Nur bedingt kampagnenfähig

Die Große Koalition erfüllt geradlinig bestimmte Erwartungen. Wir können sie als Wähler nicht abwählen. Denn Union und SPD wollen in dieser Formation keine Neuauflage, wenngleich alle wissen, dass eine Wiederholung rechnerisch nicht unwahrscheinlich ist. Die beiden Parteien hatten 2005 keinen legitimierenden Gestaltungsauftrag durch den Wähler erhalten. Die Macht der Großen Koalition war anfangs durch die Zwei-Drittel-Mehrheit in Bundestag und Bundesrat sehr groß – das Mandat allerdings eher klein. Denn es war eine Koalition des Zufalls, die rechnerisch eine strategische Gemeinschaft der Wahlverlierer organisierte – ein Abbild der Unentschiedenheit der Mehrheit der Wähler. Trotzdem hat sich diese Allianz der Geschwächten als sehr handlungsfähig in der Gesetzgebung gezeigt. Ihre quantitative Bilanz ist mit kleinen Koalitionsregierungen vergleichbar. Die qualitative Bilanz der Gesetzgebung hängt vom Maßstab ab. Große Probleme, die eine Große Koalition lösen sollte – diese Wahrnehmung war fehlgeleitet. Darin steckt eine Portion politischer Romantik. Denn Große Koalitionen agieren nicht überparteilich, sozusagen als Ausstieg aus den Komplexitäten der Alltagspolitik, sondern der Wettbewerb zwischen den Parteien tritt viel verschärfter und prominenter zutage als in kleinen Koalitionen. Ein Sondermandat fällt der Regierung seit Herbst 2008 durch die Finanz- und Wirtschaftskrise zu. Im Krisen-Management könnte sich der Kipp-Punkt des Regierens zeigen. Die Koalition hat die Chance der Bewährung oder des steilen Abstiegs im Umfeld dieser Thematik. Sie prägt nicht nur den Wahlkampf, sondern sicher auch die Prozesse der anschließenden Regierungsbildung. Zur Besonderheit der Großen Koalition gehört ebenso wie in den 60er Jahren die Intensität der Grundgesetzänderungen. Ob bei der Föderalismus-Reform oder beim Schulden-Gesetz: Große Koalitionen nutzen offenbar quantitativ viel intensiver die Chancen zur Grundgesetz-Änderung als kleine Koalitionen.
Der Parteienwettbewerb zwischen den beiden sogenannten großen Volksparteien ist seit 2005 deutlich erlahmt. Der Pragmatismus des Regierungsalltags hat die ehemaligen Profile der Parteien extrem abgeschwächt. Wenn der tägliche Entscheidungskonsens zwischen Union und SPD erfolgreich sein soll, muss zwangsläufig der traditionelle Stammwähler systematisch verunsichert werden. Liest man die Grundsatzprogramme der Parteien, sind die Markenkerne von SPD und Union immer noch deutlich unterschiedlich. Doch die Wahrnehmung der Berliner Alltagspolitik ist eine andere. Das ist der Preis von Dauer-Kompromissen. Die Selbstverzwergung von SPD und Union verlief seit Beginn der Großen Koalition ebenso zeitgleich ab. Die beiden Wahlverlierer von 2005 gingen eine strategische Allianz ein, um im Doppel regieren zu können. Das hat die Erosionsprozesse beider Mitgliederparteien zusätzlich dramatisch beschleunigt, so dass beide Organisationen in vielen Wahlkreisen heute praktisch nicht mehr kampagnenfähig sind. Wer insofern auf eine Fortsetzung der Großen Koalition nach der kommenden Bundestagswahl setzt, muss sich über die schwerwiegenden Folgen für den Parteienwettbewerb und die Substanz der beiden Traditionsparteien im Klaren sein.
Große Koalitionen führen auch regelmäßig zu einem Ausfransen an den politischen Rändern. Auch diese Erwartung ist vollständig eingetreten. Die Linke ist nach 2005 auch in westdeutschen Landtagen zum Siegeszug angetreten. Sie hat der SPD die Hegemonie über die soziale Gerechtigkeit entrissen. Die Linke sammelte auch heimatlose Unionswähler ein, die den marktradikalen Kurs von Leipzig ablehnten. Die Kapitalismuskritik macht die Linke aber keinesfalls im Wahljahr zu Krisengewinnern. Dazu gehört momentan eher die FDP. Dieser Trend ist auch ein Zeichen für die Radikalisierung an den politischen Rändern als direkte Folgewirkung der Großen Koalition. Denn die FDP bietet – am anderen Spektrum des Parteiensystems – unverändert den Glauben an den Markt als Lösung an. Nichts ist offenbar so gut vorhersehbar wie die Folgen von Großen Koalitionen auf den Parteienwettbewerb.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Beruhigungsmittel- Regierungskommunikation in der finanzkrise. Das Heft können Sie hier bestellen.