Deep-Dive ins Wahlprogramm – Teil 3: Gesundheit

Analyse

Die Gesundheitspolitik nimmt im politischen Diskurs eine Sonderstellung ein, da sie nicht allein durch die Regierung bestimmt wird, sondern maßgeblich von der sogenannten gemeinsamen Selbstverwaltung geprägt ist. Dies bedeutet, dass zentrale Entscheidungen – etwa zur Finanzierung und zum Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) – nicht direkt von der Politik, sondern von Krankenkassen, Ärzteschaft und anderen Akteuren getroffen werden. Dieses Modell ist international nahezu einmalig und unterscheidet das deutsche Gesundheitssystem grundlegend von anderen Ländern, in denen der Staat oder private Anbieter eine dominierende Rolle spielen.

Zugleich bewegt sich die Gesundheitspolitik in einem Spannungsfeld zwischen wirtschaftlichen Interessen und der sozialen Verantwortung der Daseinsvorsorge. Einerseits ist der Gesundheitssektor ein bedeutender Wirtschaftszweig mit Millionen Beschäftigten und enormen finanziellen Volumina, andererseits muss sichergestellt werden, dass medizinische Leistungen bezahlbar und für alle zugänglich bleiben. Diese Balance zwischen ökonomischer Effizienz und solidarischer Absicherung ist eine der zentralen Herausforderungen, die sich in den Wahlprogrammen der Parteien widerspiegeln. Ein Vergleich dieser Programme zeigt nicht nur unterschiedliche Prioritäten und Lösungsansätze, sondern verdeutlicht auch, welche Rolle der Staat künftig in diesem einzigartigen System spielen soll.

 

CDU/CSU: Evolution statt Revolution

Angesichts einer alternden Gesellschaft, des wachsenden Fachkräftemangels und steigender Kosten sieht die Union das deutsche Gesundheitssystem vor grundlegenden Herausforderungen. Ihr gesundheitspolitisches Programm setzt dabei auf behutsame Anpassungen statt radikaler Veränderungen. Die bewährte Dualität von gesetzlicher und privater Krankenversicherung soll ebenso bestehen bleiben wie Selbstverwaltung und solidarische Beitragsfinanzierung.

Eine flächendeckende, hochwertige medizinische Versorgung in Stadt und Land steht im Zentrum der Unionspläne. Die anstehende Krankenhausreform soll dabei gezielt Fehlsteuerungen korrigieren, ohne einen abrupten Strukturwandel zu erzwingen. „Ziel muss sein, einen kalten Strukturwandel in der Krankenhauslandschaft zu verhindern.“ Durch Effizienzsteigerungen will die Union die Zukunftsfähigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung sichern, wobei besonders Haus- und Kinderarztpraxen eine stärkere koordinierende Rolle übernehmen sollen.

Prävention erhält einen zentralen Stellenwert im Unionsprogramm. Dabei setzen CDU und CSU auf Eigenverantwortung und gestärkte Gesundheitskompetenz. „Wir wollen geschlechtsspezifische Medizin stärker als bisher als eigenständiges Aufgabenfeld vorantreiben.“ Die Digitalisierung wird als Schlüssel zu einer besseren Versorgung gesehen – mit elektronischen Patientenakten und KI-gestützten Anwendungen.

In der Arzneimittelversorgung plant die Union weitreichende Reformen. „Mit einer Apothekenreform stärken wir die Präsenzapotheken und geben ihnen eine Zukunft.“ Deutschland soll wieder zur „Apotheke der Welt“ werden, unterstützt durch beschleunigte Zulassungsverfahren und verbesserte Investitionsbedingungen.

Die Pflegepolitik setzt auf einen ausgewogenen Mix aus Pflegeversicherung, betrieblicher Mitfinanzierung, Steuermitteln und privater Vorsorge. „Pflege darf kein Armutsrisiko sein – das ist unser Anspruch.“ Besonderes Augenmerk liegt auf der häuslichen Pflege: „Wir stellen die häusliche Pflegesituation in den Mittelpunkt und wollen die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf stärken.“ Pflegekräfte sollen durch konsequenten Bürokratieabbau entlastet werden, um „mehr Zeit für den Menschen und weniger Zeit für Verwaltung“ zu haben.

Die Hospiz- und Palliativversorgung erhält besondere Aufmerksamkeit: „Wir bauen die Angebote der Hospiz- und Palliativversorgung aus und wollen so einen würdevollen Abschied aus dem Leben ermöglichen.“ Der Pflegeberuf selbst soll durch planbarere Arbeitszeiten und verbesserte Aufstiegsmöglichkeiten attraktiver gestaltet werden.

