Für eine Frau, die gerne plant, beginnt der Grünen-Parteitag in Berlin mit einer kleinen Irritation. Die Abgesandten aus Nienburg haben sich einen zusätzlichen Platz geschnappt, der eigentlich Verlindens Kreisverband Lüneburg zusteht. Ihr Sitznachbar diskutiert mit den Parteifreunden, redet dann kurz mit ihr. Die Nienburger wollen den Platz nicht hergeben. „Blöd, aber wir wollen uns nicht streiten“, sagt die 34-Jährige diplomatisch. „Dann rotieren wir eben und organisieren noch einen Stuhl.“ Sie packt eine Brötchentüte und einen Laptop auf ihren Tisch. Im Velodrom, wo sonst Radrennfahrer ihre Runden drehen, läuft gerade der Parteitag warm. 800 Delegierte suchen ihre Plätze, begrüßen sich. Auf einer Großleinwand gibt es einen Anti-Merkel-Film zu sehen. Gleich wird Jürgen Trittin, Grünen-Fraktionschef im Bundestag, eine Rede halten. Zu seiner Truppe wird wohl bald die Frau mit den kupferfarbenen Locken gehören.
In die Rippen knuffen
Die 34-Jährige tritt im Wahlkreis 38 (Lüchow-Dannenberg, Lüneburg) für die Grünen zur Bundestagswahl an. Dass sie ihn direkt holt, glaubt niemand, auch sie selbst nicht. Die Grünen haben zwar mit Lüneburg eine Hochburg im Wahlkreis, dominiert wird er aber vom ländlichen Teil Lüchow-Dannenberg. Eckhard Pols, ein Glasermeister mit fünf Kindern, siegte 2009 für die CDU. Er kandidiert erneut, ebenso wie die damals zweitplatzierte Hiltrud Lotze von der SPD. Julia Verlinden ist trotzdem so gut wie sicher im nächsten Bundestag: Sie ist die Nummer Drei auf der Landesliste der Grünen in Niedersachsen.
Am Rednerpult hat Trittin inzwischen losgelegt und nimmt die Amigos der CSU unter Beschuss. Verlindens Anliegen ist weniger medienwirksam und trockener. Mit ein paar Mitstreitern will sie erreichen, dass ihr Kernthema Energieeffizienz bei Gebäuden im Wahlprogramm prominenter platziert wird. Verlinden hat Umweltwissenschaften studiert, über die EU-Energieeffizienzrichtlinie ihre Doktorarbeit geschrieben. Seit Jahresbeginn leitet sie den Fachbereich Energieeffizienz beim Umweltbundesamt in Dessau. Die Energiewende ist ihr politisches Sehnsuchtsthema, um sie voranzubringen, will sie in den Bundestag.
In den nächsten Stunden wandert Verlinden mit den Mitgliedern ihrer Arbeitsgemeinschaft „Energie“ von Stehtisch zu Stehtisch. Wer sie bei der Arbeit beobachtet, bekommt einen Eindruck davon, wie sie tickt. Sie plauscht gerne und gibt jedem das Gefühl ungeteilter Aufmerksamkeit – eine Wohltat im gehetzten Politikbetrieb. Und sie hat den Charme eines Kumpel-Typs, der einem nach getaner Arbeit in die Rippen knufft und einem das Haben-wir-mal-wieder-gut-gemacht-Gefühl gibt: „Hey Andreas, da gehen wir noch ein Bier trinken, wenn das durch ist.“
Produkt des Wandels
Alles zu harmlos und zu nett für die Polit-Egoshow in Berlin? Fakt ist, bei ihren bisherigen Stationen in der Politik, wie im Stadtrat und Kreistag von Lüneburg, hat sich Verlinden keine Feinde gemacht. Der Frau fehlt offensichtlich die für den Politikerberuf notorische Profilierungssucht. „Sie konnte darauf verzichten, sich zu äußern, wenn zu einem Thema alles gesagt war“, meint Regina Baumgarten, die CDU-Bürgermeisterin von Lüneburg, und fügt hinzu: „Wir hatten ein gutes Arbeitsverhältnis.“ Ihr Parteikollege Ulrich Blanck beschreibt sie als Kopfmensch, „der über die Fachlichkeit kommt“.
Wer mit Verlinden durch die Katakomben des Velodroms läuft, kann die Wandlung der Grünen von der Protest- zur Bürgerpartei anhand der dort aufgebauten Lobby-Stände nachvollziehen. Neben den üblichen Verdächtigen wie „Bee Good – Bündnis zum Schutz der Bienen“ und den Sparkassen gibt es Protagonisten, die dort früher keinen Stellplatz bekommen hätten; so den Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft, bis zur Energiewende ein Lobbyschwert der Atomkonzerne. Auch der Stand von „Tank und Rast“, laut Eigenwerbung Deutschlands größter Betreiber von Autobahn-Raststätten, irritiert.
