Rede- versus Arbeitsparlament

Pro und Kontra

Pro
von Thomas Oppermann

Die Debattenkultur des Deutschen Bundestags wird oft kritisiert. Meistens wird sie wahrgenommen als polemischer Schlagabtausch, weniger als öffentliches Räsonieren um zentrale Fragen der Politik. Sternstunden des Parlaments sind selten. Welche Probleme müssen durch kluge Gestaltung und Interessenausgleich gelöst werden? Wie kann Gerechtigkeit erreicht, wie können Frieden und Wohlstand erhalten werden? In großen Debatten kommt es gelegentlich dazu, dass Grundfragen der res publica im Mittelpunkt stehen. Mit dem Austausch von Argumenten wird hart aber fair um den richtigen Weg gerungen. Die Bürger können nachvollziehen, um welche Interessen es geht, was es abzuwägen gilt und was die Politiker denken. Im parlamentarischen Alltag erlebt das Publikum dagegen oft: Rechthaberei statt Argumenten, selbst ernstgemeinte Fragen werden nicht beantwortet, tatsächliche Diskussion findet nicht statt. Das Ansehen von Politik und Politikern leidet unter dieser Wahrnehmung. Das geht mitunter so weit, dass das Parlament als überflüssig angesehen wird.
Dabei gibt es in Wirklichkeit gute Diskussionen zwischen Parlamentariern. Doch finden die eher im Verborgenen statt, in Arbeitsgruppen, in Ausschüssen. Diese Debatten müssen sichtbarer werden. Wir brauchen im Plenum große Debatten für die Fragen, die eine große politische Relevanz haben. Aber auch die „kleinen“ Debatten zu Themen, die vielleicht nicht alle, aber immer noch genug Menschen interessieren, müssen wahrnehmbar werden. Ich plädiere deshalb für mehr öffentliche Ausschusssitzungen. Das schafft mehr Transparenz, Verständnis und Beteiligungsmöglichkeiten. Mehr Transparenz erfordert zudem, dass sich die Regierungsmitglieder und allen voran die Regierungschefin regelmäßig den Fragen des Parlaments stellt. Das ist in anderen Ländern gute Tradition. Die derzeitige Kanzlerin beantwortet auf inszenierten Bürgerforen, neuerdings auch im Internet, Frage um Frage von ausgewählten Bürgerinnen und Bürgern. Dem Parlament aber, das alle Bürger vertritt und das die Bundesregierung kontrollieren soll, entzieht sie sich. Das ist nicht hinnehmbar.

 

Kontra
von Werner J. Patzelt

Das Begriffspaar von Arbeits- und Redeparlament stellt Parlamente wie den US-Kongress solchen von der Art des englischen Unterhauses gegenüber.
Im ersten Fall arbeitet ein tiefgestaffeltes (Unter-) Ausschusssystem intensiv an Gesetzen und wirkt durch Entscheidungen, während Reden im Plenum nachrangig sind – vor allem, weil dort weder Präsident noch Minister auftreten. Im zweiten Fall gibt es kein komplexes Ausschusswesen, in dem Spezialisierung und darauf gegründete Abgeordnetenmacht möglich sind. Zentrale Wirkungsstätte ist dann das Plenum. Dort prallt eine parlamentsgetragene Regierung auf die Opposition beziehungsweise deren Führer. Die versuchen, über hitzige Debatten öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, die Regierung schlecht, sich selbst aber gut aussehen zu lassen, und auf diese Weise künftigen Wahlsiegen vorzuarbeiten.
Die Frankfurter Nationalversammlung von 1848 war, da allein auf Unterstützung durch die Öffentlichkeit gegründet, ein rasch machtloses Redeparlament. Im Bismarckreich wurde der Reichstag – als Gesetzgeber Eckstein eines Rechtsstaats, von der Regierungsbildung aber ausgeschlossen – zu einem Arbeitsparlament mit starker Diskussionskomponente: Vor ihm hatte der Kanzler seine Politik zu rechtfertigen. Der Weimarer Reichstag setzte beide Traditionen fort.
Der Bundestag führte stets hitzige Debatten um Gestaltungsfragen, machte sich aber von vornherein auch an die Detailarbeit am Gesetz und wurde darin machtvoll. International gilt er heute als vorbildliche Mischung aus Arbeits- und Redeparlament. Gewiss hat er Schwächen in der Selbstdarstellung, auch in Erfüllung seiner Rolle als „Forum der Nation“. An beidem sollte er arbeiten: durch Ausweitung seiner Aktuellen Stunden, durch weniger simulierte Erregung seiner prominenten Sprecher. Einverstanden, wenn das mit der „Weiterentwicklung zum Redeparlament“ gemeint ist.
Doch zur machtlosen Quasselbude darf er niemals werden – gerade nicht jetzt, da es die Europapolitik der Regierung zu kontrollieren gilt.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Minilobbyisten – Kleinstverbände im Porträt. Das Heft können Sie hier bestellen.