Zusammenfassend verfolgt die Union einen evolutionären Kurs mit klarem Fokus auf Digitalisierung, Prävention und Effizienzsteigerung. Das bewährte duale System soll erhalten bleiben, während gezielte strukturelle Anpassungen seine langfristige Zukunftsfähigkeit sichern sollen.

 

SPD: Gerecht, solidarisch und zukunftssicher

Die Sozialdemokraten streben eine grundlegende Reform des Gesundheitswesens an, die Gleichheit und Gerechtigkeit in den Mittelpunkt stellt. „Eine gute und sichere gesundheitliche Versorgung darf nicht vom Geldbeutel der Patientinnen und Patienten abhängen.“ Mit der Einführung einer Bürgerversicherung will die SPD die Unterschiede zwischen gesetzlich und privat Versicherten aufheben und verspricht: „Gesetzlich Versicherte sollen genauso schnell wie Privatversicherte einen Termin erhalten.“

Dabei setzt die Partei auf ein gerechteres Finanzierungsmodell. Private Versicherungen werden in den Risikostrukturausgleich eingebunden, während versicherungsfremde Leistungen künftig durch Steuermittel getragen werden sollen. „Die Beiträge der Versicherten sollen sich noch stärker als jetzt an ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit orientieren“ – ein Grundstein für ein langfristig stabiles, solidarisches System.

Modernisierung durch Digitalisierung ist ein weiterer Kernpunkt der SPD-Pläne. „Die elektronische Patientenakte kommt jetzt nach 20 Jahren Stillstand“, kündigt die Partei an. Elektronische Patientenakte und KI-gestützte Diagnostik sollen den Zugang zu medizinischer Versorgung erleichtern, während digitale Analysen individueller Gesundheitsverläufe Prävention und psychische Gesundheit stärken.

Im Krankenhaussektor setzt die SPD auf mehr Gemeinwohlorientierung statt wirtschaftlichen Drucks. „Unser Ziel ist eine passgenaue Zusammenarbeit vom Notfall bis zur planbaren Operation und Nachsorge.“ Eine stärkere Regionalisierung, verbunden mit dem Ausbau von Notfallversorgung, Rettungsdiensten und Telemedizin, soll die flächendeckende Versorgung sicherstellen.

Besonderes Augenmerk liegt auf der Pflegepolitik: Die stationären Eigenanteile werden auf 1.000 Euro monatlich begrenzt, denn „Pflege darf kein Armutsrisiko sein.“ Bessere Arbeitsbedingungen durch Tarifbindung und mehr Personal gehen einher mit Bürokratieabbau, denn „eine hohe Versorgungsqualität im Gesundheitswesen beginnt mit guten Arbeitsbedingungen.“ Familienpflegezeit und Pflegegeld sollen zusätzlich pflegende Angehörige unterstützen.

Die SPD zielt damit auf eine tiefgreifende Strukturreform, die Solidarität und Gleichheit verwirklicht. Durch Digitalisierung, Prävention und Entlastung der Pflegekräfte soll eine nachhaltige, sozial gerechte Gesundheitsversorgung für alle entstehen.

 

Bündnis 90/ Die Grünen: Nachhaltig, gerecht und patientenorientiert

Die Grünen setzen auf eine grundlegende Neuausrichtung des Gesundheitssystems mit klarem Fokus auf Patientenbedürfnisse. „Unser Ziel ist klar: Patient*innen sollen zur richtigen Zeit die richtige Versorgung am richtigen Ort erhalten.“ Um dies zu erreichen, planen sie einen Ausbau von Primärversorgungszentren, verstärkte Unterstützung unterversorgter Gebiete und mehr interdisziplinäre Zusammenarbeit.

Die Modernisierung durch Digitalisierung und Telemedizin soll Wartezeiten verkürzen und die Versorgung effizienter gestalten. Dabei setzen die Grünen auf ein ausgewogenes Konzept: Während sogenannte Gesundheitskioske wohnortnahe Beratung bieten sollen, bleiben Hausarztpraxen als bewährte Anlaufstellen erhalten. „Deshalb werden wir die hausärztlich-zentrierte Primärversorgung stärken, um eine bessere Behandlungsqualität und Effizienz zu erreichen.“

Eine zentrale Rolle spielt die Reform der Finanzierung. Das bestehende System soll durch eine solidarische Bürgerversicherung gerechter werden, die private Versicherungen stärker einbezieht und allen Menschen gleichen Zugang zu Gesundheitsleistungen garantiert.

Prävention erhält besonderes Gewicht: Durch Zweitmeinungsverfahren und gestärkte Patientenrechte wollen die Grünen Fehl- und Überversorgung vermeiden. Gleichzeitig soll die Versorgung inklusiver und barrierefreier werden.

