"Beide Seiten spielen die Angst-Karte aus"

Kampagne

Herr Whiteley, werden die Briten für den Austritt aus der EU stimmen?
Das ist schwer zu sagen, aktuell liefern sich die Kampagnen ein Kopf-an-Kopf-Rennen, dessen Ausgang vollkommen offen ist. Vieles wird von der Wahlbeteiligung abhängen. Wenn diese gering ausfällt, werden die Befürworter des Brexit stärker an die Urne strömen, da unsere Studien ergeben haben, dass es unter ihnen mehr Menschen gibt, die das Thema stark bewegt.

Wo verläuft denn der Graben?
Ältere Menschen befürworten mehrheitlich den Austritt, jüngere wollen in der EU bleiben. Das Problem dabei: Sie gehen nicht so oft zur Wahl wie die Älteren. Bei den letzten Parlamentswahlen haben weniger als 50 Prozent der jungen Wähler ihre Stimme abgegeben, aber mehr als 70 Prozent der Älteren.

Welche Rollen spielen diesmal die Medien? Insbesondere die britischen Tageszeitungen sind für politische Parteinahme bekannt.
Die Boulevardblätter werben eher für den Austritt, Qualitätszeitungen wie „Guardian“, „Independent“, „Observer“ oder „Financial Times“ sind beispielsweise für den Verbleib in der EU. Abzuwarten bleibt, wie sich die „Daily Mail“ entscheiden wird, die tendenziell europakritisch ist. Die Zeitungen werden wahrscheinlich erst Ende Mai/Anfang Juni klar Stellung beziehen. Es ist einfach, die Bedeutung der Medien aufzubauschen, und am besten sind hierin die Medien selber. Dabei ist der Einfluss der Tageszeitungen mit dem Rückgang der Auflage stark zurückgegangen. Aus Studien wissen wir, dass sich die Mehrheit der Bevölkerung Informationen aus den elektronischen Medien holt, insbesondere von der BBC und die sind penibel darum bemüht, sich auf keine Seite zu schlagen.

Worin sehen Sie die Stärken beziehungsweise Schwächen der beiden Kampagnen?
Beide Kampagnen werden von den Eliten aus Westminster geführt. Die Gegner eines Austritts treten geschlossener auf. Es bleibt abzuwarten, wie viele Freiwillige sie über das Land aufbringen können, die vor Ort an der Haustür für ihr Anliegen werben. Unsere Studien haben gezeigt, dass der Straßenwahlkampf sehr effektiv ist, Meinungen zu ändern und Stimmen zu sammeln. Streitigkeiten untereinander erschweren es den Brexit-Befürwortern, eine schlüssige Kampagne auf die Beine zu stellen. Sie verfügen über die enthusiastischeren Anhänger. Wenn die aber untereinander streiten, schwächt es ihre Durchschlagskraft, sodass der Vorteil aufgehoben werden könnte.

Spielen wir die zwei Szenarien für David Cameron durch. Was passiert, wenn es zum Brexit kommt?
Dann würde Boris Johnson bei den Konservativen das Ruder schnell übernehmen und die Partei nach rechts rücken.

Bisher galt Finanzminister George Osborne als automatischer Thronfolger.
Das sehe ich aus zwei Gründen nicht mehr. Zum einen hat er den letzten Etat verkorkst. Es hatte den Anschein, dass er bei Menschen mit Behinderung Kürzungen vornehmen wollte, während Wohlhabende Steuererleichterungen erfahren sollten. Das kam sehr schlecht in der Bevölkerung an und hat ihn viel Sympathie gekostet. Der zweite Grund ist seine eindeutig proeuropäische Haltung. Wenn es morgen bei den Konservativen eine Abstimmung über die Nachfolge von Cameron gäbe, würde Johnson statt Osborne diese gewinnen.

