Schwieriger Spagat

Zum 1. Januar 2010 wird Spanien für ein halbes Jahr die EU-Ratspräsidentschaft übernehmen. Erklärtes Ziel ist es, Europa zu stärken – so der offizielle Duktus der Präsidentschaft. Und Spanien tut dies mit einem gehörigen Rückenwind. Die lang ersehnte Ratifizierung des Lissaboner Vertrags durch die Mitgliedsländer verspricht ein Ende der Improvisationen und Unsicherheiten in Brüssel. Die vierte spanische Ratspräsidentschaft wird voraussichtlich aber auch die komplexeste und herausforderndste sein. Schließlich gilt es, der EU eine stärkere Stimme, mehr Einigkeit und mehr Gewicht zu verleihen. Dies geschieht im Rahmen eines Trio-Programms mit Belgien 2010 und Ungarn 2011, das mehr denn je auf ein gemeinsames Erscheinungsbild und auf eine gemeinsame Strategie ausgerichtet sein wird.
Mit dem Inkrafttreten des Lissaboner Vertrags erhält die EU erstmals einen ständigen Ratspräsidenten und einen Hohen Kommissar mit der Funktion eines „EU-Außenministers“. Diese beiden Ämter sollen die EU nach innen hin stärken und ihr nach außen eine kräftigere Stimme verleihen. Welche Aufgaben die beiden Spitzenleute genau übernehmen und welche Kompetenzen sie haben werden, legt der Lissabon-Vertrag nicht fest. Die ausgewählten Kandidaten werden durch ihren Einfluss und ihre Persönlichkeit daher die Ausgestaltung dieser Ämter weitgehend mitprägen können. Deshalb wurden für diese Posten ursprünglich vor allem international bekannte Elder Statesmen wie Tony Blair gehandelt.
Folglich sorgte die Entscheidung des EU-Sondergipfels im November für eine gehörige Überraschung: Mit der Benennung des belgischen Premierministers Herman Van Rompuy als Ratspräsidenten und der britischen EU-Handelskommissarin Catherine Ashton als Hohe Kommissarin hatte kaum jemand gerechnet.

Hoffnungen zerschlagen

Ashton war die gemeinsame Kandidatin der europäischen Sozialisten. Laut Vereinbarung hatten diese das Vorschlagsrecht für das Amt des Außenministers für den Fall, dass der Präsidentenposten an einen Konservativen ginge. Damit waren die Hoffnungen einiger politischer Schwergewichte wie etwa Tony Blair zerschlagen. Eigentlich hätte nun alles auf den niederländischen Premier Jan Peter Balkenende hingedeutet, der jedoch überraschend auf eine Kandidatur verzichtete.
Europa wird also auf international bekannte Köpfe verzichten müssen. Die international noch weithin unbekannten Van Rompuy und Ashton werden unter Beweis stellen müssen, dass das ihnen zugeschriebene strategische und diplomatische Geschick ein Gewinn für Europa ist. Das könnte durchaus der Fall sein, denn ein zentrales Anliegen des spanischen Ministerpräsidenten José Luis Zapateros ist es, die Erweiterung der EU voranzutreiben. Die Beitrittsverhandlungen mit Island und Kroatien könnten schon während der Ratspräsidentschaft abgeschlossen werden. Heikel erscheint jedoch insbesondere Zapateros positive Haltung zu einem türkischen Beitritt. Zapatero ist sich bewusst, hiermit eine „heftige Debatte“ zu provozieren, hält es aber auch für möglich, dass sich früher oder später eine Mehrheit für einen Beitritt der Türkei herausbildet. Schon 2005 hatten Zapatero und der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan die „Allianz der Zivilisationen“ initiiert, die dem damaligen Uno-Generalsekretär Kofi Annan Vorschläge unterbreitete, wie die Kluft zwischen dem Westen und der islamischen Welt zu überwinden sei.

