Das Machtsystem Steinmeier

Es war die vielleicht wichtigste Szene in der Amtszeit von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Schwarzer Anzug, ernster Blick. Eine knappe Ansprache, nur zwei Minuten. „Ich erwarte von allen Gesprächsbereitschaft, um eine Regierungsbildung in absehbarer Zeit zu ermöglichen“, sagte er . Es war der 20. November 2017. Die Jamaika-Verhandlungen waren gerade gescheitert. Merkel wollte auf keinen Fall eine Minderheitsregierung führen, die SPD nicht mehr Merkels Mehrheitsbeschaffer sein. Also Neuwahlen.

Vier Tage später, nach einem Gespräch mit Steinmeier, fiel SPD-Chef Martin Schulz um: „In einem dramatischen Appell hat der Bundespräsident die Parteien zu Gesprächen aufgerufen. Dem werden wir uns nicht verweigern“, twitterte er. Das Nein der SPD zur Groko schmolz dahin.

Als Parteipolitiker war Steinmeier die Verkörperung der Großen Koalition, in der er zweimal Außenminister war. Hatte er nun als Bundespräsident Fraktionen und Parteien zu etwas gedrängt, was sie eigentlich gar nicht wollten?

Steinmeier hätte defensiver auftreten können. Aber Macher der Großen Koalition war er nicht. Sie kam zustande, weil der Wille von Union und SPD, Neuwahlen zu riskieren, zu schwach war. Manche nutzten, wie SPD-Chef Schulz, Steinmeiers entschiedenen Auftritt, um ihren Gesinnungswandel argumentativ aufzupolieren. Entscheidend war der nicht.

Diese direkte politische Intervention war eine Ausnahme in Steinmeiers Wirken als Staatsoberhaupt. Der Bundespräsident ist gemäß Grundgesetz eine machtpolitisch schwache Figur: Er verkörpert und repräsentiert laut Bundesverfassungsgericht „die Einheit des Staates“ und wirkt „geistig-moralisch“. Seine Macht ist die Macht des Wortes.

Der fehlende Alphatier-Habitus ist heute ein Vorteil

Mindestens verblüffend fanden manche Hauptstadtjournalisten das Thema, das Steinmeier für seine Zeit als Bundespräsident wählte: Demokratie. Steinmeier plus Demokratie, das klang nach Landeszentrale für politische Bildung. Dabei verlangt das Amt, jenseits von Ausnahmefällen wie im November 2017, doch nach rednerischem Glanz, nach Sätzen wie: „Der Islam gehört zu Deutschland.“ Oder: „Durch Deutschland muss ein Ruck gehen.“ Ist Demokratie als Thema nicht per se auf Konsens geeicht und damit unbrauchbar für nötige Zuspitzungen?

Das war ein Irrtum. Steinmeier hat das richtige Thema gewählt. „Eine neue Faszination des Autoritären ist auch in westliche Gesellschaften tief eingedrungen“, sagte er im August 2019. Er arbeitet auf zwei Ebenen am Projekt Demokratie: mit Dialog und Symbolen. Seit zweieinhalb Jahren tourt er durch die Republik, besucht Duisburg-Marxloh, Halle-Neustadt und die Südpfalz, redet mit der Freiwilligen Feuerwehr, Flüchtlingshilfe, Sportclubs. Er fährt gezielt in Gegenden, in denen Handyempfang so selten ist wie der Bus in die nächste Stadt.

Der Kontakt mit den Bürgern gelingt ihm recht leichthändig, weil er trotz der schwarzen Limousinen und Bodyguards wenig Ehrfurchteinflössendes an sich hat. Er ist ein Mann der Mitte, nicht nur politisch. Wäre er Schauspieler, man könnte ihn als Sparkassendirektor für die Vorabendserie casten. Wenn er den Raum betritt, richten sich nicht automatisch alle Blicke auf ihn. Er hat keinen Alphatier-Habitus, und auch die bei Spitzenpolitikern häufig anzutreffende Eitelkeit ist nur schwach ausgeprägt.

