Das Machtsystem Scholz

Politik

Am 30. November, an einem Sonnabend zur besten Sportschau-Zeit, scheint die Ära Olaf Scholz vorbei zu sein. Versteinert der Blick, als der Finanzminister seine bitterste Niederlage akzeptieren muss. 53 Prozent für Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans, nur 45 Prozent für Scholz und Klara Geywitz in der Stichwahl um die SPD-Doppelspitze. Scholz ringt sich ein paar Worte ab, dann verschwindet er von der Bühne im Willy-Brandt-Haus. Fortan schleicht der Vizekanzler wie eine lame duck über die Regierungsflure.

Er, der sich für einen „truly Sozialdemokraten“ und den Besten in der SPD hält, konnte sich die Kanzlerkandidatur abschminken. Er, der Herrscher über den Bundeshaushalt, zweifacher Wahlsieger von Hamburg, gedemütigt von einem jovialen Landesfinanzminister im (Un-)Ruhestand und einer schwäbischen Hinterbänklerin aus der Bundestagsfraktion. „Isch over“, sagten selbst loyale Scholz-Fans. Vier Monate später ist aus dem Opfertier wieder ein finanzpolitischer Adler geworden. Er kreist über der von Corona heimgesuchten größten Volkswirtschaft Europas, erkennt mit scharfem Blick, wo die Milliarden- bis Billionenhilfen des Bundes am dringendsten gebraucht werden. Scholz is back und sogar Kanzlerkandidat.

Die Unbeholfenheit der neuen SPD-Chefs hilft ihm

Sein Wiederaufstieg vollzieht sich in Etappen. Zugute kommt ihm die Unbeholfenheit seiner Bezwinger. Walter-Borjans und Esken gelingt es zwar mit maßgeblicher Hilfe von Juso-Chef Kevin Kühnert, Scholz im Mitgliederentscheid als Mann von gestern, als verbrauchtes Gesicht des SPD- und GroKo-Establishments darzustellen – was er gemessen an seiner langen Vorstandszeit und Mitverantwortung für den Niedergang nach 1998 zweifelsfrei auch ist. „Eskabo“, so der Kampfname der neuen Doppelspitze, wissen mit ihrem gar nicht so überraschenden Sieg in der Folge wenig anzufangen. Sie stolpern ins Amt. Es dauert nicht lange, da sind die links angehauchten No-GroKo-Revoluzzer auf Normalmaß geschrumpft. Der Leitantrag für den Dezember-Parteitag liest sich in weiten Teilen so, als ob ihn Scholz während einer seiner Jogging-Runden entlang der Havel selbst diktiert hat. Die Revolution wird abgeblasen. Bundestagsfraktion, Minister und Ministerpräsidenten haben Eskabo verklickert, dass die GroKo weitergeführt wird. Scholz wittert Morgenluft.

„Er lässt sich nicht lenken, er lenkt“

Der 62-Jährige arbeitet stoisch im Ministerium an der Wilhelmstraße. Sein Büro wirkt auf Besucher wie der Hausherr selbst. Kühl, strukturiert, mit einem Hauch Eleganz. Als er während der Finanz- und Bankenkrise Arbeitsminister war, stand sein Schreibtisch im einstigen Nazi-Propagandaministerium. Als Vizekanzler und Finanzminister residiert er im ehemaligen Reichsluftfahrtministerium. Damals wie heute hat er im Allerheiligsten Fotos des deutschen Pavillons für die Weltausstellung 1958 aufgehängt. Sie zeigen – ein von Egon Eiermann und Sep Ruf entworfenes – modernes, selbstbewusstes, zugleich unprätentiöses Gebäude, mit dem die Bundesrepublik sich nach der Nazizeit das erste Mal international präsentierte. Wäre Olaf Scholz ein Gebäude, es wäre hier auf diesen Schwarz-Weiß-Aufnahmen kontrastreich zu sehen.

Scholz ist kein einfacher Chef. Er ist enorm fordernd. Selbstzweifel sind ihm fremd. Hat er eine Idee, müssen Abteilungen springen. Ein Riesenhaus wie das BMF, zumal nach acht Schäuble-Jahren schwarz geprägt, zeigt da gewöhnlich Widerstandskräfte. Scholz hat mit seinem Team erstaunlich schnell Zugriff auf den Apparat erlangt. Er wird nicht geliebt, aber geachtet. „Er lässt sich nicht lenken, er lenkt“, sagt einer seiner Vertrauten.  

