Die Wirtschaftskrise. Eine neue Kommission. Die immer noch offene Lösung für den EU-Reformvertrag. Die Schweden haben im zweiten Halbjahr eine schwere Aufgabe übernommen: Sie sollen die Geschicke der EU übernehmen in einer Zeit, in der weite Teile der politischen Agenda fremdbestimmt sind. Schweden drückt deshalb auf die Erwartungsbremse – und verfolgt dennoch eine ambitionierte Agenda.
Die Präsidentschaft im zweiten Halbjahr ist keine dankbare Aufgabe, da viele organisatorische Rahmenbedingungen in den kommenden Monaten in der Schwebe sein werden. Eine dringliche Frage, deren Beantwortung immer noch aussteht, ist jene nach dem EU-Reformvertrag. In der Tschechischen Republik, wo Präsident Václav Klaus die Unterzeich-nung verzögert, und in Deutschland, wo das Bundesverfassungsgericht die Verfassungskonformität des Vertrags überprüft, steht die Ratifikation noch aus.
Reformvertrag
Die Blicke richten sich vor allem aber nach Irland. Nach einem „Nein“ zum Reformvertrag im vergangenen Jahr gilt es, in einem zweiten Referendum ein „Ja“ nach Hause zu holen. Mit der Wirtschaftskrise hat sich die Haltung der Bevölkerung zum Lissaboner Vertrag deutlich zum Positiven verändert. Erfahrungen aus anderen Ländern lehren jedoch, dass es schwer fallen kann, eine solche Stimmungswelle über mehrere Monate zu halten.
Neues Europaparlament
Anfang Juni wurde das neue Europaparlament gewählt. Trotz des Abgangs der britischen Konservativen und der tschechischen ODS konnte die konservative EVP-Fraktion ihre führende Stellung im Parlament unterstreichen.
Auch die grüne Fraktion hat deutlich zugelegt. Die Sozialdemokraten mussten hingegen klare Einbußen hinnehmen. Insgesamt gibt es ein deutlicheres bürgerliches Übergewicht als bisher. Offen bleibt allerdings noch, welches Gewicht die europakritischen Parteien haben wer-den, die sich erstmals in einer gemeinsamen Fraktion formieren wollen.
Die neue Kommission
Eigentlich ist geplant, dass die neue Kommission bereits am 1. November 2009 ihre Arbeit aufnimmt. Die offene Frage nach dem Ausgang des irischen Referendums macht jedoch einen Strich durch diese Rechnung: Bei einem irischen „Ja“ würde der Vertrag von Lissabon erlauben, dass jeder Mitgliedsstaat weiterhin einen Kommissar stellen darf. Dieses Szenario würde auch die Schaffung eines EU-Außenministerpostens und eines permanenten Ratspräsidenten erlauben. Anders bei einem irischen „Nein“: Hier müsste mindestens ein Land auf seinen Kommissarposten verzichten. Die Nominierung der künftigen Kommissare wird somit voraussichtlich erst nach dem irischen Referendum stattfinden und das Mandat der aktuellen Kommission bis zum 1. Januar 2010 verlängert. Einige Kommissare haben bereits angekündigt, dass sie nicht erneut kandidieren werden, so auch der deutsche EU-Kommissar für Unternehmen und Industrie, Günter Verheugen. Nach ihrem starken Abschneiden bei der Europawahl hat die CDU/CSU bereits gefordert, den künftigen deutschen Kommissar zu stellen.
Der derzeitige Kommissionspräsident José Manuel Barroso kündigte jüngst an, für eine zweite Amtszeit kandidieren zu wollen. Eine Nominierung durch die EU-Staatschefs Mitte Juni – nach Redaktionsschluss – ist wahrscheinlich, nicht jedoch unbedingt die Bestätigung durch das Parlament Mitte Juli. Die Grünen haben bereits angekündigt, sich gegen die Barroso-Kandidatur zu stellen. Die Sozialdemokraten und die Liberalen sind gespalten.
Wirtschaft und Finanzen
Die Wirtschaftskrise wird die EU auch im zweiten Halbjahr unter Handlungsdruck setzen. Andererseits liegt gerade in der Krisenbekämpfung eine der großen Möglichkeiten für die EU, staatenübergreifende Problemlösungskompetenzen zu entwickeln und unter Beweis zu stel-len. Schon in den vergangenen Monaten hat die EU eine Reihe von Vorschlägen zur Krisenbewältigung unterbreitet, so unter anderem den Entwurf für eine neue Richtlinie über alternative Anlageformen, insbesondere Private Equity und Hedge Fonds, oder eine neue Architektur für die EU-Finanzaufsicht.
