Die Erosion der Mitte

Politik

Welche Stoßwellen eines “Weltbebens” spüren Sie in der Berliner Politik, Herr Steingart?

Gabor Steingart: Die Volksparteien schrumpfen und erreichen ganz erkennbar große Teile der Bevölkerung nicht mehr. Die Wahlergebnisse fallen deutlich anders aus als noch vor 20 Jahren. Bei der letzten Bundestagswahl gab es mehr Nichtwähler als CDU-Wähler. Mittlerweile sind aus den Nichtwählern Protestwähler geworden; links wie rechts, Linkspartei und AfD. Schauen Sie einmal in die Stadtteile, in denen es wirklich brennt, beispielsweise in Marzahn oder Hellersdorf. Da lag die CDU bei der Abgeordnetenhauswahl nur noch bei neun Prozent, während AfD und Linkspartei die Mehrheit stellen. Die etablierten Parteien sind quasi Splitterparteien, während die vermeintlichen Populisten Mainstream sind. Das ist für mich eine Vorschau auf das Kommende, wenn die Politik nicht reagiert. Insofern: Das Weltbeben hat begonnen. Es kommt sozusagen aus der Peripherie. Aus Berlin-Marzahn, aus Duisburg, aus Mönchengladbach und all den Orten des politischen Versagens.

Sie beklagen, dass die tragende Mitte unserer Gesellschaft aktuell erodiert. Wer macht sich denn in Berlin für diese Mitte stark?

Für die bürgerliche Mitte spricht die CDU und für die Facharbeiter sowohl die SPD als auch die FDP, das waren die klassischen Klientelen dieser Parteien. Aber Sie müssen sich mal über die Zahlen beugen, was derzeit mit der Mitte passiert. Das hat mit der enormen Verschiebung der Produktionsfaktoren Kapital und Arbeit zu tun. Wir haben den Kapitaleinsatz in Deutschland seit einigen Jahren verdoppelt. Das ist gut, Stichwort Digitalisierung, Investitionen. Auf der anderen Seite fällt die Lohnquote, also der Anteil, den Arbeiter und Angestellte bekommen. Wenn man sich anschaut, wo diese besonders fällt, dann ist dies da, wo Arbeit auf Maschinen übertragen wird. Das wird weiter zunehmen, nicht nur bei körperlicher, sondern jetzt auch bei geistiger Arbeit. Dagegen werden wir uns nicht ganz sperren können. Jeder zweite Job ist nach neuesten Studien von der Digitalisierung betroffen. Prozesse dieser Wucht müssen moderiert werden, sonst führen sie zu Eruptionen.

Wem trauen Sie denn am ehesten zu, die aktuellen Schwierigkeiten in den Griff zu bekommen?

Ich glaube schon, dass Frau Merkel, Herr Gabriel, Herr Steinmeier und Herr Gauck verstehen, was die Stunde geschlagen hat. Wir haben kein Erkenntnisproblem, wir haben vielmehr ein Umsetzungsproblem. Die Poltiker wissen auch, dass Schulden diese Krise erst ausgelöst haben. Die Verschuldung in Europa geht trotzdem durch die Decke. Wir werden erstmals die Zehn-Billionen-Grenze erreichen. Italien hat eine Verschuldung von über 130 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, obwohl eine Obergrenze von 60 Prozent verabredet war. Die Politiker wissen, was zu tun ist, sonst hätten sie ja die Maastricht-Kriterien nicht beschlossen. Sie wissen auch was zu tun ist beim Klimaschutz, beim Artenschutz, aber sie tun es nicht. Wir haben ein echtes Umsetzungsproblem, oder modern ausgedrückt: Es mangelt an Leadership. Die Verantwortlichen müssten sich in einer dunklen, klaren Nacht mal hinsetzen und sagen, wohin uns das “Weiter so” gebracht hat.

Halten Sie Frau Merkel denn noch für die richtige Spitzenkandidatin der Union bei der Bundestagswahl?

Das muss die Union entscheiden.

Das klingt verhalten. Im Sommer hatte man den Eindruck, als würden Sie in mehreren Artikeln und Fernsehauftritten der Kanzlerin nahelegen, den Hut zu nehmen.

Ich würde an Stelle der CDU dauernd über Alternativen nachdenken. In der Demokratie ist es nicht gesund, sich von einer Person abhängig zu machen. In den USA ist das, was wir hier machen, beispielsweise schlicht verboten. Und zwar nachdem Roosevelt vier Amtszeiten regiert hatte. Danach hatte man sich dazu entschieden, dass dies nichts mehr mit Demokratie zu tun hat, weil es dadurch zu viel zu engen Verflechtungen kommt. Das führt doch dazu, dass man seine Leute überall im öffentlich-rechtlichen System unterbringt: von den Bundesministerien bis zu den unteren Behörden, dem Intendant des Bayerischen Rundfunks, sind auf einmal alle Gefolgsleute von Frau Merkel. Das ist nicht gesund, deshalb hat man es in Amerika damals abgeschafft. Insofern finde ich, dass jede Partei dauernd über eine Alternative nachdenken sollte.

