Der ­doppelte Ausnahme­zustand

Politik

Der 6. November fühlt sich im politischen Berlin wie ein Kater-Tag an. Viele haben sich zumindest Teile der Nacht um die Ohren geschlagen, um die US-Präsidentschaftswahl zu verfolgen. Im Januar übernimmt beim wichtigsten Verbündeten erneut der Populist Donald Trump die Macht. Das wirft zahlreiche Fragen für Europa auf. Die Stimmung ist gedrückt – wegen des Herbstwetters und der Aussicht auf eine weitere lange Nacht. Denn an diesem Mittwochabend trifft sich im Kanzleramt der Koalitionsausschuss. Die Spitzen der Regierungsparteien beraten mal wieder. Vordergründig geht es um die Ausrichtung der Wirtschaftspolitik und den Bundeshaushalt für 2025. Eigentlich steht jedoch die Frage im Raum, ob man ein Jahr vor der nächsten Bundestagswahl noch zusammenarbeiten will.

Trotzdem herrscht keine Alarmstimmung. Allgemeiner Konsens: Jetzt, wo im fernen Washington wieder Trump übernimmt, wird die Regierung ja wohl vernünftig sein und Stabilität zeigen. Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) setzt am Vormittag schon mal den Ton: „Die Konsequenz dieses Wahlausgangs in den USA kann ja nur sein, dass Deutschland in Europa nicht ausfallen kann.“ Bereits am Vortag hatte er von der schlechtesten Zeit für einen Regierungskollaps gesprochen. Auch auf X (vormals Twitter) geht die Theorie um, Trumps Wahl habe das Ampel-Aus noch einmal verhindert. „Hat Trump die Ampel gerettet? Stay tuned“, schreibt etwa der prominente Verteidigungsexperte Carlo Masala. Die Opposition sieht das natur­gemäß anders, der CSU-Vorsitzende Markus Söder erklärt bereits gegen ­Mittag vor Medienvertretern, dass es angesichts „schärferen Windes“ aus Amerika nun wirklich Zeit für Neuwahlen sei.

Auch die Medien scheinen eher zu erwarten, dass die Regierung sich in gewohnter Manier noch einmal zusammenrauft. Im Ersten denkt man nur an die US-Wahl, plant dazu um 20.15 Uhr einen Brennpunkt, gefolgt von einer Diskussionsrunde bei „Maischberger“. Begleitprogramm zum Gipfel im Kanzleramt? Erst mal nicht geplant. Beim ZDF soll „Aktenzeichen XY“ laufen. Was die großen Zeitungsredaktionen des Landes planen, verkünden sie zwar nicht vorab. Allerdings dürfte auch hier der Schwerpunkt der meisten auf der US-Wahl gelegen haben.
Doch dann überschlagen sich die Ereignisse im Laufe des Tages und überrumpeln so ziemlich alle Beobachter.

14.30 Uhr
Am frühen Nachmittag kursieren erste Gerüchte, dass es tatsächlich der letzte Tag in der Ampel-Ära werden könnte. Der gut vernetzte Welt-Journalist Robin Alexander kündigt um 14.39 Uhr an, sein wöchentlicher Podcast „Machtwechsel“ werde außerplanmäßig erst am Freitag erscheinen – „aus gegebenem Anlass“. Auch andere Journalisten sehen den Sturm aufziehen. „Erste Stimmen suggerieren, dass die Ampel heute Abend over ist“, schreibt die „Zeit“-Redakteurin Yasmine M’Barek. Am frühen Abend machen Screenshots angeblicher Whatsapp-Nachrichten die Runde, die berichten, FDP-Abgeordnete bereiteten ihre Mitarbeiter auf das Koalitionsende vor. Zugegeben: alles noch nicht gesichert, viel Gemurmel, wenig Handfestes. Offizielle Partei­stimmen gibt es keine. Aber da verfestigt sich ein Bild.

19.30 Uhr
Nichtsdestotrotz dominiert vorerst noch die US-Wahl die Nachrichtenlage. Gegen 19.26 Uhr – da tagt der Koalitionsausschuss schon – macht Deutschlands größte Nachrichten­seite „Spiegel Online“ weiter mit der US-Wahl auf. Ganz oben steht der Gratulationsaufruf der unterlegenen ­Kandidatin Kamala Harris. Erst weiter unten folgt die deutsche Lage. Der Teaser fragt bang: „Zerbricht die Regierung?“

20.00 Uhr
Im Ersten endet die Tagesschau mit einem kurzen Hinweis darauf, dass in Berlin etwas passiert – ohne Bild, ohne Beitrag. Die „Bild“-Zeitung bekommt den Credit. Gegen kurz nach acht Uhr hatte das Blatt vermeldet, dass Finanzminister Christian Lindner (FDP) dem Kanzler Neuwahlen vorgeschlagen habe – geordnet und gemeinsam. Im Kanzleramt sorgt die Veröffentlichung wohl für mehr Empörung als Lindners Vorschlag selbst. SPD und Grüne vermuten eine gezielte Indiskretion der Liberalen. „Rumms“, wie „Bild“ so gern schreibt.

Um 20.15 Uhr startet in der ARD wie geplant der Brennpunkt zur US-Wahl. Moderatorin Ellen Ehni verspricht eingangs, man werde den Blick auch nach Berlin richten. Das Grummeln im Maschinenraum der Koalition ist nicht mehr zu überhören. Trotzdem berichtet Ehni dann erst mal ­wieder über Swing States und die Frage, welche ­Distrikte in Pennsylvania wie gewählt haben. Konkrete Infos aus der Hauptstadt gibt es ja auch nicht.

