Wenn Lügen die Geschichte umschreiben

Kolumne

Als Ferdinand „Bongbong“ Marcos Jr. im Mai 2022 mit großer Mehrheit zum Präsidenten der Philippinen gewählt wurde, triumphierte nicht nur der Sohn des schlimmsten Diktators des Landes, sondern mit ihm auch eine umfassende digitale Strategie zur Umdeutung der Vergangenheit. Ein Sohn allein ist nicht für die Taten seines Vaters verantwortlich, doch der Wahlsieg war das Ergebnis einer jahrelangen Kampagne, die eine der brutalsten Diktaturen Südostasiens in ein goldenes Zeitalter uminterpretierte. Die Philippinen galten bald als „Patient Zero“ des globalen Desinformationszeitalters. Die dortigen Entwicklungen zeigen exemplarisch, wie Desinformation nicht nur politische Debatten verzerrt, sondern kollektive Erinnerung gezielt umbaut. Es ist eine Warnung auch für Demokratien wie Deutschland.

Marcos-Diktatur im Algorithmus-Glanz

Ferdinand Marcos Sr. regierte die Philippinen von 1965 bis 1986 mit harter Hand: Das Kriegsrecht brachte rund 70.000 politische Gefangene, 34.000 dokumentierte Folterungen und über 3.000 außergerichtliche Tötungen. Gleichzeitig plünderte seine Familie Milliarden aus den Staatskassen.

Doch online wurde dieses dunkle Kapitel systematisch in ein „goldenes Zeitalter“ uminterpretiert. Jahrelang betrieben Marcos-treue Netzwerke gezielte Geschichtsklitterung. Auf Facebook – der wichtigsten Plattform für politische Information im Land – kursierten Beiträge, die wirtschaftliche Wunder unter Marcos Sr. priesen und seine Verbrechen leugneten.

YouTube-Kanäle inszenierten prunkvolle Familienszenen als nostalgische Rückblicke. TikTok, genutzt von über 36 Millionen Filipinos, wurde zur Bühne für Kurzvideos, in denen Influencer Marcos mythologisierten. Ein Video, das behauptete, während des Kriegsrechts sei niemand verhaftet worden, erzielte über 187 Millionen Aufrufe. Eine andere Falschmeldung, wonach Opfer ihre Geschichten erfunden hätten, wurde in 514 Facebook-Gruppen geteilt und millionenfach verbreitet.

Die meisten dieser Inhalte wirkten vermeintlich neutral, stammten aber aus professionell betriebenen Trollfarmen oder von bezahlten Content Creators. Wer widersprach, wurde online angefeindet oder als Teil einer „linken Medienverschwörung“ diskreditiert.

Begünstigt wurde die digitale Verklärung durch eine Allianz aus Marcos- und Duterte-treuen Netzwerken. Gemeinsam schürten sie Misstrauen gegen unabhängige Medien und politische Gegner. Recherchen von Rappler, einer philippinischen Online-Nachrichten-Webseite, belegen, dass koordinierte Facebook-Seiten konkurrierende Kandidaten und kritische Journalistinnen mit Hass und Falschbehauptungen überzogen.

Kontrafaktisch aufbereitet für die junge Generation

Ironischerweise war es Rodrigo Duterte selbst, der 2016 den symbolischen Grundstein für die Rehabilitation der Marcos-Familie legte: Er ordnete an, Ferdinand Marcos Sr. auf dem Heldenfriedhof in Manila zu beerdigen. Die Botschaft: So schlimm kann er nicht gewesen sein.

Von da an gewann die Verklärung an Tempo. Human Rights Watch sprach von einem Wahlkampf Marcos Jr.s, der „geprägt von Desinformation über die Verbrechen der Diktatur seines Vaters“ war. Die Fact-Checking-Initiative Tsek.ph stellte fest: 92 Prozent aller geprüften Online-Inhalte zu Marcos Jr. waren positiv und falsch, 96 Prozent der Falschinformationen über seine Konkurrentin Leni Robredo negativ und verleumderisch.

Diese systematische Umdeutung war keine Randerscheinung. Studien zeigen: Besonders Wähler unter 30, die das Kriegsrecht nicht erlebt haben, wurden durch die digitalen Narrative stark beeinflusst. Laut University of the Philippines fehlt es vielen Jugendlichen an historischem Wissen zur Diktatur, auch weil Schulbücher oft Lücken aufweisen. Der Geschichtsunterricht allein kann das nicht auffangen, wenn die Hauptinformationsquelle soziale Medien sind. Pulse Asia ermittelte 2022: Jüngere Wähler stimmten überproportional für Marcos Jr., ältere tendierten zu Robredo.

Seit seinem Amtsantritt betreibt Ferdinand Marcos Jr. eine systematische Normalisierung der Diktatur seines Vaters: Schulbücher werden überarbeitet, Gedenkinstitutionen geschwächt und kritische Begriffe wie „Kriegsrecht“ oder „Menschenrechtsverletzungen“ aus offiziellen Reden verbannt. Stattdessen rückt er Infrastrukturprojekte ins Zentrum und besetzt Schlüsselposten mit Loyalisten. Die Vergangenheit wurde algorithmisch verdrängt.

Gefahr für die Erinnerungskultur auch in Deutschland

Eine Verharmlosung der Geschichte, die Diskreditierung kritischer Stimmen als „links“ und eine Generation, die keinen direkten Bezug mehr zum Geschehen hat: Die Parallelen zu Deutschland sind unübersehbar. Auch hier versuchen rechtsextreme Akteure, die NS-Zeit zu relativieren und die demokratische Ordnung infrage zu stellen.

In Telegram-Kanälen kursieren Posts, in denen die Bundesrepublik als „Umerziehungsprojekt“ dargestellt wird oder gar behauptet wird, Deutschland sei „nie souverän“ gewesen. Der Verfassungsschutz warnt: Diese Erzählungen gehören längst zum festen Repertoire extrem rechter Online-Netzwerke.

Unsere politische Kultur beruht auf der kollektiven Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus und der DDR. Auf dem Schwur: Nie wieder. Doch auch hier wächst die Gefahr einer digitalen und damit realen Geschichtsvergessenheit. Wenn soziale Medien emotionalisierende Inhalte belohnen und Fakten an Reichweite verlieren, entstehen Zonen der historischen Unsicherheit. Was in den Philippinen geschah, zeigt: Wer die Deutung der Geschichte verliert, verliert mehr als ein Narrativ – er verliert Orientierung, Zusammenhalt und die Grundlage demokratischer Verantwortung.

Die Vergangenheit ist nicht vorbei, solange sie im digitalen Raum jederzeit neu geschrieben werden kann. Gegen diese Dynamik helfen nur kritisches Denken, journalistische Unabhängigkeit und das bewusste Erzählen historischer Wahrheit. Nicht als museale Pflicht, sondern als aktive Verteidigung dessen, worauf unsere Demokratie beruht.