Die Rückkehrerin

Anfang Februar deutet noch nichts darauf hin, dass das Porträt über Brigitte Fehrle plötzlich platzen könnte. Das Interview mit der Chefin der Berliner „Zeit“-Redaktion einige Tage zuvor in ihrem Büro an der Dorotheenstraße lief gut. Im Anschluss das übliche Prozedere: weitere Recherche, Text schreiben, Zitate autorisieren lassen. Dann ein Gerücht: Fehrle verlässt die „Zeit“. Telefonisch ist sie erst einige Tage später erreichbar. Endlich Gewissheit: Ja, die Nachricht stimme, sie verließe die „Zeit“ in Richtung Berliner Verlag. Die genaue Position sei jedoch noch unklar. Man vereinbart Folgendes: Das Porträt wird verschoben, dafür setzt man sich später wieder zusammen, um die Geschichte weiterzudrehen. Erstaunlich, wie schnell sich die Dinge in Berlin ändern können.

Mit der „taz“ fing alles an

Brigitte Fehrle lebt und arbeitet seit fast 30 Jahren in Berlin. Anfang der achtziger Jahre kam sie wegen des Studiums an die Spree. Geboren wurde die Journalistin 1954 in Stuttgart. Nach der Schule lernt sie Buchhändlerin und arbeitet einige Jahre in diesem Beruf. Doch sie spürt, dass sie intellektuell unterfordert ist und mehr wissen will. „Ich hatte das Gefühl, dass in meinem Leben noch was passieren muss. Ich wollte was erleben.“ Anfang der achtziger Jahre entscheidet sie sich für ein Politikstudium an der Freien Universität Berlin. Hat sie sich schwer getan in der Großstadt? „Nein, ich fühlte mich hier von Anfang an zu Hause. Das Leben hat mir sofort gefallen.“ Das liegt auch an einer Zeitung, die erst wenige Jahre vor Fehrles Umzug nach Berlin zum ersten Mal erschien: die „taz“. „Ich fand, dass das eine tolle Zeitung war, die ich sehr gerne gelesen habe.“ Doch Fehrle will es nicht nur beim Lesen belassen, sie will mitmachen. Sie bewirbt sich um ein Praktikum, wird angenommen und kann bei der „taz“ schon während des Studiums Artikel schreiben. Das Engagement zahlt sich aus: Nach dem Diplom bietet ihr die Zeitung eine Redakteursstelle an.
1990 verlässt die Journalistin die „taz“ wieder. „Nach sechs Jahren hatte ich alles ausprobiert. Und wahrscheinlich ging es mir wie vielen. Ich dachte, ich müsse mal zu einer ‚richtigen‘ Zeitung.“ Außerdem bietet sich mit dem Wechsel zur „Berliner Zeitung“ eine einmalige Gelegenheit. Für die „taz“ berichtete Fehrle über die deutsche Wiedervereinigung. Aus Westsicht. Bei der „Berliner Zeitung“ kann sie nun – als erste westdeutsche Mitarbeiterin – die politischen Probleme von der anderen Seite aus beleuchten. Spricht sie über die Wendejahre in Berlin, zeigt sich, wie sehr sich diese Erinnerungen bei der 54-Jährigen festgesetzt haben. „Sensationell interessante Jahre“ seien das gewesen: „Ich habe diese Zeit immer als Geschenk empfunden. Es ist ein großes Glück, etwas ganz Außergewöhnliches, wenn man in seinem journalistischen Leben solch einen politischen Umbruch miterleben und begleiten darf.“