Gegen 20.30 Uhr geht es weiter. Mittlerweile berichten die meisten Medien über Lindners Neuwahlvorschlag. Im Ersten fällt Moderatorin Ehni die schwierige Aufgabe zu, von Diskussionen über mögliche Kabinettsbesetzungen Trumps zum ARD-Hauptstadt-Chef Markus Preiß überzuleiten. Der vermeldet gegen 20.36 Uhr, dass der Koalitions­ausschuss vorbei sei. Lindner will Neuwahlen, Scholz nicht. Auch wird bekannt, dass Kanzler Scholz gegen 21.15 Uhr vor die Öffentlichkeit treten wird. ARD-Zahlenmeister Jörg Schönenborn hat zum Glück direkt Zahlen parat, eine aktuelle Umfrage, die die ARD in weiser Voraussicht in Auftrag gab. Fazit: Die Leute wollen Neuwahlen.

21.00 Uhr
Noch vor Scholz’ Auftritt, gegen 21.00 Uhr, verfestigt sich das Bild: Lindner wird entlassen, Scholz kündigt die Vertrauensfrage an. Erste Termine dafür machen die Runde. Mitte Januar soll es so weit sein. Auch über den finalen Scheidungsgrund gibt es Berichte. Der stellvertretende Chef des „Handelsblatt“-Büros in Berlin, Martin Greive, schreibt, Scholz habe von Lindner die Aussetzung der Schuldenbremse verlangt. Für die FDP ist damit klar: Der Schwarze Peter liegt eindeutig beim Kanzler. „Die Entlassung von Lindner durch den Bundeskanzler zeigt: Olaf Scholz hat weder Kraft noch Mut zu durchgreifenden wirtschaft­lichen Reformen“, erklärt Henning Höne, FDP-Landeschef in Nordrhein-Westfalen. „Vielen Dank für Mut und Geradlinigkeit, Christian Lindner!“

Damit beginnt das Rennen um die Deutungshoheit über den Koalitionsbruch. Auch Lindner und die Grünen-­Spitze kündigen Statements an. Das erste Wort hat jedoch der Bundes­kanzler. Der lässt kein gutes Haar an seinem jetzt ehemaligen Partner, wirft ihm Egoismus und Klientel­politik vor. Das Echo auf die Rede ist sehr geteilt. Viele ­zeigen sich positiv überrascht vom scharfen Ton des sonst so kühlen Olaf Scholz. Aber es werden erstmals auch Vorwürfe laut, der Kanzler habe den Bruch bewusst herbeigeführt. Julia Klöckner (CDU) nennt seine Rede „lang vorbereitet“. ­Lindner, der kurz nach Scholz vor die Kameras tritt, stößt ins selbe Horn, spricht von einem „kalkulierten Bruch“.

Die ersten Stunden nach dem Koalitionsende prägt vor allem das persönliche Duell zwischen Scholz und Lindner. Die Grünen-Führung um Habeck gibt zwar ebenfalls ein Statement ab. Sie kündigen an, in einer SPD-geführten Minderheitsregierung zu bleiben. Der Auftritt ist so aber so schnell vergessen, wie er vorbei ist.

22.00 Uhr
Die Opposition braucht etwas Zeit, um sich zu sortieren, beginnt aber ab 22 Uhr, aus allen Rohren zu feuern. Die AfD-Chefs Alice Weidel und Tino Chrupalla sprechen in einem gemeinsamen Statement von einer „Befreiung für Deutschland“. Sahra Wagenknecht wirft der Regierung wegen der erst für Januar angekündigten Vertrauensfrage „politische Insolvenzverschleppung“ vor. Auch die größte Oppositionsfraktion, die Union, entscheidet sich für diese Angriffslinie. Fraktionsvize Jens Spahn twittert: „Der Kanzler ist seit 3 Jahren unfähig, mit einer Mehrheit zu regieren. Wieso sollte er das jetzt ohne Mehrheit schaffen? Das ist Taktiererei auf Kosten polit. Stabilität.“

Interessant ist, wer sich am Mittwoch gar nicht mehr äußert: Der CDU-Chef und designierte Kanzlerkandidat Friedrich Merz. Dessen erste Wortmeldung erfolgt erst am Donnerstagmorgen nach einer eilig einberufenen Fraktions­sitzung.

8.00 Uhr
Am 7. November beginnt der nächste Kater-Tag in ­Berlin. Wieder war es eine kurze Nacht, geplante Berichterstattung musste umgeschmissen werden, bis spät wurde getagt und konferiert. Und es geht schon früh wieder weiter. ­Verbände bringen sich in Stellung, Wirtschaftsvertreter fordern zügige Neuwahlen, um 8 Uhr tritt die Union zur Sondersitzung zusammen. Donald Trump? Kamala Harris? An diesem Donnerstag sind sie fast vergessen. Ob bei „Bild“, „Spiegel“ oder der „Süddeutschen Zeitung“: Das Ampel-Aus dominiert die Schlagzeilen. Die US-Wahl und ihre Folgen rücken bestenfalls auf Platz zwei. Der Startschuss für einen ­heißen Wahlkampfwinter ist gefallen.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 149 – Thema: Kurzwahlkampf. Das Heft können Sie hier bestellen.