Vertane Chancen

Das Internet ist eine außergewöhnliche Innovation. Seit dem Buchdruck hatte keine Erfindung mehr ein solches Potenzial, gesellschaftliche Veränderungen hervorzubringen. Aufgebaut auf einer Technologie, die apolitisch, ungeregelt und dezentralisiert ist, erlaubt sie es allen Menschen, Informationen nicht nur zu konsumieren, sondern sie auch zu verbreiten. Gleichzeitig ist es ein enormes Archiv von globalem Bewusstsein, eine digitale Sammlung von menschlichem Wissen aus Vergangenheit und Gegenwart, auf die Nutzer problemlos zugreifen können.
Daraus folgt, dass wir die Macht haben, unsere eigene Wahrheit zu schaffen – und sie mit jedem Menschen auf der Welt zu teilen. Das hat zu einer noch nie dagewesenen Gleichheit geführt, was den Zugang zu Informationen angeht. Hat das Internet aber die Möglichkeit verpasst, ein Medium des sozialen Ausgleichs zu sein?

Utopische Gesellschaft

Vor zwanzig Jahren wurde das Internet von einer Gruppe „Early Adopters“ geprägt, die davon überzeugt waren, dass die ideale Gesellschaft von Gleichheit geprägt sein müsste – ohne Hierarchie, und mit Regeln, die gemeinsam für das Allgemeinwohl beschlossen werden sollten.
Diese Menschen, von denen viele in San Franscisco, der spirituellen Heimat neuer Technologien, leben, haben über ein Jahrzehnt damit verbracht, mit alternativen Gemeinschaften im frühen Internet zu experimentieren.
Die von ihnen aufgebauten Gruppen litten darunter, als sich die dürftig festgelegten Regeln auflösten und plötzlich Kommerz im Vordergrund stand. Doch die idealistischen Web-Pioniere blieben dabei, dass die neue digitale Front eine intellektuelle Grundlage bieten würde, auf der eine freie und utopische Gesellschaft gegründet werden könnte. Allerdings hatte die Geschichte etwas anderes für das Internet vorgesehen.
Der wackelige soziale Ansatz der Internet-Pioniere ist mit einem wesentlichen Aspekt unserer Natur aneinandergeraten – dem Wunsch nach Kontrolle. Das zeigte sich insbesondere, als das Web Mitte der 90er Jahre ein Ort für kommerzielle Geschäfte wurde. Der rasche Zuwachs an Inhalten führte dazu, dass verlässliche und glaubwürdige Informationen immer schwieriger zu finden waren.

Hoffnung im Netz

Auf der persönlichen Ebene verlassen wir uns auf Freunde und Familie, wenn es darum geht, wem man vertrauen kann und was man glauben soll. Wir hören aber auch auf Experten, die einen hohen gesellschaftlichen Status haben und uns den richtigen Weg zeigen können.
Sogar Jimmy Wales, der 2001 die Online-Enzyklopädie Wikipedia gegründet hat, gibt zu, dass Wikipedia trotz seines Status’ als Paradebeispiel für freien Informationsfluss Hierarchien hat, die bestimmen, wessen Wissen mehr wert ist.
Es scheint, dass das Internet trotz der Idee des gleichen Zugangs für alle so ungleich ist wie wir selbst. Sozialwissenschaftler stellen, wenn sie das Internet als Plattform gesellschaftlicher Interaktionen beobachten, sogar fest, dass wir nach Hierarchien suchen, die uns dabei helfen, der Welt einen Sinn zu geben. Hierarchien sind in der digitalen Welt genauso wichtig wie im realen Leben.
Trotzdem gibt es Optimisten wie den früheren US-Vizepräsidenten Al Gore,  die den Glauben an das Internet nicht aufgegeben haben. Für Gore ist es wichtig, dass das Internet durch seine globalen Dimensionen das Potenzial hat, sich selbst zu ändern. Der Grund dafür sind die unterschiedlichen Gesellschaften, die im Netz ihre unterschiedlichen Perspektiven zur Geltung bringen.

Menschliches Medium

Tim Berners-Lee, der Begründer des World-Wide-Web, wollte auf mehreren Reisen durch Ghana herausfinden, was passieren könnte, wenn auch der afrikanische Kontinent am internationalen Dialog teilnehmen würde. Dabei zeigte sich, dass der bleibende Eindruck, den die meisten Menschen in Afrika bei ihren ersten Erfahrungen mit dem Internet gemacht haben, auf dem basiert, was Nicht-Afrikaner geschaffen haben. Was für ein Dogma vermittelt das? Und wie verstärkt das die Ungleichheit, die zwischen Industrieländern und Entwicklungsländern herrscht?
In den zwei Jahrzehnten, in denen wir das Internet geformt haben, hat es sich zu einem System mit menschlichen Eigenschaften entwickelt. Es verändert unsere Gesellschaft nicht, sondern ist letztlich nur ihr Spiegelbild – mit all ihren Fehlern, Nachteilen und Mängeln.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Nerven Sie nicht! – Der Knigge für den politischen Alltag. Das Heft können Sie hier bestellen.