Rückzug nach verlorenem Kampf

Zwei Bilder aus der Zeit des Umbruchs sind Fehrle am stärksten in Erinnerung geblieben. Stolze Fabrikarbeiterinnen in einem Schuhkombinat in Weißwasser sowie eine junge Pressesprecherin des Demokratischen Aufbruchs und später stellvertretende Sprecherin der ersten frei gewählten DDR-Regierung. Ihr Name: Angela Merkel. „Zu wissen, woher sie gekommen ist und wie sie ihren Weg ins Kanzleramt gemacht hat, das ist beeindruckend.“
Bei der „Berliner Zeitung“ muss sich Fehrle erst an die manchmal unübersichtliche Hierarchie und aufgewühlte Atmosphäre gewöhnen. Nach der Wiedervereinigung fanden in der Redaktion „existenzielle Debatten“ statt. „Wie viel Meinungsfreiheit ist richtig? Wer war bei der Stasi? Wer verliert seinen Job? Da gab es Tränen auf den Fluren.“ Fehrle trotzt dem rauen Klima und setzt sich als Redakteurin durch. Zunächst wird sie landespolitische Korrespondentin, 1996 Ressortleiterin Innenpolitik, 2002 sogar stellvertretende Chefredakteurin. Ein Kollege, der Fehrle schon lange kennt, begründet ihren Aufstieg mit ihrer beruflichen Hartnäckigkeit: „Sie hat so eine Gewissheit, Dinge noch einmal zu hinterfragen. Da geht sie einen Schritt weiter als viele andere Kollegen.“
16 Jahre lang bleibt sie bei der „Berliner Zeitung“. Dann der Bruch: Der britische Finanzinvestor David Montgomery – Fehrle nimmt seinen Namen nicht in die Mund, nennt ihn nur „die Heuschrecke“ – will 2005 mit seiner Mecom-Gruppe den Berliner Verlag übernehmen, zu dem die „Berliner Zeitung“ gehört. Fehrle und ihr damaliger Chefredakteur Uwe Vorkötter kritisieren Montgomerys Renditeziele, kämpfen dagegen an – und verlieren. „Es war klar, dass wir da nicht bleiben konnten“, sagt sie. Eine persönliche Niederlage, aus der sie schnell Konsequenzen zieht. Vorkötter und Fehrle wechseln im Sommer 2006 zur „Frankfurter Rundschau“ (FR). Er als Chefredakteur, sie als seine Stellvertreterin.
Gemeinsam realisieren sie die Umstellung der „FR“ auf das Tabloid-Format. Doch der Ausflug nach Frankfurt endet für Fehrle bereits nach einem Jahr. Die „Zeit“ lockt 2007 mit der Leitung der Hauptstadtredaktion. Die Stelle wird frei, weil ihr Vorgänger im Berliner Büro, Bernd Ulrich, als Politikchef nach Hamburg wechselt. Der Journalistin fällt der Abschied schwer. „Es tat mir damals leid, nach so kurzer Zeit wieder zu gehen. Aber es war keine Entscheidung gegen die ‚Rundschau‘, sondern eine für die ‚Zeit‘ und Berlin.“
Das Berliner Restaurant Dressler, Mitte März. Hier findet nachmittags das zweite Interview mit Brigitte Fehrle statt. Schnell dreht sich das Gespräch um ihren neuen Arbeitgeber. Bei der „Berliner Zeitung“ ist sie ab dem 1. April neue stellvertretende Chefredakteurin, und, so lange noch nicht klar ist, wer den in der Redaktion stark kritisierten Chefredakteur Josef Depenbrock ersetzt, auch kommissarische Redaktionsleiterin. Fehrle wünscht sich, dass Uwe Vorkötter wieder Chefredakteur wird – und ist sich ziemlich sicher, dass ihr Wunsch erfüllt wird.
„Die ‚Berliner Zeitung‘ ist nach wie vor die einzige wirklich gesamtdeutsche Zeitung“, sagt Fehrle. „Ich war in den letzten Jahren sehr fasziniert, wie die Redaktion unter den widrigen Umständen hervorragende Arbeit geleistet hat.“ Der Wechsel passe einfach gut zu ihrer Biografie. Seit ihrem Weggang im Jahr 2006 sei die innere Verbindung zum Blatt nie abgebrochen. Nun, nachdem Alfred Neven DuMont den Berliner Verlag gekauft habe und wieder auf „journalistische Qualität“ setze, wolle sie mithelfen, die Zeitung in der Aufbruchzeit, Fehrle spricht von einer „neuen Epoche“, zu begleiten. Dieser Mischung aus Alt und Neu wird ihr in nächster Zeit noch oft begegnen. Den Wechsel zur „Berliner Zeitung“ vergleicht sie mit der Rückkehr in die alte Heimatstadt. Nach langer Zeit fühle sich der Besucher dort fremd und vertraut zugleich.
Und obwohl sie davon ausgeht, dass sie auf viele bekannte Gesichter in der Redaktion trifft, vermutet sie, dass die Redaktion nach dem Verlust vieler guter Journalisten in den letzten drei Jahren behutsam wieder aufgebaut werden muss. Im ersten Gespräch hatte sie zum Scheitern von Montgomery passenderweise gesagt: „Wahrscheinlich ist das eine der ganz wenigen positiven Auswirkungen der Finanzkrise.“

Zugreifen – oder nicht

Als Fehrle darüber spricht, dass sie sich mit ihrem Wechsel nicht gegen die „Zeit“, sondern für die „Berliner Zeitung“ entschieden habe, bestätigt sie auch eine weitere ihrer früheren Aussagen. Damals, Ende Januar in ihrem „Zeit“-Büro, antwortete sie auf die Frage, ob sie sich vorstellen könne, was nach der Arbeit für die Wochenzeitung komme: „Ich habe in meinem beruflichen Leben nie etwas geplant. Ich habe mich nie irgendwo beworben. Wenn mir etwas Neues angeboten wurde, habe ich überlegt, ob es zu mir passt, ob ich etwas lernen kann, und dann zugegriffen oder auch nicht.“ Sie sagte das damals mit einer Gewissheit, die keine Zweifel zuließ.
Sechs Wochen und ein verschobenes Porträt später, hat sich daran nichts geändert.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Die Meinungsmacher. Das Heft können Sie hier bestellen.