Bei der Arzneimittelversorgung setzen die Grünen auf europäische Lösungen: „Angesichts instabiler Lieferketten wollen wir, dass wichtige Arzneimittelwirkstoffe wieder stärker in Deutschland oder Europa produziert werden.“ Die Krankenhausreform fokussiert auf Qualität und Prozessverbesserung.

In der Pflege steht die Verbesserung der Arbeitsbedingungen im Zentrum. „Pflegekräfte brauchen Arbeitsbedingungen, die ihnen die Zuwendung zu ihren Patient*innen möglich machen.“ Durch Bürokratieabbau und digitale Lösungen soll mehr Zeit für direkte Pflege entstehen, während nachhaltigere und effizientere Strukturen die Zukunft sichern.

Die Grünen streben damit ein Gesundheitssystem an, das Prävention, soziale Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit vereint. Ihre Reformen zielen auf eine flächendeckende, bezahlbare Versorgung, bei der das Gemeinwohl Vorrang vor wirtschaftlichem Profit genießt.

 

Gesundheitspolitik der AfD: National und eigenverantwortlich

Die AfD positioniert sich kritisch gegenüber den aktuellen Entwicklungen im Gesundheitssystem und fordert eine Neuausrichtung. „Unser Ziel ist eine am Menschen orientierte Versorgung und Medizin.“ Eigenverantwortlichkeit und Therapiefreiheit stehen dabei im Vordergrund, während die Partei eine stärkere Einflussnahme der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und der Europäischen Union (EU) auf die nationale Gesundheitspolitik ablehnt.

Im Krankenhaussektor steht die Abschaffung des Fallpauschalensystems im Fokus. „Notwendig ist die vollständige Abschaffung der Fallpauschalen und mittelfristig die Rückkehr zu individuellen Budgetvereinbarungen“ zwischen Krankenhäusern und Kassen auf Landesebene. Auch ambulante Budgetierungen sollen entfallen. Finanzielle Anreize sollen die ärztliche Niederlassung in ländlichen Regionen fördern.

Bei der Arzneimittelversorgung setzt die AfD auf nationale Lösungen. „Die weitgehende, mögliche Rückverlagerung der pharmazeutischen Produktion nach Deutschland und in sichere Herkunftsländer ist ein Gebot für Versorgungssicherheit und gleichbleibende Qualität.“ Der Versandhandel mit rezeptpflichtigen Medikamenten soll verboten, der Großhandel zu Mindestvorräten verpflichtet werden.

Die Corona-Politik steht besonders in der Kritik: „Die Corona-Maßnahmen haben enorm vielen Menschen gesundheitlichen, sozialen und wirtschaftlichen Schaden zugefügt.“ Die Partei fordert einen Untersuchungsausschuss sowie Rehabilitierung und Entschädigung für „zu Unrecht Verurteilte“.

In der Pflege liegt der Schwerpunkt auf häuslicher Versorgung: Die häusliche Pflege soll “deutlich höher finanziell” honoriert werden. Pflegekammern werden als überflüssige Bürokratie abgelehnt, während eine gesetzliche Personalbemessung befürwortet wird.

Weitere Positionen umfassen die Ablehnung der Widerspruchsregelung bei Organspenden und der Cannabis-Legalisierung sowie ein Verbot geschlechtsangleichender Maßnahmen bei Minderjährigen. Die zentrale Speicherung von Patientendaten wird ebenso abgelehnt wie Abstriche bei der Qualifikation ausländischen Fachpersonals.

Die AfD verfolgt damit eine Politik der nationalen Eigenständigkeit und Deregulierung, fokussiert auf Abschaffung der Fallpauschalen, eine Stärkung der häusliche Pflege und die Corona-Aufarbeitung.

 

Die Linke: Solidarität statt Profit

Die Linke strebt eine fundamentale Neuausrichtung des Gesundheitswesens an und setzt dabei klare Prioritäten: „Gesundheit darf keine Klassenfrage mehr sein.“ Die Partei kritisiert die zunehmende Ökonomisierung und Privatisierung des Gesundheitssystems und fordert stattdessen eine Planung, die sich konsequent an sozialen und medizinischen Kriterien statt an Profitinteressen orientiert.

Zentrales Element ist die Einführung einer solidarischen Gesundheits- und Pflegeversicherung: „Alle zahlen ein, Beiträge werden auf alle Einkommen erhoben, alle werden gut versorgt.“ Die Beitragsbemessungsgrenze soll fallen, Kapitalerträge sollen in die Finanzierung einbezogen und die private Krankenversicherung in die gesetzliche überführt werden. Dies soll niedrigere Beiträge ermöglichen und Leistungen wie Zahnersatz oder Brillen vollständig abdecken.

