Das Machtsystem Giffey

Politik

Als Franziska Giffey am Abend des 8. März aus dem Büro von Andrea Nahles kommt, wird sie von zwei Pförtnern angesprochen. Ob es stimme, dass sie jetzt Ministerin werde, fragt einer der Männer. Giffey ist überrascht, weiß nicht, was sie sagen soll. Noch vor wenigen Tagen hätte sie keinen Gedanken an einen so rasanten Aufstieg verschwendet. Doch gerade kam tatsächlich das Angebot der SPD-Chefin. „Sieht wohl so aus“, antwortet sie freundlich. Die Pförtner gratulieren. „Ick bin aus Weißensee, mein Kollege aus Brandenburg, und endlich ist ooch wieder eene von uns dabei“, sagt einer von ihnen und bittet Giffey, die aus dem Umland von Frankfurt an der Oder kommt: „Verjessen Sie uns nicht!“

Knapp neun Monate später scheint es so, als hätte die Bundesfamilienministerin noch immer diese Pförtner im Hinterkopf, wenn sie eine Rede im Bundestag hält, ein Interview gibt oder ihr neues „Starke-Familien-Gesetz“ verhandelt. Eigentlich trägt dieses zweite große Vorhaben nach dem „Gute-Kita-Gesetz“ den Namen: „Gesetz zur zielgenauen Stärkung von Familien und ihren Kindern durch die Neugestaltung des Kinderzuschlags und die Verbesserung der Leistungen für Bildung und Teilhabe“. Die 40-Jährige weiß, dass sie mit solchen Begriffsmonstern niemanden erreichen, geschweige denn überzeugen kann. Giffey spricht eine klare, einfache Sprache. Es ist einer ihrer Grundsätze, nach denen sie Politik macht und nach denen sie seit Jahren Behörden führt – erst das Rathaus von Berlin-Neukölln, jetzt eben das Ministerium.

Buschkowskys Erbin

Verbindliche Botschaften sind Giffeys Erfolgsrezept. Ohne sie wäre die Frau mit dem warmen Lächeln und der hellen, weichen Stimme hoffnungslos untergegangen im rauen Neukölln. Nur drei Jahre war sie dort Bürgermeisterin, und doch prägte sie diesen Teil Berlins, der neben kriminellen Clans, Arbeitslosen und Gescheiterten immer mehr Hipster und Studenten beherbergt. Um gegen weggeworfenen Unrat in den Straßen vorzugehen, setzte sie Müllsheriffs ein. Problemschulen bekamen Wachleute ans Tor gestellt. Und wenn Eltern ihren Töchtern aus religiösen Gründen nicht erlaubten, am Schwimmunterricht teilzunehmen, ließ Giffey Bußgelder verhängen, bis es ein Einsehen gab. Die Bürgermeisterin muss überall sein, ein weiteres ihrer Prinzipien.

Dabei blieb der Schmelztiegel Neukölln – auch während Giffeys Amtszeit – lange untrennbar mit dem Namen Heinz Buschkowsky verbunden. Ihr legendärer Vorgänger tingelt immer wieder mit seiner These zur angeblich gescheiterten Multikulti-Gesellschaft durch Talkshows. Mittlerweile sehen viele Genossen bei ihm den Bogen überspannt. Doch Buschkowsky war es, der Giffeys Talent entdeckte. Will man ihr Machtsystem verstehen, darf ein Blick auf ihre Zeit mit Buschkowsky nicht fehlen. Er machte die Diplom-Verwaltungswirtin 2002 zur jüngsten Europabeauftragten des Bezirks, Giffey war da gerade 24 Jahre alt. Bis 2010 blieb sie im Amt, promovierte in der Zeit, heiratete und bekam einen Sohn. Fünf weitere Jahre war Giffey als Bezirksstadträtin zuständig für Bildung, Schule, Kultur und Sport. Buschkowsky und sie waren ein Team, seine Nachfolge war geregelt.

