„Der Ministerpräsident war mutig, mich zur Ministerin zu machen“

Interview mit Kristina Sinemus

Frau Sinemus, warum verschläft ­Deutschland die Digitalisierung?

Wir sollten das Thema Digitalisierung differenzierter betrachten, als immer nur einseitig zu lamentieren, wir hinken irgendwo hinterher. Wir haben in Hessen mit einem breiten Beteiligungsprozess von Bürgerinnen und Bürgern sowie mit allen Ressorts eine umfassende Digitalstrategie auf den Weg gebracht. Grundsätzlich unterscheiden wir zwischen Grundlagen und Handlungsfeldern. Als Basis investieren wir so viel Geld wie noch nie in die digitale Infrastruktur, also zum Beispiel in den Glasfaserausbau, WLAN, 5G und Mobilfunk. Mit der zweiten Basis sind Spielregeln gemeint, also Regulierung oder Cybersicherheit, die für ein sicheres und faires Miteinander stehen.

Und Handlungsfelder?

Hier gibt es insgesamt sechs zentrale Bereiche, die alle den Menschen in den Mittelpunkt unseres Handelns stellen. Beispielsweise digitale Innovation und Forschung, Wirtschaft und Arbeit oder Smart Region. Das Thema ländliche Räume ist uns besonders wichtig, damit ist auch das Thema digitales Rathaus gemeint, also um Behördengänge bequem vom heimischen Sofa aus erledigen zu können. Wir in Hessen sind vor allem im Anwendungsfeld Künstliche Intelligenz mit ‚KI made in Hessen‘ gut, weil wir hier über eine starke ITK-Branche, wissenschaftliche Exzellenz und Datenrechenzentren verfügen und wir werden die Rhein-Main-Region als hessisches ‚Silicon Valley‘ weiter ausbauen. Im Bereich digitaler Bildung sehen wir aktuell allerdings noch Nachholbedarf.

Welchen?

Man glaubt immer, dass Digitales und Bildung lediglich bedeutet, die Schule muss an das Glasfasernetz angebunden sein. Das heißt es aber nicht nur. Vielmehr müssen auch neue Berufsfelder entdeckt und entwickelt werden. Bei der IHK gibt es mittlerweile über 200 neue Berufszweige. Wenn ein Dachdeckermeister jetzt ein Dach deckt, fliegt er mit einer Drohne über das Dach, um ein entsprechendes Angebot abzugeben. Die muss er bedienen können, ebenso wie die Gerüstbauerin, die mit einer App schon vorher simuliert, ob das Gerüst passt, bevor sie es transportieren muss.

Sie können mir also nicht sagen, wie Deutschland die Digitalisierung bewältigt?

Doch, nur gemeinsam und in Kooperation. Generell muss man jedoch differenzieren. Wo sind wir besonders gut, wo müssen wir einen Gang zulegen? In der Anwendung vom Digitalen in der Wirtschaft, insbesondere im Mittelstand, sind wir zum Teil wirklich schon Weltspitze. Ohne Digitalisierung hätten wir nicht unsere Impfstoffe. Die Schwächen habe ich eben skizziert. Wir müssen vielmehr darüber diskutieren, wie wir unsere Stärken ausspielen können, als immer nur zu jammern, dass wir hinterherhinken.

Kristina Sinemus ist seit Januar 2019 Hessische Ministerin für Digitale Strategie und Entwicklung Die gebürtige Darmstädterin gründete 1998 das Unternehmen Genius als geschäftsführende Gesellschafterin Seit 2011 ist die 58 Jährige Professorin für den Fachbereich Public Affairs an der Quadriga Hochschule Berlin Von 2014 bis 2019 war sie Präsidentin der IHK Darmstadt Rhein Main Neckar von 2017 bis 2019 Vizepräsidentin des HIHK Seit 2018 ist Kristina Sinemus Landesvorsitzende des Wirtschaftsrates Hessen

 

Sie haben das Digitalressort in Hessen aufgebaut. Wie passt das in die Ministerienlandschaft?

