, was hat sich am Charakter und am Ton des Parlaments geändert?

Die Art der Kommunikation ist natürlich anders, schneller, direkter, damals gab es ja noch kein Internet. Die politischen Abläufe haben sich aber kaum geändert. Es geht nach wie vor darum, gute Ideen zu haben, die das Land voranbringen, und darum, die Mehrheiten dafür zu erkämpfen. Allerdings muss ich sagen: die großen Schlachten sind eigentlich geschlagen. Die Auseinandersetzungen sind nicht mehr so grundsätzlich und ideologisch geprägt wie früher, als es um „Freiheit oder Sozialismus“ ging, als die Auftritte von Wehner und Strauß für hitzige Debatten sorgten. Die Arbeit im Parlament und die Debatten waren in der vergangenen Legislatur zwar durchaus noch kontrovers, aber fachlicher, sachbezogener. Ich hoffe sehr, dass das auch im neuen Bundestag so bleibt, denn in vielen Fragen sind wir auf Konsens und Kompromisse angewiesen, von der Energiewende bis zur Zukunft Europas.

Welches sind Ihrer Ansicht nach die drei Top-Eigenschaften, die ein Politiker haben sollte?

Menschlicher Anstand, ein Thema, das ihm wirklich wichtig ist und eine Grundüberzeugung von dem, was das Wesen unserer Demokratie und unserer Gesellschaft ausmacht.

Als Sie in den Bundestag gewählt wurden, hatten wir eine Wahlbeteiligung von 90 Prozent, 2013 waren es 71,5 Prozent. Was muss die Kaste Politiker aus Ihrer Sicht unternehmen, damit die Beteiligung wieder ansteigt?

Sicher kann man die Wahlbeteiligung zu einem Teil auch durch die Art beeinflussen, wie Abgeordnete im Wahlkreis arbeiten. Das ist nämlich sehr unterschiedlich, auch wenn die meisten Kolleginnen und Kollegen in allen Fraktionen wirklich fleißige Leute sind und auf die Menschen zugehen. Es gibt Kollegen, bei denen auch die Presse sehr wahlkreisnah ist, insbesondere in den ländlicheren Regionen. Die Ballungsgebiete sind da eher spröder. Eines meiner beständigen Instrumente war über die Jahrzehnte, dass ich auf die Straßen- und Sommerfeste gehe und auf die Faschingsveranstaltungen, auf die Neujahrsempfänge der Vereine, und zu anderen Veranstaltungen, wo sich viele Menschen zusammenfinden, und sie einfach anzusprechen. Daraus resultieren dann oft ein Dialog und eine selbstverständliche Vertrautheit mit den Leuten. Und das kann hilfreich für die Wahlbeteiligung sein. Die Wahlbeteiligung würde sicher wieder steigen, wenn es wirklich um Kontroversen in der Sache ginge und nicht nur um relativ kleinteilige Akzente. 

Andererseits hat die Bereitschaft gerade junger Leute, sich in der Politik zu engagieren, abgenommen. Wir haben eine tüchtige Junge Union und ich freue mich immer wieder, dass wir dort wirklich gute Leute haben. Aber entscheidend wird schon sein, dass wir nicht auf ein System wie in den USA kommen, wo die Basisorganisationen der Parteien im Grunde nicht existieren, sondern zentral organisierte Funktionärsgruppen das Ganze am Leben halten. Hier haben wir schon ein Problem, bei dem wir noch keine saubere Lösung haben.

Woran liegt das denn?

Eine Schwierigkeit besteht sicher darin, dass die alten Milieus, aus denen sich der Nachwuchs der Parteien rekrutiert, definitiv weggebrochen sind – das ist die katholische Jugend bei der Union, zum Teil auch die Gewerkschaftsjugend bei der SPD. Gleichzeitig hat die Qualitätspresse nicht nur an Auflage, sondern auch an Prägekraft verloren, sodass die Informationen der jungen Leute sehr häufig und immer mehr aus dem Internet kommen. Das sind vielfach häppchenweise Einzelinformationen, eine durchgehende Diskussion über Orientierungswissen findet kaum noch statt. Dadurch werden die Entscheidungen vor den Wahlen immer kurzfristiger getroffen, und die Prognosen der Umfrageinstitute werden immer unsicherer. Wir befinden uns hier derzeit alles in allem in einem schwierigen Kulturwandel, von dem wir noch nicht wissen, wie er letztlich ausgeht.

Dann ist die Große Koalition wohl genau das Gegenteil von dem, was die Menschen motivieren kann. Sie wird oft als Einheitsbrei wahrgenommen.

