p&k: Herr Schönenborn, bei der Europawahl Anfang Juni haben Sie ihr zehntes Jubiläum als Wahlmoderator der ARD gefeiert. Hat Sie der Ausgang der Wahl überrascht?
Jörg Schönenborn: Ja, das hat er. Wobei ich in den vergangenen zehn Jahren gelernt habe, dass sich bei Abstimmungen mit geringer Wahlbeteiligung im Laufe des Sonntags alles noch einmal verschieben kann. Ich habe beispielsweise nicht damit gerechnet, dass die SPD unter ihr Ergebnis von 2004 rutscht. Das war einer der Wahltage, bei dem ich das Gefühl hatte, dass irgendetwas anders sein wird als vermutet.
Wie erklären Sie sich die niedrige Wahlbeteiligung?
Aus meiner Sicht sind da zwei Dinge zusammengekommen. Es ist ein gravierendes Problem, dass Parteien bei ihren Europawahllisten auf das verzichten, was eigentlich Grundregel der Politik ist, nämlich Personalisierung. Es gibt zwar Spitzenkandidaten, die Parteien stellen diese im Wahlkampf jedoch nicht besonders heraus. Das andere Problem ist, dass selbst informierte Bürger kaum benennen können, welche Kompetenzen die gewählten Politiker haben. Das gilt für viele Journalisten, aber auch für viele, die sich für Europapolitik interessieren.
Bei der Europawahl haben Sie die Zwangsunterbrechung durch die „Lindenstraße“ mit dem Wechsel auf „tagesschau.de“ überbrückt. Sind Sie zufrieden?
Ich finde, dass das ein gelungenes Experiment war. Ich weiß, dass sich einige zehntausende Nutzer in den Stream eingeklickt haben. Für die Kollegen von „tagesschau.de“ war das eine gute Resonanz.
Was hat sich bei der Wahlberichterstattung seit 1999 verändert?
Vor allem der Ablauf des Wahlabends. Es fällt mir auf, dass sich die taktische Kommunikation der Parteien völlig verändert hat. Wenn ich an Landtagswahlen in der Bonner Zeit zurückdenke, dann war es so, dass die Landespolitiker in den Landtagen das Sagen hatten. Die Bonner Parteizentralen meldeten sich nach 18 Uhr zwar auch zu Wort, spielten aber nicht die erste Geige. Heute ist es so, dass die Parteizentralen kurz vor 18 Uhr, wenn sie die Ergebnisse ungefähr kennen, Telefonkonferenzen machen und Codes vereinbaren, wie sie die Wahl bewerten. Nach der ersten Hochrechung fängt ein Deutungswettlauf an, den die Generalsekretäre in den Parteizentralen beginnen. Die Spitzenpolitiker der Landesverbände ziehen dann nach, oft wortgleich.
Für die TV-Zuschauer ist die Bekanntgabe der Prognose um 18 Uhr der spannendste Zeitpunkt. Wie erleben Sie diesen Moment?
Der Wahltag hat für uns einen anderen Zeitablauf. Wir haben durch die Wahltagsbefragung von 8 Uhr morgens an stündlich die Möglichkeit, Zwischenergebnisse abzufragen. Bei der Bundestagswahl sind das über 100.000 Interviews, die über den Tag verteilt gemacht werden. Und wir wissen, dass sich das Ergebnis ab 14 Uhr langsam abzeichnet. Da können dann bis 18 Uhr immer noch Verschiebungen bei großen Parteien von zwei Punkten möglich sein, aber die Richtung kennen wir dann. Von diesem Zeitpunkt an fängt für mich das Nachdenken über die Interpretation an.
Die ARD arbeitet mit den Demoskopen von Infratest dimap zusammen. Wann erfahren Sie, welche Zahlen das ZDF und die Forschungsgruppe Wahlen haben?
Der Wettlauf mit dem ZDF beginnt, wenn das Ergebnis um 18 Uhr heraus ist. Ich bekomme die Zahlen sofort auf den Tisch und kann nachschauen, ob wir nahe beieinander liegen. Das ist in Deutschland zum Glück Teil unserer Fernsehkultur. Wir haben zwei große Forschungsinstitute, die beide auf sehr hohem internationalen Niveau arbeiten. Ich habe gerade durch Erfahrungen in den USA, wo es nur ein zentrales Institut gibt, gelernt, dass dieser Wettbewerb, dieses Ringen um die etwas besseren Zahlen, ein Garant für Qualität ist.
Welche Wahl ist Ihnen am stärksten in Erinnerung geblieben?
Zum einen die US-Wahl 2000, bei der die Wahltagsbefragung die Grundlage für die mehrfach veränderten Ergebnisse war. Und dann meine erste Bundestagswahl im Jahr 2002. Ein Kanzlerkandidat Edmund Stoiber, der meinte, unsere Zahlen reichten aus, um sich zum Sieger auszurufen. Dafür gab es keine Grundlage. Für mich eine Nacht, die ich nicht vergessen werde.
Sie gelten als das seriöse Gesicht der ARD, der „Mann der Zahlen“. Hätten Sie eigentlich Lust auf eine Samstagabend-Show?
Nein, gar nicht. Ich habe als Kind davon geträumt, das „Aktuelle Sportstudio“ zu moderieren. Aber dafür bin ich zum falschen Sender gegangen. Das mit dem Sport tut mir manchmal leid, aber der Zug ist abgefahren. Ansonsten gibt es für mich nichts Schöneres als einen spannenden Wahlabend.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Beruhigungsmittel- Regierungskommunikation in der finanzkrise. Das Heft können Sie hier bestellen.