Die Politikerin Verlinden ist ein Produkt dieses Wandels. Mit der Energiewende gehören die grünen Themen endgültig zur Alltagspolitik der Berliner Republik. Statt charismatischer Barrikadenkämpfer ist Fachkompetenz und Empathie nötig, um politisch erfolgreich zu bleiben. Je bürgerlicher die Partei wird, desto mehr Bearbeiter wie Verlinden braucht sie. Kämpfernaturen wie Christian Ströbele sind auf dem Rückmarsch. Unterstützt durch eine stringente Quote – die ungeraden Plätze auf den Grünen-Landeslisten stehen Frauen zu – sind es gerade junge Politikerinnen, die sich den Weg nach oben bahnen. Ihr Merkmal: eine akademische Ausbildung, die meist maßgeschneidert ist für die Kärrnerarbeit an den Sachthemen der Grünen. Polit-Talente diesen neuen Typs sind Luise Amtsberg, Annalena Baerbock, Katharina Fegebank und eben Julia Verlinden.
Deren Vita ist eine bürgerliche Existenz im Zeichen der Sonnenblume. Verlindens Entscheidung, sich politisch für die Grünen zu engagieren, fiel 1999 bei einer Demo gegen das Atomendlager Gorleben. Ein Jahr zuvor war sie zum Studium ins nahe gelegene Lüneburg gezogen. Mit anderen jungen Leuten radelte sie eine Woche lang durch die Region. Das Gruppengefühl und das Debattieren mit den Anwohnern gefielen ihr. Ein Erweckungserlebnis war die Demotour mit dem Rad aber nicht. Bei Verlinden kamen erst die Inhalte, dann die Partei – nicht umgekehrt wie bei anderen Politiktalenten.
Die älteste von fünf Schwestern wuchs in Bergisch-Gladbach bei Köln auf. Der Vater arbeitet im öffentlichen Dienst, die Mutter ist Erzieherin. Die Umweltpolitik hat bei den Verlindens einen hohen Stellenwert. Die Eltern nahmen ihre Töchter mit auf Tschernobyl-Demos. Die heutige Bundestagsabgeordnete in spe sammelte als Kindergartenkind Wildkräuter für die „Bergischen Naturschutz-Löwen“. Später engagierte sie sich im Green Team von Greenpeace, dann in der BUND-Jugend und schließlich, während des Studiums, bei den Grünen. Damals lernte sie auch ihren Mann kennen. Der ist ebenfalls Parteimitglied, aber kein Politiker.
Der erste Tag des Parteitags endet mit einer kleinen Niederlage für Verlinden. Steffi Lemke, Bundesgeschäftsführerin der Grünen, will der Energieeffizienz bei Gebäuden nicht mehr Raum im Wahlprogramm geben, um es nicht aufzublähen. Lemke setzt sich durch, der Änderungsantrag Verlindens und ihrer Mitstreiter wird niedergestimmt. „Immerhin haben wir es versucht“, ist ihre Reaktion.
Fragt man Verlinden nach ihrem Verständnis von Macht in der Politik, dauert es lange, bis man eine Antwort bekommt. Das Wort „Macht“ gefällt ihr sichtlich nicht. Schließlich ringt sie sich den Begriff „Gestaltungsmacht“ ab, schiebt aber schnell hinterher, dass sie sich in erster Linie als Vermittlerin sieht. Die Dinge voranzubringen sei ihr wichtig, da werde sie auch mal ungeduldig und wolle, dass es „zacki zacki“ geht. Trittin kann sich freuen, hier kommt kein weiblicher Ströbele, sondern ein Teamplayer.
Keine 30 Jahre Schützenfeste
Im Bundestag ist Verlindens Kernthema Energieeffizienz bei Gebäuden in der Grünen-Fraktion schon besetzt. Geschäftsführerin Daniela Wagner beackert es im Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung. Die Neue hofft, sich stattdessen im Umweltausschuss als Fachpolitikerin im Bereich Energiepolitik profilieren zu können. Angst, dass sich zu viele Parteikollegen auf das grüne Spitzenthema stürzen und sie ins Hintertreffen gerät, hat sie nicht: „Ich denke, die Partei respektiert mein Kompetenzprofil.“
Verlinden werde sicher keine Hinterbänklerin, die 30 Jahre lang nur Schützenfeste besucht, meint ein Parteikollege. Für Trittins neue Kollegin ist die Berliner Politik nicht die Erfüllung aller Träume. Sie hofft, im Bundestag Zeit für Fachpolitik zu haben. Wenn das nicht gehe, müsse sie nach anderen Optionen Ausschau halten, meint Verlinden. Jetzt aber geht erstmal der Wahlkampf los und damit eine Phase voller Stress. „Um runterzukommen“, geht die Parlamentarierin in spe im Wald joggen. Lange Zeit hörte sie dabei gern Musik. Inzwischen verzichtet sie auf die Beschallung, um mal wirklich Ruhe zu haben.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Na, Klassenfeind? Ein Linker und ein Liberaler über Freundschaft zwischen politischen Gegnern. Das Heft können Sie hier bestellen.