Als Kanzlerkandidat war der Mangel an Ausstrahlung und Präsenz eine Schwäche: Die glaubhafte Aggression in Richtung politischer Gegner gelang ihm selten. Als Bürgerpräsident, der er sein will, kommt ihm gerade das Unauffällige, Sachliche, der Anschein des Harmlosen zugute. Es ist kein Zufall, dass Steinmeier, anders als Joachim Gauck, nicht zum Hassobjekt von Rechtsoppositionellen wurde. Steinmeier meidet pauschalisierende Begriffe wie „Dunkeldeutschland“. Dieses Wort hatte sein Vorgänger Gauck 2015 benutzt, um vor Fremdenfeindlichkeit zu warnen. Das Problem: Der Begriff meinte Ostdeutschland in toto.

Seine Besuche bei Betroffenen sind stets dezent in Szene gesetzt

Zudem setzt Steinmeier in Sachen Demokratie Symbole gegen rechtsextreme Angriffe und für eine faire, multiethnische Gesellschaft. Er lud den Fußballer Mesut Özil ins Schloss Bellevue ein, der klagte, wenn er gewinne, sei er Deutscher, wenn er verliere, Türke. Steinmeier betonte, es gebe „keine halben oder ganzen, kein Bio- oder Passdeutschen“, sondern nur Bürger. Er traf die Frankfurter Anwältin Seda Başay-Yıldız, die von Rechtsextremen bedroht wurde, und besuchte die Witwe des CDU-Politikers Walter Lübcke, der im Juni vermutlich von einem Rechtsterroristen ermordet wurde, weil er Merkels Flüchtlingspolitik verteidigt hatte. Schon bevor der Tatverdächtige gefasst wurde, Zeitungen noch über eine Beziehungstat spekulierten und die Politik den Fall zurückhaltend behandelte, geißelte Steinmeier die „Hasskampagnen“ von Rechtsextremen, die Lübckes Tod im Netz bejubelt hatten.

Die Besuche bei Betroffenen sind stets dezent in Szenegesetzt. Die Öffentlichkeit erfährt davon, aber die Gespräche finden ohne TV-Kameras und Journalisten statt. Das ist die Doppelstrategie des Bundespräsidialamts in Sachen gefährdeter Demokratie: geduldiges Zuhören und Aufmerksamkeit für die Provinz (in der mehr als die Hälfte der Deutschen leben) und klare, konkret adressierte Grenzmarkierungen gegen rechte Demokratieverachtung.

Steinmeier ist kein mitreißender Rhetoriker. Aber er hat sich, im Vergleich zu seinem Job als Außenminister, eine klarere Sprache angeeignet. Man konnte das bei seiner Vereidigung im März 2017 im Bundestag erkennen. Zum Redemanuskript hatte er einen Satz mit Bleistift hinzugefügt: „Geben Sie Deniz Yücel frei.“ Tosender Applaus. Dem Außenminister wäre ein derart plakativer Satz kaum über die Lippen gekommen.
 

Hier der Mann des Apparats, dort der in sich ruhende Republikaner

Steinmeiers Karriere hat im Rückblick etwas Verblüffendes: die Verwandlung des unsichtbaren Akteurs im Hintergrund, des Büroleiters von Gerhard Schröder in einen Spitzenpolitiker, Kanzlerkandidaten, Fraktionschef, einflussreichen Außenpolitiker und Bundespräsidenten. Vielleicht hat niemand den Weg der SPD seit 2005 so geprägt wie Steinmeier, der ja auch Architekt der für die SPD unseligen Agenda 2010 war. Sein Wahldebakel 2009 zeichnete vor, was der SPD als Merkels Juniorpartner blühen würde. Doch Steinmeier blieb als Fraktionschef nach 2009 eisern beim Mitte-Kurs, stützte 2013 die Absage an ein Linksbündnis und befürwortete die zweite Groko. Der dritten assistierte er 2017 als Bundespräsident.

Das Bild von Steinmeier existiert wie auf einer Doppelbelichtung: Hier der Mann des Apparats, der, nachdem seine Karriere im Rampenlicht 2005 in Gang kam, kühl den eigenen Vorteil sucht. 2009 sicherte er sich nach seiner Wahlniederlage handstreichartig den Job des Fraktionschefs. 2016, als absehbar war, dass die Große Koalition enden würde und damit sein Job als Außenminister, fasste er weitsichtig das Amt als Bundespräsident ins Auge. Und dort, auf dem anderen Bild, sieht man einen aufgeschlossenen, klugen Republikaner, in sich ruhend, mit dem richtigen Gespür für die Krise der Demokratie.