Ja, die Große Koalition ist eine Notlösung und ein Problem. Wir hatten ja 2013 Koalitionsgespräche mit den Grünen geführt und in der Sache durchaus den Eindruck, dass wir das zusammen durchziehen könnten. Aber die Grünen waren der Auffassung, dass sie es ihrer Basis nicht zumuten können. Somit blieb keine Alternative zur Großen Koalition. Die Schwierigkeit ist hier natürlich die schwache Opposition. Wenn wie damals gerade einmal 20 Prozent – und dazu noch zwei völlig unterschiedliche Parteien – im Parlament Opposition machen, dann wird das ganze weniger prägnant. So kann es vom demokratietheoretischen oder auch vom sportlichen Standpunkt her manchmal sogar reizvoller sein, wenn man mit knapperen Mehrheiten arbeitet. In den neunziger Jahren gab es zum Beispiel Zeiten, in denen wir nur eine Handvoll Stimmen über der Mehrheit hatten, und wir haben dennoch keine Abstimmung verloren.

Aljoscha Kertesz und Heinz Riesenhuber (c) privat

Sie waren in den beiden vergangenen Legislaturen Alterspräsident. Die Aufgabe scheint Ihnen Spaß gemacht zu haben.

Ja, das hat mir Spaß gemacht, auch wenn es keine Aufgabe ist, die mit hohen Verantwortlichkeiten ausgestattet ist. Ich habe sie als Möglichkeit für den Austausch mit interessanten Menschen genutzt, und zwar über Parteigrenzen hinweg. So habe ich immer besonders gern mit vielversprechenden Abgeordneten gesprochen, die neu in den Bundestag gekommen sind, habe mit ihnen Kaffee getrunken oder zu Abend gegessen, quer durch die Fraktionen. Zudem war ich Präsident der Deutschen Parlamentarischen Gesellschaft, in der ebenfalls alle Fraktionen vertreten sind, auch im Vorstand. Im Parlament haben wir unseren Streit ausgetragen, aber in der Parlamentarischen Gesellschaft sind wir alle Kollegen, die sich gegenseitig respektieren, egal welcher Fraktion man angehört und welchen vielleicht auch extremen politischen Standpunkt man hat. Diese Gesprächskultur zu erhalten und die Gemeinschaft zusammenzuhalten, das ist eine wirklich interessante Aufgabe gewesen, Und das hat die zehn Jahre meiner Amtszeit zu einer guten Zeit gemacht. 

Glauben Sie, dass Ihr persönliches Engagement dort auch zu einem insgesamt entspannteren Umgang von CDU und Linken geführt hat?

Es kann sein, dass das dazu beigetragen hat, und das ist auch gut so. Im Wahlkampf kann und muss man sich handfest bekämpfen und für seine politischen Ziele werben. Aber es ist wichtig, dass man trotz aller Unterschiede respektvoll miteinander umgeht und so auch Kompromisse in der Sache möglich macht. Beides macht eine gute Politik aus: die Festigkeit des Standpunktes und die Sauberkeit des Kompromisses. Das macht jetzt beispielsweise Volker Bouffier in Hessen sehr gut.

Es ist in der Tat erstaunlich, wie geräuschlos CDU und Grüne ausgerechnet in Hessen regieren.

Nachdem der Koalitionsvertrag in Hessen beschlossen war, fragte mich ein kluger Journalist ob ich es mir jemals hätte vorstellen können, dass ausgerechnet der konservative Kampfverband der hessischen CDU als erster in einem Flächenland eine Koalition mit den Grünen macht. Ich hab ihm geantwortet, dass nur ein konservativer Kampfverband wie die CDU Hessen eine tragfähige Koalition mit den Grünen schmieden kann, denn hier kann niemand anzweifeln, dass wir einen sauberen und klar umrissenen, wertefundierten Standpunkt haben. Aber man muss auch den Standpunkt des anderen respektieren und dann schauen, wie weit wir gemeinsam das Land voranbringen können. Und das macht Volker Bouffier ganz ausgezeichnet.

Dies ist ein Auszug aus dem Interview-Buch „Bundestag adieu!“, für das Aljoscha Kertesz mit zahlreichen 2017 aus dem Parlament ausgeschiedenen Politikern gesprochen hat. Es ist im Engelsdorfer Verlag erschienen.

Hier geht es zu den Interviews mit Edelgard BulmahnFranz Josef JungBrigitte ZypriesWolfgang BosbachKristina SchröderGerda Hasselfeldt und Jan van Aken.