Unser Selbstverständnis ist, dass wir ein wirklicher Querschnittsbereich sind, budgetär sowie inhaltlich, und operativ allein zuständig sind für den Ausbau der digitalen Infrastruktur. Das haben sie in anderen Ländern selten. In Bayern etwa müsste ich zunächst mit drei Ministerien diskutieren, die für Mobilfunk, Breitband und Regulierung zuständig sind. So sind in Hessen innerhalb von zweieinhalb Jahren über 5.000 Mobilfunkmasten entweder neu gebaut oder modernisiert worden. Da ist es hilfreich, es an einer Stelle zu bündeln, und unser Mobilfunkpakt mit seinen Rahmenbedingungen hat in Hessen auch dazu geführt, dass wir schneller als andere vorankommen. Dafür haben wir Geld und Zuständigkeit.

Wie viel Geld?

Wir verfügen über 1,2 Milliarden Euro, die ich in enger Abstimmung an meine Ressortkolleginnen und Kollegen geben kann. Das hat kein anderes Bundesland. Unsere Bündelungs- und Koordinierungsfunktion war von vornherein klug durchdacht. Eine Besonderheit ist das erweiterte Kontrollrecht für das Digitalisierungsbudget des Landes, da die Mittelverwendung durch die Fachressorts unserer Zustimmung bedarf. So wurde sowohl im Prozess der Haushaltsaufstellung als auch im Haushaltsvollzug ein regelmäßiger Austausch und strategisches Controlling etabliert. Dafür habe ich auch für jedes Ressort einen Spiegelreferenten oder -referentin.

Wie kann man sich das vorstellen?

Wir haben beispielsweise aus der „Digitalmilliarde“ in 2021 für die Digitalisierung der Polizeiarbeit zusätzlich fünf Millionen Euro zur Anschaffung von Smartphones für den Innenminister zur Verfügung gestellt. Zu Beginn der Coronapandemie hatte ich gemeinsam mit unserem Gesundheitsminister 10.000 Tablets für Seniorinnen und Senioren verteilt, damit die Bewohnerinnen und Bewohner trotzdem Kontakt mit ihren Familien und Freunden aufnehmen konnten. Und zusammen mit dem Kultusminister haben wir eine Art ‚Digitaltruck‘ auf die Straße gebracht, der alle Schulamtsbezirke in Hessen ansteuert, um bei Grundschülerinnen und Grundschülern Interesse für neue digitale Lerninhalte und bei Lehrkräften Inspiration für eine moderne Unterrichtsgestaltung zu geben.

Wie haben Sie das angefangen – stilecht in einer Garage?

Wir haben 2019 bei null begonnen und innerhalb eines Jahres eine gut funktionierende neue Organisationsstruktur innerhalb der Landesregierung aufgebaut, die eine klare Strategie auf den Weg gebracht hat. Aber ja, am Anfang war es ein gefühltes Start-Up, bei dem ich mit einem Büroleiter und meinem Staatssekretär begonnen hatte. Geholfen hat natürlich die enge Anbindung an die Hessische Staatskanzlei, bei der wir auf vorhandene Verwaltungsstrukturen wie das Personalreferat zugreifen konnten, um den schnellen Aufbau realisieren zu können. Mittlerweile sind wir ein gestandener Bereich mit über 100 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, hohem Output und sehr gutem Standing innerhalb der Landesregierung und der breiten Öffentlichkeit.

Sie sind eine Quereinsteigern aus der Wirtschaft. Wie ist Ihre erste Tuchfühlung mit der Politik verlaufen?

Mein Wechsel nach über zwanzig Jahren Unternehmenserfahrung war eine bewusste Entscheidung, aber auch ein mutiger Schritt aus der eigenen Komfortzone heraus. Am Anfang meiner Amtszeit waren die gewisse Ungeduld und das Vorwissen, welches ich als Unternehmerin mitgebracht habe, hinderlich und förderlich zugleich. Ich habe lernen müssen, dass Verwaltungshandeln umfassend abgesichert sein muss und mit einem Wirtschaftsunternehmen grundsätzlich nicht vergleichbar ist. Ich bin ein ungeduldiger und kreativer Mensch, der schnell umsetzen und auch mal etwas ausprobieren möchte. Im Unternehmen funktionieren manchmal drei Dinge nicht, dann funktioniert das vierte. Das kann man sich in der Verwaltung so nicht erlauben.