Der Vorstoß im Bereich der Private Equity und Hedge-Fonds wird als besonders sensibel angesehen. Die Sozialdemokraten haben Regulierungen in diesem Bereich zuoberst auf ihre Agenda gesetzt. Gemeinsam mit den Grünen und den Sozialisten übten sie harte Kritik am zurückhaltenden Ansatz des liberalen Binnenmarktkommissars Charlie McCreevy. Auch die Aufsicht im Finanzsektor wird im zweiten Halbjahr hoch auf die Agenda rücken. Der Larosiere-Report spiegelt sich im vorgelegten Entwurf der Kommission, auch wenn einige der weiterreichenden Vorschläge wie die eines zentralen EU-Supervisors gekippt wurden. Die Überarbeitung wurde von den meisten Parteien begrüßt. Ein detailliertes Paket zur Finanzaufsicht wird für den Herbst erwartet.
Schwedische Ratspräsidentschaft
Die schwedische Regierung trägt bei ihrer aktuellen EU-Ratspräsidentschaft eine schwere Bürde. Die Präsidentschaft befindet sich in einem organisatorischen Leerraum, der erst mit dem irischen Referendum gefüllt werden kann. Die Wirtschaftskrise wird die Agenda weitgehend fremdbestimmen. Und die Bundestagswahl so wie auch eine eventuell vorgezogene Wahl in Großbritannien machen es der schwedischen Regierung schwer, die Regierungen der großen EU-Mitgliedsstaaten an einen Tisch zu bekommen.
„Niemand beneidet Schweden um diese Aufgabe“, sagte Ministerpräsident Fredrik Reinfeldt jüngst bei seiner ersten Programmrede zur Ratspräsidentschaft. Seine Aussagen fallen dennoch überraschend selbstbewusst aus: Statt die Erwartungen zu dämpfen, hat er eine ambitionierte Zusammenstellung an Themen präsentiert, die Schweden im Präsidentschaftshalbjahr auf die Agenda setzen will.
Viele Beobachter trauen Schweden ein gutes Krisenmanagement zu. Die Bekämpfung der schwedischen Bankenkrise Anfang der neunziger Jahre ist sicherlich ein geeigneter Erfolgsmaßstab. Reinfeldt setzt aber auch hier höhere Ziele: „In Schweden hat es uns fast zehn Jahre gekostet, bis wir uns endgültig erholt hatten“, so der Ministerpräsident. „Wir müssen vermeiden, dass es auch diesmal so sein wird.“
Neben akuten Hilfsmaßnahmen wollen die Schweden die Bankenaufsicht verschärfen und Managerboni begrenzen, um ähnliche Krisen in der Zukunft zu vermeiden. Im Mittelpunkt der Krisenbekämpfung steht für Reinfeldt der Arbeitsmarkt. Schweden will Impulse für eine aktive Arbeitsmarktpolitik setzen. „Wenn ein Schiff sinkt“, so Reinfeldt, „ist mein erstes Ziel, die Besatzung zu retten – nicht das Schiff.“
Trotz Wirtschaftskrise hält Schweden an dem früh formulierten Ziel fest, die Präsidentschaft in den Dienst des Klimaschutzes zu stellen. Klimaschutz, so Reinfeldt, sei auch in Zeiten der Krise mehr als nur ein „grüner Traum“. Mit der UN-Klimakonferenz im Dezember ist die Chance gegeben, dass die EU einen wesentlichen Einfluss auf die globalen Klimaschutzziele der kommenden Jahre ausübt.
Krisenbekämpfung und Klimaschutz sind somit die beiden großen Ziele dieser Präsidentschaft. Ferner hat Stockholm programmatische Arbeit zu leisten, so bei der Nachfolge für die Lissabon-Strategie für Wachstum und Beschäftigung wie auch bei der Umsetzung des „Stockholm-Programms“ zur Zusammenarbeit bei Polizei und Justiz, das die Nachfolge des „Haager Programms“ antreten soll. Schweden will die Erweiterungsverhandlungen mit den westlichen Balkanstaaten vorantreiben und auch die Weiterführung des Dialogs mit der Türkei sichern. Dies, so untersteichen die Schweden, sei allerdings auch von den Bemühungen dieser Staaten selbst abhängig.
Ein besonderes Anliegen der schwedischen Regierung ist es, eine Ostseestrategie zu implementieren. Dies ist nicht der erste Versuch, die Ostsee als Handels- und Verkehrsknotenpunkt aus der Peripherie der mentalen Europalandkarte zu holen. Mit der EU-Präsidentschaft als Klangkörper könnten diese Versuche erstmals mit Erfolg beschieden sein.
Bei der letzten schwedischen Ratspräsidentschaft im Jahr 2001 hatte der damalige sozialdemokratische Regierungschef Göran Persson die Rolle des Ratspräsidenten genutzt, sich als europäischer Staatsmann zu positionieren. Diese Strategie wird Reinfeldt, ein Jahr vor der nächsten schwedischen Reichstagswahl, voraussichtlich auch fahren. Die Europäische Union kann daher mit einem Ratspräsidenten rechnen, der trotz der schwierigen Rahmenbedingungen und knappen Handlungsräume klare Akzente setzen wird.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Beruhigungsmittel- Regierungskommunikation in der finanzkrise. Das Heft können Sie hier bestellen.