Dann wählt Hamburg. In seiner Heimat war Scholz lange ein erfolgreicher Bürgermeister. Die Wahl läutet die nächste Phase des Wiederaufbaus seiner Karriere nach der scheinbar ruinös gescheiterten Bewerbung um den Parteivorsitz ein. Scholz‘ Nachfolger im Bürgermeisteramt, Peter Tschentscher, spielt die anfangs grüne Herausforderin Katharina Fegebank an die Wand – und die Stärken der von Scholz geprägten Hamburger SPD brutal gut aus. „Die ganze Stadt im Blick“, lautet der Slogan (Agentur Richel/Stauss, die sich in Hamburg für die verkorkste SPD-Europawahl-Kampagne rehabilitiert). Pragmatisch, wirtschaftsorientiert. Tschentscher stellt lieber mehr Müllmänner ein als Sozialismus à la Kühnert oder Esken zu predigen. Auf Wahlkampfhilfe der SPD-Spitze verzichtet er demonstrativ. Scholz‘ früherer Finanzsenator gewinnt die Wahl haushoch. Im Endspurt hilft ihm noch das Staatsversagen von CDU und FDP in Thüringen.

Der Finanzminister selbst weilt bei einem G20-Meeting in Saudi-Arabien. Er schwänzt zwei Sitzungen, jettet zurück, um bei der Wahlparty in Hamburg zu sein. Der 61-Jährige ist aufgekratzt. Genossen in der Markthalle am Klosterwall rufen „Olaf, Olaf“. Mit der endgültigen Einigung zur Grundrente und der angekündigten Entschuldung von 2500 Kommunen auf Kosten des Bundes punktet er in der Partei. Die kommt ein bisschen zur Ruhe und stabilisiert sich im 15-Prozent-Keller. Nun ist die CDU vom Selbstzerstörungsvirus befallen. Ein anderes Virus, Covid-19, landläufig Corona genannt, katapultiert Scholz fast über Nacht in die Rolle, die ihm am meisten behagt. Große Entscheidungen, viel Gestaltungsmacht, viel Geld, potentiell viel Anerkennung.

Während die Kanzlerin im Krisenmanagement schwer in die Gänge kommt, ist er sofort auf dem Platz. Zusammen mit Wirtschaftsminister Peter Altmaier präsentiert er Schutzschilde für bedrohte Unternehmen und Arbeitsplätze. Mit unbegrenzter Feuerkraft, also Kreditbürgschaften und notfalls Eigenkapitalspitzen ohne Limit. „Wir legen alle Waffen auf den Tisch. Das ist die Bazooka“, so spricht Scholz. Später präsentiert er das 130-Milliarden-Konjunkturpaket: „Wir wollen mit Wumms aus der Krise kommen.“ Man traut seinen Ohren kaum. Ist das der Scholzomat, der dröge Parteisoldat, der Schröders Hartz-IV-Reformen bis aufs Blut verteidigte? Scholz in der Rolle von Mario Draghi. „Super Olaf“ gegen Corona. Whatever it takes.

Mutet er Haushalt, Steuerzahlern und sich selbst zu viel zu?

Schon einmal hat er sich gewaltig verschätzt. Beim G20-Gipfel 2017 in Hamburg. Scholz verspricht damals eine Stimmung wie beim Hafengeburtstag. Nach Krawallnächten brennt das Schanzenviertel, Polizisten rennen um ihr Leben. Besserwisser Scholz ist blamiert. Er habe daraus gelernt, so sein Umfeld. „Er ist älter geworden, reifer, wägt noch mehr ab.“ Im Kampf gegen die dramatischen Corona-Folgen bleibt ihm dafür keine Zeit. Am Montag beschließt das Kabinett einen Nachtragshaushalt für 2020 mit einer gigantischen Neuverschuldung von gut 150 Milliarden Euro. Dazu kommen Hunderte Milliarden an Garantien. Scholz geht aufs Ganze.

Die Kanzlerin lässt ihn machen. Sie vertrauen sich seit der Bankenkrise. Mit dem Kurzarbeitergeld rettete der Arbeitsminister Scholz Hunderttausende Jobs. Gelingt ihm das im BMF bei Corona noch einmal? Jetzt zahle sich aus, dass die SPD der Union das Schlüsselressort genommen habe. Dass Scholz nach dem 13-Milliarden-Überschuss bei Steuersenkungen so „bärbeißig“ gewesen sei, heißt es. Als „rote Null“, als „Olaf Schäuble“ war er wegen seiner Knausrigkeit von eigenen Leuten verspottet worden. Jetzt versammelt sich die SPD hinter ihrem Vizekanzler. Er will mit der Bundes-Bazooka in der Faust den drohenden Corona-Untergang der deutschen Wirtschaft stoppen.