Einige Politiker übernehmen im Verlauf ihrer Karriere mehrere Ministerien. Ist es egal, ­welches Ressort einem gerade zufällt?

Das kann man so nicht verallgemeinern. Jedes Ministerium ist besonders und hat spezielle Herausforderungen. Ich habe gelernt, dass Verwaltungsstrukturen so belastbar aufgestellt sind, dass sich jeder neue Chef auf diese Verwaltung verlassen kann. Wer Verwaltungswissen hat, kann sich das Fachwissen dann auch aneignen. Im Digitalbereich ist meine Erfahrung aber, dass ich eigentlich nur mit meinem Vorwissen aus Wirtschaft und Wissenschaft überhaupt einen solchen Bereich habe aufbauen können. Ich war Hochschullehrerin und Unternehmerin, kenne Life-Science-Themen und habe ein Start-Up gegründet. Dieses Erfahrungswissen hat mich die Lage versetzt, einen Horizontalbereich als Querschnitt aufzubauen. Wenn ich den Posten der Kultusministerin oder der Justizministerin angeboten bekommen hätte, dann wäre ich schon sehr zurückhaltend gewesen.

Also sehen wir demnächst keine Justiz­ministerin Kristina Sinemus?

Nein, das würde ich dankend ablehnen (lacht). Es war ja gerade der besondere Reiz, einen neuen Digitalbereich innerhalb der Landesregierung aufzubauen. Durch mein Querschnitts- und Erfahrungswissen habe ich aber die Möglichkeit, so viel von den anderen Ressorts zu verstehen, um einschätzen zu können, wo vielleicht Handlungsbedarf besteht.

In der neuen Bundesregierung wird es kein Digitalministerium geben. Haben die Beteiligten überhaut bei Ihnen nachgefragt, wie man sowas aufbaut?

Das haben sie nicht und damit eine Chance vertan, sich bei einer der wenigen Digitalministerinnen zu erkundigen, wie wir in Hessen einen neuen Digitalbereich innerhalb eines Jahres aufgebaut haben.

Wie sieht der aus?

In Hessen haben wir drei elementare Strukturmerkmale umgesetzt. Erstens alle digital-relevanten Kompetenzen auf Landesebene in meinem Bereich gebündelt, zweitens Digitalisierung als Querschnittsthema zu verstehen und drittens Budgethoheit über die Digitalmilliarde, um Digitalisierungsvorhaben zu bündeln und zu koordinieren.

Was hätte uns ein Digitalministerium auf ­Bundesebene überhaupt gebracht?

Ohne einen Fachminister auf Bundesebene haben wir keine Fachministerkonferenz und damit auch keine europäische Stimme. Auf europäischer Ebene passieren gerade ganz viele Dinge wie der Digital Services Act, wo wir uns als Deutschland positionieren müssen, damit Europa wettbewerbsfähig bleibt. Wir haben zwar eine D16-Konferenz, also mit den zuständigen Ministern, Staatssekretären oder Beauftragten für Digitalisierung, die wir ins Leben gerufen haben, aber da fehlt es an Durchschlagskraft.

Wie besprechen sich die Digitalministerien der Bundesländer denn aktuell?

Zusammen mit meinen Kollegen Judith Gerlach aus Bayern und Jan-Philipp Albrecht aus Schleswig-Holstein, die auch eigene Digitalminister sind, habe ich 2019 zu einem ersten Digitalministertreffen eingeladen. Ohne Bundesminister ist das nur ein informelles Treffen. Wir bräuchten aber eine formale Fachministerkonferenz, damit wir eine Stimme in Europa und mehr Durchschlagskraft haben.

Was wird dort denn besprochen?

Ich habe mich beispielsweise auf das Thema digitale Resilienz konzentriert: Wie lernen wir aus der Corona-Krise, damit wir eine widerstandsfähige digitale Infrastruktur für die nächste Krise entwickeln. Jedes Bundesland hat hier unterschiedliche Schwerpunkte, die wir besprechen.