In Berlin fand kürzlich der Trilog für eine progressive Politik statt. Unter diesem Titel trafen sich rund 100 Abgeordnete von SPD, Grünen und Linke um über R2G nachzudenken. Ein Vorgriff auf das nächste Jahr?

Ich beteilige mich nicht an diesen Spielchen, wer da mit wem koalieren könnte. Es braucht mehr als einen Wechsel der Posteninhaber, eher also einen Politikwechsel. Es braucht ein klares Signal, dass man in vielerlei Hinsicht endlich verstanden hat. Es geht nicht nur um Flüchtlingspolitik. Es geht um die Schuldenpolitik, Geldpolitik, Enteignung der Sparer. Es geht um das Nicht-Kümmern um den Mittelstand, die Erosion des unteren Drittels im Arbeitsmarkt, also die großen Probleme unserer Gesellschaft. Wenn diese nicht adressiert werden, ist ganz egal, welche Koalition sich da zusammenbastelt. Ein Politikwechsel ist wichtiger als ein Farbenwechsel.

Können Sie es verstehen, wenn Bürger angesichts derartiger Entwicklungen ihr Kreuz bei der AfD machen?

Ich glaube nicht, dass das die AfD Alternative ist. Sie ist aber ein Weckruf. So wie das Nichtwählen. Nichtwählen ist nicht cool, da ist man nicht stolz drauf, aber es ist ein Weckruf an die Politik. Die AfD ist wie eine Werkssirene. Sie klingelt schrill. Sie können die Werkssirene beschimpfen, aber im Falle einer Havarie – wie etwa zuletzt bei BASF – klingelt sie. Die Werkssirene produziert nichts, aber sie gibt uns einen deutlichen Hinweis darauf, dass hier gerade etwas nicht funktioniert. Und das macht die AfD, wie auch Donald Trump, Bernie Sanders, Boris Johnson, Sahra Wagenknecht oder Marine Le Pen.

Sehen wir angesichts der Erfolge populistischer Parteien und Politiker das postfaktische Zeitalter in der Politik, wie manche Ihrer Kollegen es gerne bezeichnen?

Nein, das glaube ich nicht, gelogen wurde immer. Die Lüge in der Politik und das Kuratieren von Wahrheit – also das Formen von Wahrheit – hat zugenommen. Aber auf allen Seiten, nicht nur bei den Populisten. Übrigens hatte schon Dahrendorf davor gewarnt, dass Populismus ein Kampfbegriff ist.

Auf welchen aktuellen Fall übertragen Sie das?

Nun, für Angela Merkel scheint ein Populist, der etwas sagt, was sie nicht gut findet. Das fängt bei Herrn Söder an und endet bei Frau Nahles. Wann immer andere Vorschläge machen, ist es populistisch.

2005 haben Sie sich als überzeugter Nichtwähler positioniert. Wie wird es 2017 aussehen?

Als ich das Buch damals schrieb, ging es mir gar nicht darum, was ich wähle. Mir ging es vielmehr darum zu erklären, dass der Nichtwähler ein politischer Typ ist, so wie ich. Einer der sagt: Ich interessiere mich für Politik, aber das politische Angebot ist nicht adäquat in Bezug auf die Probleme.

Wer ist denn eigentlich für die demokratische Entmündigung der Bürger verantwortlich, die Sie in Ihrem Buch beschreiben?

Fangen wir mal in Brüssel an. Europa ist nicht sehr demokratisch verfasst. Man hat die europäische Idee, die Idee von Vereinheitlichung, Vergemeinschaftung und Frieden, für größer erachtet, als die Idee von Transparenz und Demokratie. Das halte ich für einen Fehler. Die Politik versteht nicht, was die Menschen wirklich wollen.

Was wollen die Menschen denn?

Sie würden gerne die Regierung wählen. Ich kann Herrn Junker nicht wählen, ich kann ihn nicht einmal abwählen. Ich habe als Bürger überhaupt keine Mitsprachemöglichkeit bei der Zusammensetzung der Kommission. Die Kommissare müssen keinen Wahlkampf führen, sie sind nicht sichtbar. Wo waren die eigentlich bei der wichtigen Abstimmung über den Brexit? Ich war vor Ort, von denen war keiner anwesend. Warum nicht?

Aljoscha Kertesz und Gabor Steingart (v. l.) (c) Privat

Wenn die Menschen, wie Sie schreiben, nicht europamüde sind, sind sie vielleicht politik- oder gar demokratiemüde?

