Wenn wählen schadet

Schon jetzt, ein Jahr vor der Bundestagswahl 2009, werden Kanzler- und Abgeordnetenkandidaturen festgezurrt und neue Koalitionen diskutiert. Dabei ist allerdings bis heute eine entscheidende Frage offen, nämlich welches Wahlrecht bei der Bundestagswahl überhaupt Anwendung finden soll. Denn das Bundesverfassungsgericht hat am 3. Juli dieses Jahres festgestellt, dass die derzeit geltenden Bestimmungen des Bundeswahlgesetzes über die Sitzverteilung nicht verfassungskonform sind.  Die Bestimmungen können nämlich zu dem paradoxen Ergebnis führen, dass eine Partei dadurch, dass sie gewählt wird, Mandate verliert statt hinzugewinnt. Dieses sogenannte „negative Stimmengewicht“ sieht das Bundesverfassungsgericht als Verstoß gegen die in der Verfassung verankerten Grundsätze der Gleichheit und Unmittelbarkeit der Wahl.      
Wie kommt es zu dem negativen Stimmengewicht? Bundestagsmandate werden nach den Wahlen grundsätzlich in drei Schritten verteilt. Zunächst erhalten alle mit der Erststimme direkt gewählten Kandidaten ein Mandat (Direktmandate). Dann wird auf Grundlage der abgegebenen Zweitstimmen die Gesamtzahl der Sitze bestimmt, die auf die einzelnen Parteien entfallen – das ist die sogenannte Oberverteilung. In einem dritten Schritt werden diese Sitze den jeweiligen Landeslisten der Partei zugewiesen (Unterverteilung). Erzielt eine Partei in einem Bundesland mehr Direktmandate, als ihr Sitze aufgrund der Unterverteilung zustehen, kommt es zu sogenannten Überhangmandaten. Denn die Direktmandate verbleiben der Partei laut Bundeswahlgesetz in jedem Fall. Die Parteien mit Überhangmandaten erhalten also zusätzliche Sitze im Bundestag; die Gesamtzahl der Bundestagsabgeordneten wird entsprechend erhöht.

Verlust durch Gewinn

Allerdings kann sich für eine Partei der Zugewinn an Zweitstimmen in einem Bundesland, in dem sie zugleich viele Direktmandate gewinnt, negativ auswirken, weil dadurch auf ihre Landesliste mehr Sitze bei der Unterverteilung entfallen und sie deswegen unter Umständen weniger zusätzliche Überhangmandate erringen kann. Im Ergebnis können ihr somit Mandate verloren gehen. Zwar wird dieser Effekt dadurch abgeschwächt, dass deutliche Stimmgewinne auch eine günstigere Oberverteilung für die betroffene Partei nach sich ziehen. Dies allein ist aber nicht immer ausreichend. Denn gerade in bevölkerungsschwachen Bundesländern beeinflussen Stimmengewinne deutlich eher und stärker die landesweite Unterverteilung als die bundesweite Oberverteilung. Problematisch ist dabei insbesondere, dass sich der Wähler nicht im Vorfeld ausrechnen kann, ob seine Zweitstimme einer Partei im Ergebnis nutzt oder schadet.
Die Behebung dieses Missstands ist allerdings rechtlich sowie politisch ausgesprochen heikel. Denn die dazu erforderlichen Änderungen rühren in jedem Fall an den Grundfesten des bundesrepublikanischen Wahlsystems.
Denkbar ist etwa, das Prinzip der Direktwahl einzuschränken, indem man direkt gewählte Kandidaten nur dann in den Bundestag einziehen ließe, wenn ihre Partei auch landesweit ausreichend Sitze über die Zweitstimme errungen hat. Eine andere Möglichkeit ist die Abschaffung der Landeslisten zugunsten der Bildung einer Bundesliste. In Betracht kommt ferner die Stärkung des föderalistischen Prinzips, indem man die bundesweite Oberverteilung aufgibt und die Sitzverteilung isoliert für die jeweiligen Bundesländer durchführt – was freilich bedeuten könnte, dass die Sitzverteilung nicht dem bundesweiten Gesamtergebnis entspricht. Desweiteren ist denkbar, Überhangmandate dadurch auszugleichen, dass auch Parteien ohne Überhangmandate insoweit zusätzliche Sitze gewährt werden, bis der Proporz wiederhergestellt ist – was aber zu einer an sich unerwünschten Vergrößerung des Bundestags führen kann.
Das Verfassungsgericht war sich der rechtlichen und politischen Schwierigkeit einer Änderung des Bundeswahlrechts offensichtlich bewusst. Denn es hat dem Gesetzgeber dafür drei Jahre Zeit gegeben, also deutlich über die Bundestagswahl 2009 hinaus, schon damit die Reformdiskussion nicht in Wahlkampfzeiten geführt werden muss. Aus Sicht des Gerichts ist es auch akzeptabel, dass die Bundestagswahl 2009 noch einmal unter Anwendung des bisherigen, an sich verfassungswidrigen Wahlrechts durchgeführt wird. Dafür erwartet das Gericht aber vom Gesetzgeber, dass er das „kaum noch nachzuvollziehende Regelungsgeflecht der Berechnung der Sitzzuteilung im Deutschen Bundestag auf eine neue, normenklare und verständliche Grundlage“ stellt.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe 27 – Sonntag. Das Heft können Sie hier bestellen.