Fakt und Gefühl: Warum politische Debatten immer irrationaler werden

Kolumne

Als vor wenigen Wochen der Vorschlag in der Gesellschaft aufkam, Asylverfahren in Drittstaaten außerhalb Europas durchzuführen, war die öffentliche Reaktion nicht differenziert, sondern hitzig und oft schlicht entmenschlichend. In Schlagworten wie „unkontrollierte Migration”, „Abschiebeflüge” oder sogar „Lager in Ruanda“ zeigte sich die Bereitschaft, Menschenrechte zugunsten politischer Signalwirkung hintanzustellen. Die Debatte war nicht nur hart, sie war oft einfach menschenfeindlich. Wer versuchte, über völkerrechtliche Standards, gesetzliche Rahmenbedingungen oder tatsächliche Schutzquoten zu sprechen, wurde oft übertönt. Statt Fakten dominierten Affekte. Und das ist längst keine Ausnahme mehr.

Emotion schlägt Argument
Politik war nie ein rein rationales Geschäft. Auch in Deutschland nicht. Der Atomausstieg nach Fukushima, das Betreuungsgeld oder der Flüchtlingsdeal mit der Türkei gelten als diskutable Beispiele für eine Politik der Emotionen und der Symbole. Was neu ist, ist der Ton. Studien zeigen, dass die politische Kommunikation deutlich emotionaler geworden ist. Populistische Akteure setzen signifikant häufiger auf negative Affekte wie Wut oder Angst. Mit Erfolg, denn Empörung verbindet. Besonders deutlich wird das in digitalen Räumen. Beiträge mit moralisch-emotionalen Begriffen werden signifikant öfter geteilt, geliked und kommentiert. Der Algorithmus belohnt, was aufrüttelt – und straft, was abwägt. In Talkshows, Kommentarspalten und sozialen Medien herrscht daher eine Logik der Zuspitzung. Wer übertreibt, wird gehört. Wer sachlich bleibt, muss oft korrigieren und geht unter.

Warum wir irrational sind – eine psychologische Skizze
Die Wahrheit hat ein Problem: Sie ist oft kompliziert. Unsere Wahrnehmung hingegen ist bequem und voreingenommen. Der sogenannte Confirmation Bias ist wissenschaftlich bestens belegt: Menschen glauben lieber das, was zu ihrer Weltsicht passt. Mehrere Studien zeigen, dass politische Informationen selektiv aufgenommen und widersprüchliche Fakten ausgeblendet werden, selbst wenn sie korrekt sind. Im Wahlkampf verstärkt sich dieser Effekt: Eine Studie des Massachusetts Institute of Technology (MIT) von 2024 belegt, dass Wähler in heißen Phasen deutlich anfälliger für „passende“ Desinformation sind. Durch ein zunehmend gespaltenes Klima im politischen Diskurs kommen diese zudem immer öfter zum Einsatz, gestreut von den Kandidaten selbst oder von ihren Anhängerschaften.

Ein Moment, der heute fast wie aus einer anderen Zeit wirkt, ereignete sich im Oktober 2008. Damals widersprach der republikanische Präsidentschaftskandidat John McCain einer Frau aus dem Publikum, die Barack Obama als „Arab“ bezeichnete. McCain unterbrach sie ruhig, aber bestimmt: „Nein, Ma’am. Er ist ein anständiger Familienmensch, ein Bürger, mit dem ich einfach Meinungsverschiedenheiten über grundlegende Fragen habe.“ Es war ein Akt politischer Haltung gegen Lüge, gegen Angst, gegen die Versuchung, Emotionen für den schnellen Applaus auszuschlachten. Heute wirken solche Szenen fast naiv. Wer Widerspruch duldet oder gar dem politischen Gegner Respekt zollt, gilt als schwach. In der Logik des digitalen Empörungstheaters ist die Differenzierung kein Zeichen von Demokratie mehr, sondern von Verrat.

Der Psychologe Jonathan Haidt bringt es auf den Punkt: „The mind is a rider on an elephant – and the elephant usually decides where to go.“ Anders gesagt: Der Bauch entscheidet, der Kopf rechtfertigt.

Algorithmen als Verstärker
Soziale Medien haben diesen Mechanismus perfektioniert. Die Algorithmen von Meta, Youtube und Co. sind auf Interaktion optimiert. Nichts sorgt für mehr Klicks als Empörung. Dabei entsteht eine gefährliche Dynamik: Polarisierende Botschaften erhalten mehr Reichweite, weil sie emotionalisieren und dadurch normalisiert werden. Der Algorithmus verstärkt also weiter, was trennt. Und was spaltet, bleibt im Gedächtnis. Besonders fatal ist dabei die Rolle von Desinformationen. Studien zeigen, dass sich Falschinformationen im Netz schneller und weiter verbreiten als wahre Nachrichten – gerade weil sie stärker emotionalisieren. Wer einmal glaubt, dass „die da oben lügen“, ist besonders anfällig für gezielte Desinformation, die das Narrativ bestätigt. Und weil algorithmische Systeme weder Wahrheit noch Kontext kennen, sondern nur Klicks und Reichweite zählen, erhalten gerade diese Inhalte den größten digitalen Resonanzraum. Desinformation wird so nicht nur ermöglicht, sondern strukturell belohnt.

Misstrauen und Lagerbildung
Wenn aber politische Kommunikation zur Daueraufregung wird, verliert sie an Substanz und gestalterischer Wirkungskraft. Der öffentliche Diskurs verkommt zur Echokammer, in der jede Seite eigene „Fakten“ hat. Der Confirmation Bias und algorithmische Filterblasen führen dazu, dass Debatten kaum noch auf gemeinsamem Boden stattfinden – sondern parallel. Das zeigt sich auch in den gerade abgeschlossenen Koalitionsgespräche. Während die Verhandler mühsam um Kompromisse rangen, kämpften Parteiflügel und Online-Kommentariat bereits um die Deutungshoheit: Für die einen ist jede Form der Verständigung eine Anbiederung. Es zählt nicht mehr, ob eine Lösung tragfähig ist, sondern, ob sie sich in der eigenen Community als „hart“, „klar“ oder „mutig“ verkaufen lässt. So wird nicht Politik gemacht, sondern Identität verwaltet.

Ohne Gefühl geht es nicht
Die Lösung liegt nicht in einem Rückzug ins Technokratische. Gefühle sind legitim, sie gehören zur Politik und sie können Veränderung schaffen, die der Gesellschaft auch langfristig gut tun. Doch sie dürfen nicht das letzte Wort haben. Es braucht eine Rückbesinnung auf das Gespräch als demokratische Praxis: das Ringen um Positionen, nicht das Zuschreien von Identitäten. Auch bei uns Bürgerinnen und Bürgern muss Medienkompetenz heute heißen, nicht nur Quellen zu prüfen, sondern auch sich selbst. Warum berührt mich eine Nachricht? Reagiere ich auf Inhalte oder auf meine eigene Emotion? Habe ich das Problem wirklich verstanden? Habe ich zugehört, bevor ich geantwortet habe? Und vor allem: Falle ich auf eine Erzählung herein? Demokratie lebt nicht vom Rechtbehalten und Lautstärke, sondern vom Streit mit Anstand. Und vom Mut, manchmal zu sagen: Ich weiß es (noch) nicht. In einer Zeit, in der alle Recht haben wollen, wäre das vielleicht die radikalste Haltung von allen.