Als die Bundeskanzlerin eine Schule in Neukölln besuchte und die Bürgermeisterin kennenlernte, traf inmitten der Flüchtlingsdebatte „Wir schaffen das“ auf „Wer nichts will, kriegt auch nichts“ – ein Spruch, den Giffey bei einem Termin mit Kindern über einer Schultür gelesen hatte. Angela Merkel zeigte sich beeindruckt und lud Giffey im November 2015 ins Kanzleramt ein. Dort bekam Merkel die ungeschönte Wahrheit über den Alltag im Problemkiez zu hören. Sie forderte Hilfe des Bundes für die Unterbringung von Flüchtlingen, Merkel sprach noch an demselben Abend in einer Runde mit Ministerpräsidenten darüber. Dass sich die Kanzlerin und Giffey nur knapp drei Jahre später im Kanzleramt wiedersehen würden, mit Giffey als Merkels Ministerin, ahnte zu dem Zeitpunkt niemand.

Die einzigen ostdeutschen Frauen am Kabinettstisch sind sich in manchen Charakterzügen ähnlich: pragmatisch, mit trockenem Humor, stets auf Lösungen bedacht, mit einem Faible für einheitlichen Kleidungsstil. Hosenanzug­ bei Merkel, Kleid, Blazer und Hochsteckfrisur bei Giffey. Eine Uniform kann den stressigen Alltag erleichtern.

Weit mehr als 200 Termine absolvierte Giffey seit Amtsantritt, in den fünf Monaten besuchte sie alle Bundesländer. Von vielen dieser Besuche gibt es ein Foto auf ihrer Facebook-Seite, die sich wie ein akribisch geführtes Tagebuch liest – allerdings ohne Einblicke in ihr Privatleben. Die Beamten in ihrem Ministerium waren von den exzessiven Reiseplänen ihrer neuen Chefin alles andere als begeistert. Rausgehen, mit Menschen ins Gespräch kommen, das hat sie sich aus ihrer Zeit als Bürgermeisterin bewahrt. Nach dem tödlichen Übergriff und den rechtsextremen Ausschreitungen in Chemnitz war sie das erste Mitglied der Bundesregierung, das dorthin reiste. Giffey fragte nicht um Erlaubnis, sie kündigte es im Kabinett nur an.

Ihre Reden beginnt sie gern mit einem beschwingten „Guten Morgen“. Kommt nur ein Raunen zurück, ruft sie: „Ja, sagt mal, schlaft ihr alle noch?“. Eigentlich wollte Giffey Kinder unterrichten und hatte schon ein Lehramtsstudium in den Fächern Englisch und Französisch begonnen. Doch eine Kehlkopferkrankung machte ihr einen Strich durch die Rechnung.

Auf der Suche nach Konsens

Giffey ist es wichtig, Menschen in ihre Entscheidungen einzubinden. Im Ministerium herrschen strenge Hie­rarchien, an denen hält sie fest. Doch sie hört sich Einwände an, bevor sie sich ein Urteil bildet. Alle sollen das große, gemeinsame Ziel verstehen – auch wenn nicht alle Vorhaben dieselbe Aufmerksamkeit bekommen können. Giffey kannte die Auswirkungen bisheriger Familienpolitik aus Neukölln und musste intern klare Prioritäten nach ihren Wünschen setzen. Nach Einschätzung eines Insiders gelingt ihr das immer besser. Anfangs sei sie jedoch aufgrund mangelnder Erfahrung mit einem so großen Beamtenapparat Gefahr gelaufen, von den Abteilungen dirigiert zu werden.