Was können Sie auf Landesebene denn nicht umsetzen, weil es kein Bundesministerium für Digitales gibt?

Wir haben zum Beispiel das Thema ländlicher Raum und Mobilfunkmasten. Hier gibt es ein Hindernis auf Bundesebene, das es uns erschwert, Landesgelder zu investieren. Ein Bundesministerium könnte die Förderinstrumente hier besser bündeln und umsetzen. Außerdem müsste ein solches Ministerium eigens das Thema Künstliche Intelligenz und Innovation anpacken, KI ist die Schlüsseltechnologie. Hier müssen wir schneller werden. Meine Minimalforderung für ein Digitalministerium wären Budget, Bündelung und Steuerung für digitale Infrastruktur gewesen.

Wie digital bewegen Sie sich selbst als ­Politikerin?

Ich informiere mich regelmäßig im Netz, als Person bin ich nur noch gelegentlich auf Twitter aktiv, da mein gefüllter Kalender kaum Zeit für mehr lässt. Ich schreibe also nur dann einen Tweet, wenn ich denke, dass es notwendig ist. Den Rest übergebe ich meiner Pressestelle.

Im Bundestagswahlkampf hat Digitalpolitik keine große Rolle gespielt, oder?

Eher nicht und das fand ich sehr bedauerlich, da wir gerade jetzt in der Coronakrise alle verstanden haben, wie wichtig Digitalisierung ist. Das findet in jedem Wahlprogramm seinen Niederschlag. Aber keiner redet über den Weg der digitalen Transformation oder hat eine Vorstellung, wie so etwas umgesetzt werden soll.

Auch in den Kanzler-Triellen war das Thema kaum präsent. Was ­hätten Sie den künftigen Kanzler Olaf Scholz denn gefragt?

Ich hätte ihn gern gefragt: Wie würden Sie ein Digitalministerium aufbauen? Welche Rolle spielt für Sie das Thema Künstliche Intelligenz? Wie soll sich Deutschland im europäischen Konzert positionieren, um eine KI-Verordnung auf den Weg zu bringen? Was bedeutet für Sie Digitalisierung?

Sie sind als parteilose ­Ministerin geworden, mittlerweile aber in die CDU ­eingetreten. Warum eigentlich?

Der Hessische Ministerpräsident war mutig, mich als politisch noch gänzlich unbeschriebenes Blatt zur Ministerin zu machen. Darüber hinaus hatte er mit Ines Claus auch eine neue CDU-Fraktionsvorsitzende in Hessen ernannt. Ich wollte mit dem Parteieintritt also solidarisch sein zu einem mutigen Ministerpräsidenten und zur neuen Fraktionsvorsitzenden. Da mir auch das Thema ‚women go digital‘ wichtig ist, habe ich gedacht: jetzt kommt Frauenpower.

Spulen wir einmal ein paar Jahre vor. Wie ­digital ist unser Leben dann?

Wir melden unsere Wohnung online im digitalen Rathaus an. Wir können von zuhause aus arbeiten, da Homeoffice geregelt und die Internetleitung dank Glasfaser stabil für schnelle Datenübertragung und -mengen sorgt. Wenn wir krank sind, führen wir eine Videosprechstunde mit unserem Arzt durch, wir werden schneller diagnostiziert und treiben bessere Vorsorge, weil wir dafür Künstliche Intelligenz einsetzen. Vielleicht haben wir auch einen Pflegeroboter, der das Pflegepersonal entlastet. Oder wir haben einen Lernassistenten, der unseren Kindern in der Schule hilft. Ich sehe aus unserem Programm den geförderten Roboterrollstuhl mit KI, der nahezu alle Barrieren des Alltags selbstständig und sicher überwindet. Und in der Politik haben wir idealerweise auf Bundes- und Länderebene diese Kompetenzen an einer Stelle gebündelt.

Frau Sinemus, danke für dieses Gespräch.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 137 – Thema: Die neue Mitte?. Das Heft können Sie hier bestellen.