Professor Paul Whiteley (l.) und Aljoscha Kertesz im Gespräch. Foto: privat
Und wenn die Briten für den Verbleib in der EU stimmen?
Das würde eine Veränderung des Parteiensystems zur Folge haben, da es zu einer Spaltung der Konservativen Partei kommen könnte. Auf der einen Seite gäbe es anschließend die liberalen Konservativen sowie auf der anderen Seite eine Mischung aus rechten Konservativen und der heutigen United Kingdom Independence Party (UKIP). Es wäre übrigens nicht das erste Mal, bereits im 19. Jahrhundert kam es zu einer Aufspaltung. Wenn sich die Briten für den Brexit entscheiden, würde dies definitiv die Partei schwächen.

Worauf wird es in der Kampagne ankommen?
Bisher zeichnen die Kampagnen kein positives Bild, das den Wählern Hoffnungen macht. Wenn die Kampagnen die Massen mobilisieren wollen, dann müssen sie zwingend positiv für ihr Anliegen werben. Die Unabhängigkeit Schottlands ist da ein schönes Beispiel. Die Befürworter hatten damals ein sehr positives Bild von einem unabhängigen Schottland aufgezeigt und damit immerhin 45 Prozent der Stimmen geholt.

Negative Campaigning scheint das Gebot der Stunde zu sein.
Negative Campaigning kann sehr effektiv sein. Es kann aber auch negative Auswirkungen für einen selbst haben, wenn man es übertreibt. Die Befürworter eines Austritts werfen der Gegenseite regelmäßig vor, nur die Angst-Karte zu spielen. Dabei agieren beide Seiten mit den gleichen Mitteln. Die einen warnen davor, dass die EU in Großbritannien zunehmend das Ruder übernimmt und diktiert, was wir zu tun und zu lassen haben. Die Brexit-Gegner wiederum warnen davor, dass bei einem Austritt die Jobs in Gefahr sind. Somit spielen beide die Angst-Karte aus.

Was ist der Schlüssel für den Wahlausgang?
Die Wirtschaft ist der Schlüssel. In unseren Studien konnten wir klar nachweisen, dass es einen eindeutigen Zusammenhang zwischen der Arbeitslosenquote, einem der Indikatoren der Wirtschaftslage, und der Zustimmung beziehungsweise Ablehnung eines Austritts aus der EU gab. Wenn die Arbeitslosenquote fällt, sind die Menschen eher proeuropäisch eingestellt. Wenn sie steigt, steigt die Befürwortung des Austritts. Die EU und eine gute wirtschaftliche Lage werden hier einfach vermengt.

Wie sieht es aktuell mit der Arbeitslosenquote aus?
Aktuell ist die Arbeitslosigkeit auf dem historisch guten Wert von knapp über fünf Prozent. Aber die letzten Prognosen des Finanzministeriums sehen einen leichten Anstieg in den kommenden Monaten voraus. Das wird den Befürwortern des Austritts helfen.

Schlechte Nachrichten für die Gegner des Brexit. Was könnte ihnen zum Sieg verhelfen?
Zwei Dinge: Zunächst sprechen sich mit den Vorsitzenden der Liberalen, Konservativen, Labour sowie den schottischen und walisischen Nationalisten fünf der sechs Parteivorsitzenden gegen den Brexit aus. Einzig der UKIP-Vorsitzende Nigel Farage wirbt für den Austritt. Zweitens: die Neigung zum Status Quo.

Das müssen Sie erklären.
Ein Austritt wäre die größere Veränderung – er ist riskanter, schwieriger und unsicherer als alles so zu belassen, wie es ist. Und diese Tatsache produziert ein – bei Abstimmungen – bekanntes Phänomen: die sogenannte Neigung zum Status Quo. Je schwieriger die Zusammenhänge sind, sich keine einfache Meinung bilden lässt und die Experten streiten, umso eher werden die Wähler für den Status Quo stimmen. Es ist die einfachste Möglichkeit, mit Unsicherheiten umzugehen. Bei allen drei relevanten Abstimmungen in Großbritannien hat sich die Bevölkerung für den Status Quo entschieden: für den Verbleib in der Europäischen Gemeinschaft 1975, gegen eine Änderung des Wahlsystems und gegen die Unabhängigkeit Schottlands. Die Neigung zum Status Quo hilft somit den Gegnern des Austritts.