Der Exil-Russe und Soziologe Igor Eidman gibt tiefe Einblicke in die Persönlichkeit Putins sowie die Mechanismen und Machtstrukturen des modernen politischen Russlands. Er lernte sie als Politikberater aus nächster Nähe kennen. Diese persönliche Betroffenheit ist dabei große Stärke und Achillesverse zugleich.
Für den deutschen Leser ist natürlich das Kapitel über das Verhältnis Deutschland-Putin besonders interessant. Darin wird schonungslos aufgezeigt, wie von russischer Seite versucht wird, die deutsche Demokratie zu destabilisieren. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Analyse der deutschen „Russlandversteher“: die Heuchelei der Linken und die Ignoranz der Rechten. Die Linken stünden aus historischer Verbrüderung und Antiamerikanismus treu zu Russland, würden dabei aber verkennen, dass die dort herrschende Politik das krasse Gegenteil ihrer Forderungen darstelle. Die Rechten hätten zwar ein ähnliches Gesellschaftsbild wie Putin, ignorierten dabei jedoch, dass ein mächtiges und aggressives Russland so gar nicht im nationalen Interesse Deutschlands sein kann. In diesem Kapitel bieten sich neue Informationen und ein guter Überblick bekannter Fakten – beispielsweise der Personen und Medien, die gezielt die deutsche Öffentlichkeit mit russischer Propaganda infiltrieren sollen. Dieses Thema ist in der politischen Diskussion in Deutschland bisher ziemlich unterbelichtet. Daher ist es sinnvoll, für mögliche Desinformationskampagnen zu sensibilisieren.
Das Buch ist stilistisch eher wechselhaft. Mal packender Roman, mal eher Sachbuch in soziologischer und politikwissenschaftlicher Fachsprache. Gelegentlich entsteht der Eindruck des Pamphlets, das von tiefer Abneigung gegenüber Putin und seiner Politik gezeichnet ist. Ebenso schwankend wie der Stil ist auch die Qualität der Quellen und Belege: Wo es welche gibt, beispielsweise für Meinungsumfragen, sind diese auch angegeben. Doch vieles beruht auf persönlichem Erleben, Hörensagen und plausiblen Vermutungen.
Eindringlich appelliert der Autor, dass Putin „gestoppt werden“ müsse. Zur Begründung werden Vergleiche mit allerlei faschistischen Regimen inklusive Nazi-Deutschland herangezogen. Zwar wird regelmäßig eingestanden, dass diese Vergleiche nicht ganz passen und Putins „faschistisches Projekt noch nicht abgeschlossen“ sei. Doch verringern ironischerweise gerade die eindringlichsten Warnungen vor Putin die Überzeugungskraft der Botschaft. In jedem Fall: ein leidenschaftliches Plädoyer dafür, Putin und seine autokratischen und neo-imperialen Ambitionen ernst-, aber nicht tatenlos hinzunehmen. Ob das große Vertrauen, das der Autor in die Wirksamkeit politischen Drucks durch Sanktionen setzt, und der positive Ausblick letztlich nur Ausdruck reinen Wunschdenkens sind oder Realität werden, muss sich erweisen.
Igor Eidman: Das System Putin. Ludwig Buchverlag, 2016, 288 Seiten, 16,99 Euro.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe politik&kommunikation III/2016 US-Wahl/International. Das Heft können Sie hier bestellen.