Etwa zehn Mitarbeiter nahm Giffey aus Neukölln mit dorthin, darunter enge Vertraute wie den Leiter Leitungsstab Severin Fischer, den sie aus der Neuköllner SPD kennt. Doch mit Buschkowsky hat Giffey gebrochen. Immer wieder attackierte er sie vom Seitenaus. In einem Punkt hat er recht: Giffey hat keinen SPD-Stallgeruch. Erst 2007 trat sie in die Partei ein, da war sie 29. Bei den Jusos war sie nie aktiv, ihr fehlen die Seilschaften, die etwa Nahles meisterhaft zu nutzen weiß. Doch ob das in Zeiten großer Umbrüche in der Volkspartei wirklich ein Nachteil ist oder der Frau ohne Ballast nicht auch nutzen kann, wird sich noch zeigen. So oder so: Giffey haben jetzt alle in der SPD auf dem Zettel, auch wenn ihr bisher nur wenige das Amt der Parteichefin oder gar Kanzlerkandidatin zutrauen. Immerhin: Als Hoffnungsträgerin und Mutmacherin wird sie gesehen. Und wer weiß, vielleicht sogar eines Tages als Berlins Regierende Bürgermeisterin mit Juso-Chef Kevin Kühnert an der Spitze der Landes-SPD? So jedenfalls lauten wilde Spekulationen im Willy-Brandt-Haus – die jedoch nicht von den Pförtnern stammen.

 

Das System Giffey

Wer sind die Weggefährten, engen Vertrauten und neuen Verbündeten?

Foto: Christlicher Medienverbund KEP

Heinz Buschkowsky

Ihre politische Karriere verdankt Franziska Giffey zu einem großen Teil Heinz Buschkowsky. Mehr als 15 Jahre lang war er Bezirksbürgermeister von Berlin-Neukölln. Der streitbare SPD-Politiker entdeckte Giffey, förderte sie, baute sie als seine Nachfolgerin auf. Den heute 70-Jährigen bezeichnete Giffey mal als politisches Vorbild, wie sie ist er Verwaltungswirt. Buschkowsky lebte ihr vor, welche Wirkung Zuspitzung als Instrument entwickeln kann. Er polarisiert, auch Giffey tut das mitunter, etwa beim Thema Integration. Doch das einst vertraute Verhältnis der beiden besteht nicht mehr, sie haben keinen Kontakt. Aus Giffeys Umfeld heißt es, Buschkowsky sei verbittert. Buschkowsky wiederum warf Giffey jüngst im „Cicero“ „plumpen Etikettenschwindel“ vor. Sie sei ein „Pseudo-Ossi“ und darüber hinaus zu wenig links und zu normal, um in der Berliner SPD aufzusteigen und etwa Michael Müller als Regierende Bürgermeisterin zu beerben.

 

Foto: Jens Rötzsch/degewo/CC BY-SA 3.0 DE

Frank Bielka

Noch bevor Buschkowsky Neuköllns Geschicke in die Hand nahm, war Frank Bielka Chef im Bezirksrathaus. Der 71-Jährige gehört bis heute zu Giffeys engsten Beratern. Sie haben ein jahrelanges Vertrauensverhältnis. Bielka konnte der Nachwuchspolitikerin immer wieder mit seinem Erfahrungsschatz weiterhelfen, die Ministerin meldet sich regelmäßig bei ihm. Bielka ist Sozialdemokrat, er war Mitte bis Ende der achtziger Jahre Bezirksstadtrat für Jugend und Sport in Neukölln, stieg für zwei Jahre zum Bezirksbürgermeister auf und wechselte dann in die Landesregierung. Insgesamt zwölf Jahre lang diente er dort als Staatssekretär in unterschiedlichen Politikfeldern, unter anderem in der Senatsverwaltung für Finanzen. Der Betriebswirt entwickelte ein Konzept zur Konzentration städtischer Wohnungsbaugesellschaften und wechselte in die Branche.

 