Bei der Krankenhausfinanzierung fordert die Linke einen grundlegenden Systemwechsel und die Abkehr von den sogenannten Fallpauschalen zugunsten einer Vollfinanzierung der Betriebskosten: “Dadurch werden Gewinne und Verluste weitgehend unmöglich. Private Konzerne sollen zwar weiterhin Krankenhäuser betreiben dürfen, aber ohne Gewinnmöglichkeit werden sie daran kein Interesse haben.” Während massive Investitionen die Infrastruktur stärken sollen.

Die Pflege soll durch eine solidarische Vollversicherung revolutioniert werden. „Pflege darf kein Armutsrisiko sein“ – Eigenanteile werden abgeschafft, Heimkosten gedeckelt. Bessere Arbeitsbedingungen und Löhne sowie eine bundesweite Personalbemessung sollen für mindestens 100.000 zusätzliche Pflegekräfte sorgen.

Die ambulante Versorgung setzt auf kommunale Strukturen: „Wir wollen kommunale Versorgungszentren als Rückgrat der wohnortnahen Gesundheitsversorgung fördern.“ Die Grundversorgung soll durch öffentliche oder gemeinnützige Träger erfolgen. Die psychotherapeutische Versorgung soll wartelistenfrei werden, denn „die gesellschaftlichen Zustände machen krank, auch psychisch.“

In der Drogenpolitik fordert die Partei neue Wege: „Ein Verbot von Drogen reduziert weder den Drogenhandel noch senkt es wirksam den Konsum.“ Sie plädiert für Entkriminalisierung und Cannabis-Legalisierung bei gleichzeitiger Stärkung von Prävention und Beratung.

Die Linke zielt damit auf einen radikalen Umbau zu einem solidarischen, profitfreien Gesundheitssystem mit starken kommunalen Strukturen und umfassender Entlastung für Patienten wie Personal.

 

Gesundheitspolitik im Parteienvergleich: Zwischen Systemwandel und Bewahrung

Die Gesundheitspolitik offenbart sich als zentrales Unterscheidungsmerkmal der Parteien. Dabei zeigen sich zwei grundsätzliche Lager: Die Befürworter eines Systemwandels (SPD, Grüne, Linke, BSW) und die Verteidiger bestehender Strukturen (CDU/CSU, FDP, AfD).

Das deutlichste Trennungsmerkmal ist die Haltung zur Bürgerversicherung. Während SPD, Grüne, Linke und BSW eine Überwindung des dualen Systems aus gesetzlicher und privater Krankenversicherung anstreben, verteidigen CDU/CSU und FDP explizit die bisherige Struktur. Die AfD positioniert sich hier weniger eindeutig.

Bei der Krankenhausfinanzierung zeigt sich ein ähnliches Bild: Linke, BSW und AfD fordern die komplette Abschaffung der Fallpauschalen, während die anderen Parteien eher auf Reformen des bestehenden Systems setzen. CDU/CSU und FDP betonen dabei stark die Effizienz, während SPD und Grüne mehr auf regionale Versorgungsaspekte achten.

Die Digitalisierung wird von allen Parteien als wichtig erachtet, jedoch mit unterschiedlichen Schwerpunkten. FDP und CDU/CSU sehen darin vor allem Effizienzpotenziale, SPD und Grüne betonen den verbesserten Zugang zur Versorgung. Die AfD steht der digitalen Patientenakte kritisch gegenüber.

In der Pflegepolitik unterscheiden sich die Ansätze fundamental: Während Linke, SPD und BSW eine Vollversicherung anstreben, setzen FDP und CDU/CSU auf private Ergänzungsvorsorge. Die Grünen nehmen hier eine Mittelposition ein. Einig sind sich alle Parteien in der Notwendigkeit besserer Arbeitsbedingungen für Pflegekräfte.

Bemerkenswert ist, dass alle Parteien die Rückverlagerung der Arzneimittelproduktion nach Deutschland/Europa fordern, wobei die Umsetzungsvorschläge von staatlicher Steuerung (Linke, BSW) bis zu marktwirtschaftlichen Anreizen (FDP, CDU/CSU) reichen.

Parteiübergreifend wird sich auch für die Stärkung der ambulanten Versorgung ausgesprochen – jedoch mit unterschiedlichen Konzepten: von kommunalen Gesundheitszentren (Linke, SPD) über Primärversorgungszentren (Grüne) bis zu klassischen Arztpraxen (CDU/CSU, FDP).

Diese Unterschiede spiegeln grundsätzliche Ordnungsvorstellungen wider: von staatlich organisierten (Linke, BSW) über gemeinwohlorientierte (SPD, Grüne) bis zu marktwirtschaftlichen Ansätzen (FDP, CDU/CSU).