„Nixon ballte noch die Faust“

p&k: Herr Professor Niemitz, Sie haben einmal gesagt: „Der Mensch stammt nicht vom Affen ab, er ist einer.“ Können wir Verhaltensmuster von den Menschenaffen auf den Menschen übertragen?
Carsten Niemitz: Ja, denn die Menschen gehören zoologisch zu den Primaten. Sie gehören von der Klassifikation her zu den Altweltaffen, also ist der Mensch ein Affe. Genetiker und Molekularbiologen zählen ihn nämlich wie beispielsweise auch den Orang-Utan und den Gorilla zu den Menschenaffen. Meiner Meinung nach besitzt der Mensch von seiner Hirnstruktur her allerdings so eigene Qualitäten, dass man eine ganz neue biologische Kategorie einführen sollte – das erlaubt die zoologische Systematik ganz ausdrücklich. Doch rein genetisch betrachtet besteht ein enger Zusammenhang zwischen Menschen und anderen Primaten.

Wer übernimmt in einer Gruppe von Menschenaffen die Führung?
Die Alphatiere. Diese sind wissenschaftshistorisch gesehen groß, stark und imposant. Weisungsbefugte haben auch einen größeren Kopf – woran Sie erkennen können, dass der Begriff „Großkopferte“ nicht aus der Luft gegriffen ist. Allerdings haben die Primaten unabhängig von den körperlichen Eigenschaften auch soziale Strategien entwickelt. Sie haben gelernt, sich in andere hineinzudenken und sich partnerschaftlich zu verhalten. Wer Freunde gewinnen und Koalitionen schließen kann, ist im Vorteil. Und dieses Verhalten kommt letztlich der gesamten Gruppe zugute. Man spricht dann von der „Gesamtfitness“. Für das Überleben ist laut Darwin ja die „Fitness“, also die Angepasstheit entscheidend.

Kann ein Affe auch dann, wenn er nicht der Stärkste ist, ein Alphatier sein?
Eine Kombination von Stärke und Cleverness ist natürlich günstig. Und beim Menschen ist die Physis im Laufe der Evolution in den Hintergrund getreten: Wenn sich jemand schon mit Worten und Gesten kommunikativ durchsetzen kann, ist körperliche Stärke eben zweitrangig. Nein, das Alphatier muss nicht der Größte und Stärkste sein. Es gibt auch in der Politik immer wieder kleine Menschen, die einfach präsent sind, auf die alle schauen, während andere übersehen werden.

Gilt die Unterscheidung nach Alpha- und Betatieren auch noch beim Menschen?
In dieser einfachen Form nicht mehr. Wir wissen alle, dass es Alphatiere gibt, die sich in der Politik durchsetzen. Die haben aber womöglich einen – sonst im Leben gar nicht so erfolgreichen – Nachbarn, der sie unterdrückt und voll im Griff hat, oder Freunde im Verein, gegen die sie sich nicht durchsetzen können. Das ist rollen- und situationsabhängig. Ein Alphatier kann einen Autounfall haben, und der andere steigt aus und macht ihn zur Sau. Der bringt ihm womöglich keinen Respekt entgegen, weil er ihn in seiner Rolle und sozialen Funktion gar nicht kennt. Das hängt mit der Größe und Teilanonymität unserer Gesellschaft zusammen.

Alphatiere stellen gerne Dominanz zur Schau, zum Beispiel durch das Brusttrommeln – gibt es beim Menschen noch etwas Vergleichbares?
In der Politik gilt es als inkorrekt, wenn man das zu deutlich tut. Wenn man aber auf Wahlveranstaltungen sieht, wie die Alphatiere da abgeschirmt durch die Gegend gehen, und wie die sich benehmen, dann wirkt das äußerst offensiv. Ich habe selbst oft erlebt, dass Alphatiere sich offen wie Alphatiere benehmen. Gerade in Wahlkampfzeiten sind sie voll darauf eingestellt, ihr Ego, ihren Status hervorzukehren. Wenn sie charismatisch sein wollen, wenn sie ein Gefolge suchen, dann drehen sie auch entsprechend auf.

Woran merkt man das konkret?
Unter anderem an der Lautstärke. Ich habe Helmut Schmidt, Willy Brandt – und Franz-Josef Strauß sowieso – im Gewühl mit dem eigenen Gefolge schreien gehört. Die konnten ziemlich grob sein. Sobald Wahlkämpfer auf der Bühne stehen, sind Drohgebärden üblich, aber verbalisiert. Man ballt zum Beispiel nicht mehr die Faust. Richard Nixon hat früher bei Reden immer noch die Faust geballt, wenn es drauf ankam. Es findet sich sogar in einem Verhaltenslehrbuch ein solches Bild von Nixon bei einer Wahlkampfrede.