Foto: Die Hoffotografen

Juliane Seifert

Dass Juliane Seifert einen Posten als beamtete Staatssekretärin im Familienministerium unter Franziska Giffey erhielt, werteten manche Vertraute als Wiedergutmachung. Schließlich warf die 40-Jährige im Oktober 2017 genervt ihr Amt als SPD-Bundesgeschäftsführerin hin, nachdem bekannt geworden war, dass der damalige SPD-Chef Martin Schulz die zu dem Zeitpunkt noch amtierende Juso-Chefin Johanna Uekermann zur Geschäftsführerin machen wollte. Die lehnte jedoch ab, das Desaster war perfekt. Doch Seiferts Berufung zur Staatssekretärin war mehr als ein Versorgungsakt. Seifert gilt als durchsetzungsstark und extrem gut vernetzt. Sie kennt die Bundes-SPD, obwohl sie das Amt nicht einmal zwei Jahre lang ausübte. Die Historikerin arbeitete zuvor als rechte Hand von SPD-Liebling Malu Dreyer und war für den fulminanten Wahlsieg der rheinland-pfälzischen Ministerpräsidentin mitverantwortlich. Seifert war es, die die heutige Bundesjustizministerin Katarina Barley einst als SPD-Generalsekretärin vorschlug. Ihr Bruder Benjamin Seifert ist Barleys Pressesprecher. Für Giffey ist Juliane Seifert eine der wichtigsten Verbindungen in die Netzwerke der Bundes-SPD. Aus dem Willy-Brandt-Haus heißt es, man könne Giffey noch nicht richtig einschätzen.

 

Foto: (1) Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2) privat

Ulla Fiebig und Andreas Audretsch

Die Juristin arbeitete jüngst noch als ARD-Korrespondentin in Berlin, seit Oktober ist sie neue Pressesprecherin von Franziska Giffey. Die 44-Jährige hat damit auch die Leitung der Pressestelle übernommen. Ulla Fiebig kann auf Unterstützung von Andreas Audretsch vertrauen. Der stellvertretende Pressesprecher arbeitete bereits in Neukölln mit Giffey zusammen. Da war er als Vorstandsmitglied der Berliner Grünen Teil einer sogenannten Zählgemeinschaft, die in Neukölln die Zusammenarbeit von SPD und Grünen für die Wahlperiode bis 2021 sichern sollte. Zuvor arbeitete Audretsch als Sprecher des Bundeswirtschaftsministeriums unter Sigmar Gabriel und war später zuständig für Grundsatzfragen der Kommunikation im Bundespräsidialamt.

 

Foto: Daniel Winkler

Severin Fischer

Als Leiter Leitungsstab im Familienministerium gehört Severin Fischer zum engsten Machtzirkel um Franziska Giffey. Die beiden kennen sich aus der SPD Neukölln. Fischer, 1983 geboren, übernahm im April den Kreisvorsitz von Giffey, nachdem sie Ministerin wurde. Er arbeitete zuvor in der Wissenschaft beim Center for Security Studies der ETH Zürich, bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin und beim Institut für Europäische Politik. Fischer ist Experte für Sicherheits- und für EU-Energiepolitik. Eine seiner Hauptaufgaben im Ministerium ist, einen kurzen Draht zu den Abteilungen zu halten. Er muss offen kommunizieren und über mögliche kritische Vorgänge im Haus informiert sein. Fischer ist eins der wichtigsten Mitglieder in Giffeys Netzwerk, stimmt sich wie kaum ein anderer sehr eng mit der Ministerin ab. Bei ihm laufen die Fäden der übergeordneten Abteilungen zusammen. Dazu gehören die strategische Planung, Parlaments- und Kabinettsangelegenheiten, das Büro der Ministerin und die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit.

 

Foto: Susie Knoll & Florian Jänicke

Hubertus Heil

Giffey und Arbeitsminister Hubertus Heil schätzen sich gegenseitig und sind beide Newcomer in der Bundesregierung. Beim „Starke-Familien-Gesetz“ arbeiten sie eng zusammen, spielen sich auch in der Öffentlichkeitsarbeit nicht gegenseitig aus. Heil, nur sechs Jahre älter als Giffey, hat ihr ein hohes Maß an bundespolitischer Erfahrung voraus. Er ist seit 1998 Bundestagsabgeordneter, war zweimal SPD-Generalsekretär und vor seinem Wechsel ins Arbeitsministerium stellvertretender Fraktionsvorsitzender. Davon kann Giffey in Kooperationen mit ihm profitieren. In Kontrast zu Giffeys einfacher Sprache gilt Heil als ein Meister gestanzter SPD-Sätze, wie sie auch aus der Pressestelle des Willy-Brandt-Hauses kommen könnten.

 

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 125 – Thema: Gesichter der Zukunft. Das Heft können Sie hier bestellen.