Wer die zähflüssigen Sondierungsgespräche der vergangenen Monate, erst zwischen CDU, CSU, FDP und Grünen, dann die der Groko verfolgte, war nicht begeistert. Dieser Missstand geht im Falle von „Jamaika“ auch darauf zurück, dass die Parteien vor der Wahl keine Koalitionsoptionen verlauten ließen und miteinander „fremdelten“.
Es stehen sich – vereinfacht ausgedrückt – zwei gegensätzliche Lesarten gegenüber: Die eine Seite plädiert dafür, Parteien sollten keine Koalitionsaussagen treffen, um nach der Wahl für verschiedene Optionen flexibel zu sein. Die Gefahr: Die Stimme des Wählers wird entwertet. Die andere Seite hält daran fest, eine Koalitionspräferenz sei notwendig, damit der Wähler vor der Wahl wisse, was mit seiner Stimme geschehe. Die Gefahr: Es kann zu einer „Blockade“ kommen, das politisch Gewünschte scheitert an der Arithmetik. Der oft letzte Ausweg: ein Bündnis der beiden Großen.
Unter demokratietheoretischen Gesichtspunkten ist es in der Tat betrüblich, dass der Bürger „nur“ für eine Partei votiert. Schließlich will er nicht die Katze im Sack kaufen. Der Einwand, nach der Wahl könnten die Parteien doch ihre Mitglieder nach deren Einverständnis mit einem solchen Bündnis fragen, verfängt nicht. Zum einen dürfen lediglich Mitglieder abstimmen, zum andern wollen diese ihre Führung nicht mit einem Nein brüskieren. Insofern handelt es sich bei einem derartigen Verfahren um eine Scheinpartizipation.
Schattenseiten der Konsenskultur
In der Vergangenheit, als zwei klare politische Lager bestanden, hatten die Parteien vor der Wahl mehr oder weniger deutlich gemacht, welche Koalition sie anstrebten. Das Wort vom „Zünglein an der Waage“, gemünzt auf die FDP, trifft daher so nicht zu. Durch die abnehmende Integrationskraft der Parteien, die zu einer Auffächerung des Parteiensystems führt, reicht es heute nicht mehr für eine aus einem großen und einem kleinen Partner bestehende Koalition. Das erklärt maßgeblich das Ausweichen mit Blick auf die künftige Koalitionskonstellation.
Es gibt verschiedene Möglichkeiten der Abhilfe, seien es informelle, seien es formelle. Etwa: Der kleinere Partner des schwächeren politischen Lagers erschwert dem anderen Lager nicht das Leben, sorgt also indirekt dafür, dass dieses „durchregieren“ kann. Auch an eine Mehrheitsprämie für das größere Lager wäre zu denken, d. h., die stärkste Partei oder das stärkste Lager erhält eine Prämie, die ihr automatisch eine knappe absolute Mehrheit der Mandate sichert. So ließen sich lagerübergreifende Bündnisse in beiden Fällen vermeiden. Allerdings: Akzeptieren die Wähler das?
Wie auch immer: Die grassierende Konsenskultur weist viele Schattenseiten auf. Damit erklärt sich u. a. die Stärke von Flügelparteien wie der AfD oder der Linken. Wüsste der Wähler vorher, welchem Lager die eigene Stimme zugutekommt, wäre seiner Entmündigung ein Riegel vorgeschoben.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 121 – Thema: Rising Stars. Das Heft können Sie hier bestellen.