Gelegentlich werden Affären von Politikern publik wie die von Horst Seehofer mit einer deutlich jüngeren Frau. Macht die soziale Position ein Alphatier sexy?
Untersuchungen haben ergeben, dass der reproduktive Erfolg auch mit der sozialen Stellung und dem Einkommen korreliert. Wir leben allerdings in einer sehr komplizierten Gesellschaft, in der vor allem die Frauen bestimmen, wie viele Kinder sie haben wollen. Daher relativiert sich diese Korrelation beim Menschen. Ich war voriges Jahr auf einem internationalen Anthropologen-Kongress in Bologna. Dort hat eine englische Forscherin vorgetragen, dass nicht unbedingt die Anzahl von Kindern, aber die Chance auf eine größere Zahl von Kindern signifikant höher ist, wenn jemand eine herausgehobene soziale Stellung hat.

Besteht also ein Zusammenhang zwischen den vielen Ehen von Joschka Fischer oder Gerhard Schröder und deren sozialer Stellung?
Natürlich, denn das könnte sich der Abteilungsleiter von Rewe nicht leisten.

Und verstärkt eine große Zahl von Kindern das Image eines Politikers als Alphatier?
Es dreht sich nicht nur um die Reproduktivität. Das Image des Politikers, auch das Charisma, hängt natürlich davon ab, ob er für seine Nachkommen sorgt, ob er also ein guter Familienvater ist. Evolutorisch ist wichtig, dass die Art erhalten bleibt. Es ist nicht allein wichtig, wie viele Kinder man hat, sondern wie viele Vertreter in der nächsten Generation überleben, die dann ihrerseits wieder reproduktiv sein können. Deswegen schädigt eine verlassene Mutter immer das Image. Horst Seehofer hat ein Imageproblem bekommen, als die Mutter seines unehelichen Kindes mit ihrer Geschichte hausieren gegangen ist. Immerhin ist er zu seiner Familie zurückgegangen, vielleicht ist er da psychologischem Rat gefolgt und hat den kleineren Scherbenhaufen gewählt, um das wieder aus den Schlagzeilen rauszukriegen.

Kommen wir auf die Evolution zu sprechen, mit der Sie sich viel beschäftigen. Der Mensch scheint heute angesichts immer drängenderer Probleme zur Kooperation gezwungen zu sein. Nun tritt ein US-Präsident auf den Plan, dessen Führungsstil nicht agressiv, sondern eher kooperativ ist. Geht da die Evolution ihren Weg?
Je mehr die Welt sich verflicht, desto wichtiger wird es, dass die Kommunikation zwischen den Mächtigen immer besser wird. Ich glaube, dass es eine große Chance ist, wenn ein Politiker wie Obama Dialog und Partnerschaft sucht. Auch angesichts unserer Probleme wird das wichtiger. Das größte Problem ist der Klimawandel. Das ist aber nur ein kleines Symptom, weil wir jetzt schon viel mehr Menschen sind, als die Welt biologisch tragen kann. Seit wir Anfang des letzten Jahrhunderts mehr als zwei Milliarden Menschen geworden sind, leiden die Naturräume mehr, als sie sich selbst regenerieren können, das heißt: Seitdem leben wir auf Kosten der immer noch weitgehend toleranten Natur. Deshalb müssen wir nicht das Wachstum der Menschheit verlangsamen; wir müssen es umkehren. Wir sehen, dass sich niemand traut, das Problem richtig anzupacken. Darum drücken sich alle, weil es zu delikate Fragen sind, die eventuell auch Aggressionen auslösen.

Vor dem evolutionsgeschichtlichen Hintergrund betrachtet: Trauen Sie dem Menschen zu, innerhalb so kurzer Zeit so kooperativ zu werden, dass er die Probleme in den Griff bekommt?
Da muss ich zwei Antworten geben. Die eine ist, dass ich ziemlich schwarz sehe. Die andere ist, dass ich die Hoffnung nicht aufgeben möchte und deswegen auch vermitteln will, dass wir keine andere Wahl haben, als weiter zu hoffen und an den Problemen zu arbeiten. Die Erde braucht uns nicht. Die explosive Vermehrung der Menschen ist immer noch wie die von Bakterien, immer noch exponentiell, auch wenn die Kurve des Wachstums langsam flacher wird.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Leadership – Was bedeutet gute Führung?. Das Heft können Sie hier bestellen.