Achtmal lud Steinmeier Intellektuelle nach Bellevue ein. Geist und Macht – das ist eine heikle Inszenierung, mal zu weihevoll und oft eine durchsichtige gegenseitige symbolische Aufwertung. Bei den Bellevue-Debatten gab Steinmeier jedoch den Moderator, begab sich ins diskursive Getümmel. Ein Zeichen, dass das royale Erbe des Amts des Bundespräsidenten verblasst – was kein Schaden ist.

Das System Steinmeier

Wer sind die Weggefährten, engen Vertrauten und neuen Verbündeten?
 


Foto: Jens Müller

Anna Engelke 

Seit 2017 ist Anna Engelke (50) Steinmeiers Frau an der Pressefront. Sie hat eine beachtliche und vor allem inhaltlich breite journalistische Karriere hinter sich. Sie begann in den 90er Jahren als Lokaljournalistin bei der „Westfalenpost“ im Sauerland und wechselte rasch zum Hörfunk. 1997 wurde sie Redakteurin des NDR im Parlamentsbüro in Bonn, später in Berlin. Sie berichtete über Parteien, lange über Verteidigungspolitik, später über Außenpolitik, ab 2007 aus Washington. 2015 war sie Pressesprecherin der ARD beim NDR. 2016 leitete sie das ARD-Hauptstadtstudio des NDR-Hörfunks in Berlin. Engelke, verheiratet mit dem Journalisten Jörg Thadeusz, ist Nachfolgerin von Ferdos Forudastan, die für Gauck als Pressesprecherin arbeitete und inzwischen bei der „Süddeutschen Zeitung“ das Ressort Innenpolitik leitet. Ein Grund, warum Steinmeier Engelke aussuchte: die Vielzahl ihrer Jobs. Dabei gibt es auch Trennendes zwischen der Pressesprecherin und ihrem Chef: Die gebürtige Dortmunderin ist naheliegenderweise BVB-Fan, Steinmeier hingegen neigt Schalke 04 zu.


Foto: Dpa

Stephan Steinlein

Keiner ist professionell länger in Steinmeiers Nähe. Und keiner so einflussreich. 1999 wurde der studierte Theologe aus Ostberlin Pressereferent von Kanzleramtschef Steinmeier – ein Name, den damals nur Insider kannten. Steinlein (58) war vor der Wende Doktorand bei dem Theologen und Bürgerrechtsaktivisten Wolfgang Ullmann gewesen.Er stammt aus einer SED-kritischen protestantischen Familie. Die DDR erschien ihm, so gab er zu Protokoll, als „Land, wo jeder Polizist und jeder Lehrer ein potenzieller Feind ist“. Im Umbruch 1990 war er sogar für ein paar Wochen letzter Botschafter der DDR in Frankreich. Seit 1999 ist er Steinmeiers „Mach mal“, selten im Vordergrund zu sehen, im Hintergrund bei allen wesentlichen Entscheidungen eingeweiht – von der Agenda bis zur Kanzlerkandidatur. Er folgte Steinmeier ins Außenministerium, war Büroleiter des Fraktionschefs, dann wieder Staatssekretär im Auswärtigen Amt. Habituell ähnelt der Staatssekretär seinem Chef: Er ist verbindlich, kein Lautsprecher, eher nachdenklich als forsch. Seit 2017 ist er Chef des Bundespräsidialamts. In der gleichen Rolle wie immer: als Schlüsselfigur.


Foto: privat

Wolfgang Silbermann

Er hat in Harvard und Oxford studiert und schreibt schon seit längerem Reden für Steinmeier. Mit 21 Jahren wurde Wolfgang Silbermann (31) dessen Persönlicher Referent, unterstützte seinen Wahlkampf 2009, später den Chef der SPD-Bundestagsfraktion.
2013 bis 2017 war er zentral verantwortlich für die Reden des Außenministers. Das Gleiche macht er nun im Bundespräsidialamt: als Leiter des Referats Strategische Kommunikation/Reden. Ein Job, der nicht zu unterschätzen ist: Der Bundespräsident hat qua Verfassung wenig direkten Einfluss, sein Metier ist die Rede. 