Einbindung der islamischen Welt

Die Unterstützung der USA ist Zapatero bei der engeren Einbindung der Türkei und der muslimischen Welt sicher. Überhaupt sieht Zapatero die Gelegenheit gekommen, mit dem neuen US-Präsidenten Barack Obama die transatlantischen Beziehungen neu zu beleben. Diese engere Kooperation könnte dabei helfen, bei globalen Problemen wie dem Klimawandel und der Finanzkrise Lösungen herbeizuführen.
Wirtschaftspolitisch fällt die spanische Präsidentschaft in eine spannende und zugleich herausfordernde Zeit. Nach dem Durchschreiten der wirtschaftlichen Talsohle kann sich die EU unter der Präsidentschaft Spaniens gut positionieren, wenn sie das Wirtschaftswachstum mit einem ausbalancierten Mix aus Innovation und sozialer Gerechtigkeit fördert.
Für Spanien eine interessante Ausgangslage: Sowohl politisch und institutionell als auch wirtschaftlich ist eine schwere Krise überwunden worden. In einer solchen Situation bietet sich die Chance, die neuen Möglichkeiten in sichtbare Erfolge umzumünzen. Wenn diese Erfolge sowohl auf den wirtschaftlichen als auch den politischen Aufschwung einzahlen, ist das umso besser. Konsequenterweise hat die spanische Regierung angekündigt, dass Innovation für sie nicht nur für die Wirtschaft, sondern auch für die Erneuerung des institutionellen und politischen Europas ein treibender Faktor ist.
Das sind große Worte, die dennoch weit von der Realität entfernt sind. Politisch-institutionell steht Europa erst am Anfang eines langen Prozesses. Und wirtschaftlich muss Europa erst wieder den Anschluss zu anderen Regionen finden. Trotz deutlicher Bestrebungen der Mitgliedsländer in den vergangenen Jahren, den Anteil der Forschungs- und Investitionsausgaben am Bruttosozialprodukt auf drei Prozent anzuheben, stagniert der Anteil bei aktuell knapp unter zwei Prozent. Viel zu wenig, um die Vision eines innovationsgetriebenen Wirtschaftsgiganten Europa mittelfristig wahr werden zu lassen.
Das Ende der Wirtschaftskrise zeichnet sich ab. Ein Grund zum Aufatmen ist das noch nicht. Die Krise wird sich in ganz Europa erst verzögert in den Arbeitslosenzahlen niederschlagen. Spanien bemüht sich für die Zeit der Präsidentschaft, einen europäischen Pakt für Beschäftigung ins Leben zu rufen. Wie dieser aussehen soll, ist noch unklar. Gerade Spanien könnte von einem gut geschnürten Pakt profitieren – schon jetzt liegt die Arbeitslosigkeit dort bei gut 20 Prozent.
Spanien hat sich schon jetzt zur Idee eines „sozialen Europas“ bekannt, ein Europa der Solidarität mit den Bevölkerungen und der Kooperation mit der Welt. Ein multilateralistischer Ansatz kann ein neues, konziseres außenpolitisches Bild Europas durchaus stützen. Gerade nach innen hin muss die EU es aber auch verstehen, konkrete soziale Belange voran zu bringen. Spanien selbst hebt hier die Gleichberechtigung der Geschlechter hervor.
Die Umwelt- und Klimapolitik anno 2010 ist die große Unbekannte. Der Kopenhagener Gipfel im Dezember wird letztlich entscheiden, ob Europa im kommenden Jahr die Ärmel hochkrempeln kann oder in Schockstarre verharrt.
Die spanische Präsidentschaft baut hier insofern vor, als dass sie so viele Entscheidungen wie möglich von der Kopenhagener Vorgabe abkoppelt. Die Finanzierung von grünen Technologien wurde so beim EU-lateinamerikanischen und dem EU-US-Gipfel ganz weit oben auf die Agenda gesetzt.
Beim Ratstreffen in Frühjahr will Spanien das Jahr der Biodiversität thematisieren und einen neuen Biodiversitäts-Aktionsplan verabschieden. Hierbei werden auch die Weichen gestellt für die kommende große Biodiversitätskonferenz, die im September – unter der belgischen Ratspräsidentschaft – stattfinden wird.
Ein dritter Schwerpunkt der spanischen Umweltstrategie richtet sich auf das Wasser. Auch hier steht eine große Europakonferenz an.

Es bleibt vieles zu leisten

Die Zeichen in der EU stehen auf Aufbruch. Wirtschaftlich, politisch und institutionell sind die größten Hürden übersprungen. Das kann aber auch schnell zu Ernüchterung führen, nämlich genau dann, wenn schnelle Erfolge ausbleiben. Denn politisch und institutionell wird durchaus noch viel zu leisten sein, bis Lissabon in Brüssel angekommen ist. Und der wirtschaftliche Aufschwung wird sich nur mit einem bitteren Beigeschmack genießen lassen, wenn die Arbeitslosenzahlen zu Beginn der spanischen Ratspräsidentschaft emporschnellen sollten.
Die deutlichen außenpolitischen Ambitionen könnten dem spanischen Vorsitz gut zu Gesicht stehen. Mit einer erfolgreichen, engeren transatlantischen Zusammenarbeit kann man dieser Tage sichere Punkte sammeln. Die engere Zusammenarbeit mit Lateinamerika und der Karibik wird ihre Wirkung allerdings nicht über den spanischen Sprachbereich hinaus entfalten. Der engere Dialog mit der Türkei und der islamischen Welt – wenn er denn kommt – könnte sich für Spanien aber als ein diplomatischer Spagat entpuppen.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Zu Guttenberg – Politiker des Jahres. Das Heft können Sie hier bestellen.