Anfang Juli ist es dann soweit. Die Entscheidung in der Kanzlerkandidatur fällt zu seinen Gunsten aus. Beim Franzosen „Le Bon Mori“ gegenüber des Willy-Brandt-Hauses wird der 10. August als D-Day festgelegt. Alle halten dicht. Die SPD schafft das Unmögliche. Keine Sturzgeburt in der K-Frage! Die Union ist überrascht. Für Scholz ist es eine späte Genugtuung. Esken und Borjans, die selbst auf eine Kandidatur verzichtet haben, schlagen ihn vor. Minutenlang preisen sie Scholz und die neue Geschlossenheit der SPD. Dabei wollten sie ihn und die GroKo vor einem Dreivierteljahr noch in die Wüste schicken. Am Tag danach sichert ein genervt wirkender Kevin Kühnert Unterstützung für die Kampagne zu – nicht ohne hervorzuheben, dass es keine absolute Beinfreiheit für den Kandidaten geben werde. Kein Zufall ist, dass die Parteiführung unmittelbar vor der Auflösung der K-Frage hinausposaunt, ein Linksbündnis sei Ziel der SPD, notfalls unter Führung der Grünen.

Wie weit wird Scholz sich verbiegen, um dem linken Spitzentrio Esken, Borjans und Kühnert zu gefallen? Oder dreht er in den 15 Monaten bis zur Wahl den Spieß einfach um? Scholz ist erfahrener als die drei zusammen. „Ich freue mich über die Nominierung – und ich will gewinnen“, sagt er. Vermessen? Ja. Aber niemand weiß, wie die politische Landschaft nach Corona und ohne Merkel aussieht. Höchstens Scholz. Auf die Frage, wie lange Deutschland der Krise widerstehen könne, antwortet er: „Martialische Bilder sind ja gerade en vogue. Unsere Durchhaltefähigkeit ist groß, wie Militärs sagen würden.“ Für ihn selbst gilt das auch. 2021, wenn die Kanzlerin abdankt, will Olaf Scholz der neue Merkel werden.

Das System Scholz

Foto: Bundesministerium der Finanzen/Photothek/Thomas Koehler

Werner Gatzer

Der beamtete Staatssekretär und Vater von vier erwachsenen Kindern frönt zwei Hobbys: dem FC Köln und dem Bundeshaushalt. Seit 15 Jahren jongliert er mit den ganz großen Zahlen. Niemand kennt die Finanzen des Bundes besser als der 61 Jahre alte SPD-Mann. Peer Steinbrück hörte auf ihn, Wolfgang Schäuble konnte nicht auf ihn verzichten, Scholz holte ihn zurück. Gatzer glaubte frei nach Loriot, ein Leben außerhalb des BMF sei möglich. Nach nur zwei Monaten als Vorstandschef einer Bahntochter merkte er, dass es sinnlos ist. In der Corona-Krise erlebt der Architekt der schwarzen Null, wie sich die seit 2014 getragene weiße Schuldenweste binnen weniger Tage in einen 218 Milliarden Euro schweren Schuldenkittel verwandelte. Wenn einer die Jahrhundertaufgabe Corona fiskalpolitisch meistert, dann der blitzgescheite und joviale Rheinländer.

 

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Britta Ernst

Mit der Brandenburger Bildungsministerin ist Scholz seit 1998 verheiratet. Zuhause nahe der Havel in Potsdam (oder wahlweise im Stammsitz in Hamburg-Altona) bilden sie ein mächtiges Küchenkabinett. Man sieht sie oft zusammen auf dem Rad, in der Sommerpause spannte das Paar in einem alten Leuchtturm an der Nordseeküste aus – ein Geschenk von Ernst zum 60. Geburtstag des Vizekanzlers. Sie war schon für Bildung in Schleswig-Holstein zuständig, seit 2017 agiert sie in selber Funktion bei Dietmar Woidke. Als Scholz eine Frau für die SPD-Bewerbung suchte, entschied sich das Ehepaar für die befreundete Brandenburger Ex-SPD-Generalsekretärin Klara Geywitz, deren Partner der Kommunikationsprofi Ulrich Deupmann ist. Geywitz verstärkte eher die spröden Seiten des Finanzministers, statt frischen Wind in die Kampagne zu bringen.

 

Foto: Bundesministerium der Finanzen/Photothek/Thomas Koehler

Rolf Bösinger

Bevor ihn Scholz als Staatssekretär mit nach Berlin nahm, war der im Schwarzwald geborene Ökonom und Mathematiker Wirtschafts-Staatsrat in Hamburg. Als Scholz 2002 bis 2004 SPD-Generalsekretär war, hielt im Bösinger im Willy-Brandt-Haus den Rücken frei. Er promovierte zum Bund-Länder-Finanzausgleich, ein Thema, bei dem Scholz glänzende Augen bekommt. Zuletzt bohrte Bösinger (54) beharrlich bei der Grundsteuer-Reform dicke Bretter. Eine Altschuldenregelung für Kommunen, von Bösinger intensiv vorbereitet, konnte Scholz bei der Union nicht durchdrücken.