Foto: Steffen Kugler

Elke Büdenbender

Büdenbender (57) ist seit 1995 mit Steinmeier verheiratet. Die Sozialrichterin am Verwaltungsgericht Berlin war lange im Hintergrund. 2009, als Steinmeier Kanzlerkandidat war, rückte sie ins Rampenlicht – eher gezwungenermaßen als fröhlich. Der Öffentlichkeit bekannt
wurde sie, als ihr Mann ihr 2010 eine Niere spendete. Als First Lady spielt sie vor allem bei den Touren durch Deutschland und den Kontakten mit Bürgern eine wesentliche Rolle. Der „Bunten“ sagte sie: „Ich habe mir gut überlegt, ob ich für diese fünf Jahre aus meinem
Beruf aussteige. Heute weiß ich, dass es richtig war, denn die Aufgabe ist extrem spannend, und ich empfinde es als großes Privileg, noch einmal etwas anderes zu machen und danach wieder in mein Richteramt zurückkehren zu dürfen.“ Das klingt nicht nach zweiter Amtszeit.


Foto: Gregor Fischer

Oliver Schmolke

Er ist der Mann im Hintergrund: zurückhaltend, gescheit – wie gemacht für den Job. Der promovierte Politikwissenschaftler begann seine Karriere als Redenschreiber für Manfred Stolpe und Matthias Platzeck (beide SPD), wurde Grundsatzreferent im Verkehrsministerium, später im Willy-Brandt-Haus. 2008, in der Finanzkrise, arbeitete Schmolke (49) am SPD-Konjunkturprogramm mit. Von 2009 bis 2013 war er Leiter der Planungsgruppe der SPD-Fraktion – für Fraktionschef Steinmeier. Danach wechselte er in die Planungsabteilung des Wirtschaftsministeriums zu Sigmar Gabriel – zu dessen impulsivem Stil der besonnene, reflektierte Schmolke nicht so gut passte. 2013 verfasste er das linksliberale Manifest „Zur Freiheit“, in dem er der SPD die Rückbesinnung auf sozialliberale Werte empfahl. Ein Kopf, der zuständig ist für Zwischentöne.


Foto: Heinrich August Winkler, CC BY-SA 2.0, httpscommons.wikimedia.orgwindex.phpcurid=36383804

Heinrich August Winkler

Winkler (80), SPD-Mitglied seit 1962, ist der Historiker der Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik. „Der lange Weg nach Westen“ zeichnet die schwierige deutsche Geschichte nach, die glücklich in der Westbindung der Bundesrepublik endet. Der konservative
Sozialdemokrat ist zwar nicht der Haushistoriker der SPD, aber Steinmeier schätzt ihn als Ratgeber und geistigen Leuchtturm. 2018 verlieh er Winkler den Großen Verdienstorden der Bundesrepublik und sagte, er sei als Außenminister „gerne sein Schüler“ gewesen.

 


Foto: Dpa

Thomas Bagger

Der 53-Jährige leitet derzeit die außenpolitische Abteilung im Bundespräsidialamt. Der Karrierediplomat war schon in den 90er Jahren Redenschreiber für den damaligen Außenminister Klaus Kinkel, später auch für dessen Nachfolger Joschka Fischer. Zudem arbeitete er als Referent bei den deutschen Botschaften in Prag und Ankara und als Gesandter in Washington. Von 2009 bis 2011 leitete er das Büro von Außenminister Guido Westerwelle, danach den Planungsstab im Auswärtigen Amt. Nach 2013 verantwortete er teinmeiers zentrales Projekt als Außenminister: „Review 2014“, die grundlegende Neuorganisation des Auswärtigen Amts.


Foto: Steffen Kugler

Dörte Dinger

Die Politikwissenschaftlerin ist Steinmeiers Bürochefin im Bundespräsidialamt. Dinger (38) hat in Marburg und Bologna Soziologie und Geschichte studiert und über die deutsch-italienischen Beziehungen promoviert. In Marburg engagierte sie sich lange bei den Jusos. Von 2011 bis 2013 arbeitete sie als Steinmeiers Referentin, als dieser Fraktionsvorsitzender der SPD war. Auch während seiner zweiten Amtszeit als Bundesminister des Auswärtigen war sie nah bei ihrem Chef: Im Auswärtigen Amt leitete sie das Parlaments- und Kabinettsreferat.

 

 

 

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 128 – Thema: Wandel. Das Heft können Sie hier bestellen.