Auf keinen Fall. Ich glaube, dass die Menschen politik- und demokratieversessen sind. Sie wollen aber an den Prozessen partizipieren. Das fängt in der Familie an. Das Wort “Familienoberhaupt” hat seine Bedeutung verloren. Es wird partnerschaftlich – auch zusammen mit den Kindern – entschieden, wo es im Urlaub hingeht. Es läuft einfach nicht mehr so, dass der Vater auf den Tisch haut und bestimmt, wo es lang geht. Auch in der Firma geht es ums Team und Diversity. Dass der Chef einmal über den Hof brüllt wie die Firmenpolitik zu laufen hat, gibt es nicht mehr. Nur in der Politik sind wir noch bei sehr autoritären Verfahren. Alle vier Jahre darf ich eine generelle Aussage treffen, die dann durch Koalitionsbildung sofort wieder aufgehoben wird. Ich glaube, die Menschen möchten mehr Demokratie, nicht weniger.

Wie könnte dies denn erreicht werden?

Demokratie und Bürgerbeteiligung sind keine Nischenthemen. So wie das Thema Ökologie kein Nischenthema war und das Thema soziale Gerechtigkeit kein Hobby der SPD ist, so sind Bürgerbeteiligung, Transparenz und Demokratie die großen Überthemen. Partizipationsprozesse sollten generell überdacht werden, von Bahnhofsneubauten bis zu Flughäfen, Strommasten, oder auch bei der Reform des Abiturs. Es geht nicht immer nur um Flüchtlinge. Es geht um die Alltagsfragen, bei denen die Menschen beteiligt werden wollen – und sollten.

Was stimmt Sie mit Blick auf den Berliner Politikbetrieb denn zuversichtlich?

Dass wir in einer Demokratie leben. Wir sind zusammen mit Amerika der Teil der Welt, in dem Pressefreiheit und Meinungsfreiheit funktionieren. In diesem Land kann man sagen, was man will. Die schweigende Mehrheit hat heute über Facebook, Twitter und die sozialen Medien eine Stimme. Auch wir Medien sind Gott sei Dank gezwungen, unsere Leser ernst zu nehmen. Und so sind auch die Politiker gezwungen, die Wähler ernst zu nehmen. Das stimmt mich zuversichtlich. Die Menschen sind aufmüpfig geworden, das wird nicht mehr weggehen.

Das klingt nach einer Revolution.

Alle großen Technologieschübe haben systemverändernd auf den Überbau gewirkt: die industrielle Revolution, das Ende der Agrarzeit, selbst die Einführung des Börsenkapitalismus. In der Weimarer Republik hat der Schwarze Freitag zu einem Systemwechsel geführt. Nicht zu dem, den wir wollten, aber er hat es getan. Das heißt, dass solche ökonomischen Vorgänge oft mit politischen Eruptionen verbunden sind. Ich hoffe, dass dies vermieden werden kann. Natürlich sehen wir mit Le Pen und Trump den Keim solcher eruptiven Entwicklungen.

Welche Rolle haben die Medien dabei?

Ich finde, ein Journalist, der sich beim Schreiben schon fragt, was Merkel oder Gabriel darüber denken, der macht etwas falsch. Der sollte sofort in den Urlaub gehen und über sein Berufsbild nachdenken. Wir denken nicht darüber nach, was die Mächtigen dazu sagen. “To speak truth to power”, so nennen es die Amerikaner, also die Wahrheit gegenüber der Macht auszusprechen.

Sie prangern eine zu große Nähe zwischen Medien und der Politik an?

Da hat sich über die Jahrzehnte ein symbiotisches Verhältnis entwickelt, so wie es zwischen Finanzsektor und Politik besteht. Symbiotisch, weil man ohne Verschuldung die Wahlversprechen nicht hätte finanzieren können. Und zwischen Medien und Politik hat sich das auch so ähnlich entwickelt. Nicht unisono, nicht überall, aber insbesondere in allen westlichen Hauptstädten ist das anzutreffen. Deshalb war Rudolf Augstein beispielsweise immer dagegen, dass der “Spiegel” nach Berlin umzieht. Er wollte auch oft gar keine Politiker treffen. Dann beginnen Duzfreundschaften, Saufabende, Liebeleien – auch das trübt die Unabhängigkeit und das Urteilsvermögen. Von daher sind Abstand und räumliche Distanz wichtige Punkte.

Gabor Steingart ist Vorsitzender der Geschäftsführung der Verlagsgruppe Handelsblatt und Herausgeber der Wirtschaftszeitung. Das aktuelle Buch des ehemaligen Chef der Spiegel-Büros in Berlin und Washington, “Weltbeben. Leben im Zeitalter der Überforderung”, ist am 17. Oktober im Verlag Knaus erschienen.