 

Foto: Bundesministerium der Finanzen/Photothek/Thomas Koehler

Wolfgang Schmidt

Niemand (von der Gattin abgesehen) steht Scholz so nahe wie der glühende Fan der Kiezkicker aus St.Pauli. Seit 18 Jahren bilden sie eine politische Einheit. Der 49-Jährige ist das Mastermind im Vizekanzleramt. Schmidt kann zu jeder Tages- und Nachtzeit die Vorzüge seines Chefs und Idols aufsagen. Verheiratet mit einer Mexikanerin, spricht er fließend Spanisch. Schmidt ist seit Juso-Zeiten weltweit vernetzt. Das hilft ihm in G7- und G20-Runden. Als Hamburger Staatsrat für den Bund bereitete er in Berlin unermüdlich den Boden für Scholz – und holte die „Sterne“ oder Thees Uhlmann zum Abrocken in den Keller der Senatsdependance. Bei der SPD-Castingshow twitterte sich Schmidt vergeblich die Finger wund. Selten sah man den immer gut aufgelegten Bartträger so niedergeschlagen. Ein Schmidt gibt nie auf. Er glaubt unverdrossen an das Projekt „Olaf 21“ und das Kanzleramt.

 

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Steffen Hebestreit

Der baumlange Ex-Journalist ist Sprecher des Finanzministers. Das kann Karrieresprungbrett oder Endstation sein. Torsten Albig katapultierte der unter Peer Steinbrück brillant ausgeübte Job zum Ministerpräsidenten in Kiel. Schäuble wiederum stellte seinen damaligen Sprecher Michael Offer vor aller Augen in den Senkel, weil der Pressemappen zu spät verteilte. Hebestreit war mal Sprecher der glücklosen SPD-Generalsekretärin Yasmin Fahimi. Dann wechselte er in die Hamburger Landesvertretung. Den 47-Jährigen verbindet mit Scholz schnelles Denken und gemeinsamer Humor.

 

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Jeanette Schwamberger

Sie leitet das Ministerbüro und ist damit so nah am Vizekanzler wie nur wenige. Schwamberger (47) bringt einen großen Vorteil mit. Als Ökonomin ist sie vom Fach. In der Finanzkrise wurde sie als Sprecherin des Ministeriums von der Hauptstadtpresse gegrillt. Das härtet ab. Zwischendurch hatte sie die Ehre, mit einem anderen großen Hamburger zusammenzuarbeiten. Sie leitete das Berliner Büro von Altkanzler Helmut Schmidt.

 

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Benjamin Mikfeld

Der Soziologe wurde im „Pott“ sozialisiert, sein Herz schlägt neben der Sozialdemokratie für den VfL Bochum. Als Leiter des Planungsstabs füttert Mikfeld Scholz mit Visionen, Ideen und Strategien. Der Ex-Juso-Chef ist ein Vertrauter von Andrea Nahles. In deren Zeit als Arbeitsministerin verfasste er im BMAS viel beachtete Analysen zur Arbeitswelt der Zukunft. Mikfeld war wichtiger Brückenkopf zwischen Nahles und Scholz. Mit dem Wechsel ins BMF zum Start der erneuten großen Koalition setzte der 47-Jährige auf das richtige Pferd.

 

Foto: Bundesministerium der Finanzen/Photothek

Jörg Kukies

Würde man Müntefering-Maßstäbe an diesen Mann anlegen, wäre er eine „rote Heuschrecke“ in Staatsdiensten. Kukies arbeitete 17 Jahre bei der weltgrößten Investmentbank Goldman Sachs, zuletzt als Co-Chef des Deutschland-Geschäfts. Goldman gilt für viele als Sinnbild der gierigen Wall Street, die das weltweite Finanzsystem beinahe ruiniert hätte. Als Scholz ihn als Staatssekretär für Europa und Finanzmarkt ins Haus holte, bekamen einige Genossen Schnappatmung. Die Aufregung legte sich rasch. Der bodenständige Vater einer kleinen Tochter, SPD-Mitglied, Juso-Kumpel von Nahles, weiß alles über die Tricks und Kniffe der Banken. Kukies (52) entwarf zusammen mit Gatzer das „Wumms“-Konjunkturpaket, jetzt muss er schnell eine zupackende Bankenaufsicht entwerfen, denn der Wirecard-Bilanzskandal dürfte die Kanzlerkandidatur von Scholz noch länger begleiten.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 130 – Thema: Stresstest. Das Heft können Sie hier bestellen.