Motor für Denken und Verhalten

Die Protestbewegung „Occupy Wall Street“ nimmt sich bewusst den Arabischen Frühling zum Vorbild. Sich jemanden so zum Vorbild zu nehmen, ist ein emotionaler Vorgang, ist Identifikation. „Occupy Wall Street“ ist erst einen Monat alt und bewegt schon die Länder der westlichen Hemisphäre. Das Treibmittel einer solchen Bewegung ist Emotion. Die Proteste könnten also für eine kollektive Emotion stehen, die anscheinend „spontan“ Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft vereint, Menschen mit unterschiedlicher Bildung, Einkommen und politischer Gläubigkeit.
Was aber ist eine kollektive Emotion, und worin besteht ihre besondere Bedeutung für die Politik? Kollektive Emotionen spiegeln das Zusammenspiel von Emotionen, Denken und Verhalten von Menschen in einem größeren Kontext, einer speziellen Epoche oder hinsichtlich besonderer Ereignisse. Ein eindrucksvoller Beleg hierfür ist das Geschehen in Nordafrika: Die Selbstverbrennung eines jungen Tunesiers rief in kürzester Zeit Massenproteste hervor, die sich wellenartig von einem nordafrikanischen Land zum anderen ausbreiteten.
Eine solche Entwicklung überrascht einerseits nicht: Man könnte sagen, dass die Zeit reif war im nordafrikanischen Raum. Die Ereignisse, sei es in Tunesien, Ägypten, Libyen, in Syrien oder im Jemen, wurden von einer für die Welt überraschenden Kraft getragen, die in kürzester Zeit etwas wirklich Neues schuf. Und das mit einer überraschenden, emotional überzeugenden, breiten Zustimmung in allen Teilen der Bevölkerung. Dies geschah auch unter Einsatz des Lebens der Protestierenden.
Diese Entwicklung überrascht andererseits, als man sich solche Phänomene in der Politik als Ausdruck kollektiver Emotionalität noch nicht hinreichend und überzeugend genug erklären kann. Man konstatiert zwar die Bedeutung von Emotionen und nutzt selbst die Gunst der Stunde im Sinne eigener Interessen. Die Motivation hierfür und das daraus resultierende gesellschafts-politische Verhalten haben ihren Grund in Emotionen. Sie werden aber nicht selten sachrational und strategisch verbrämt begründet.
Oft fehlt bei der Einschätzung von politischem Geschehen die Bereitschaft, sich dieses überhaupt als ein primär emotional geprägtes Geschehen vorzustellen. Würde dies doch ein Umdenken für die eigene politische Praxis sowie die politische Strategie nach sich ziehen. Ein Umdenken, das die eigene Hilflosigkeit im Umgang mit Emotionen im politischen Geschehen entlarven könnte.
Menschen entscheiden sich und handeln motiviert durch Gefühle, und weniger bestimmt durch rationales Denken, logische Argumente oder im Fall der Politik gar durch Parteiprogramme – das ist inzwischen für viele Lebensbereiche wissenschaftlich bestätigt. Politisch-ökonomische Faktoren und kollektive Gefühle wirken oft brisant zusammen – vor allem, wenn sich der ökonomische und gesellschaftliche Druck wie beispielsweise im nordafrikanischen Raum zuspitzt.
Ähnliches scheint bei „Occupy Wall Street“ der Fall zu sein. Ähnliches kann als Ursache des rasanten Erfolgs der Piraten in der bundespolitischen Landschaft vermutet werden.
Eine kollektive Emotion entspricht einer „von inneren oder äußeren Reizen ausgelösten, ganzheitlichen psycho-physischen Gestimmtheit von unterschiedlicher Qualität, Dauer und Bewusstseinsnähe“, sagt der italienische Autor und Psychiater Luc Ciompi. Kollektive Emotionen erfüllen danach immer zwei wesentliche Funktionen: Sie wirken einerseits wie ein Motor für Denken und Verhalten. In Nordafrika entfachten sie einen Flächenbrand, bei der Occupy-Bewegung scheinen sie wie aus dem Nichts, spontan auch Menschen zu mobilisieren, die noch nie in ihrem Leben auf einer Demonstration waren. Emotionen liefern die erforderliche Antriebsenergie. Sie bestimmen jeweils neu den Aufmerksamkeitsfokus. Sie öffnen oder verschließen die Gedächtnisspeicher. Sie reduzieren Komplexität und unterscheiden Wichtiges von Unwichtigem.
Kollektive Emotionen organisieren andererseits das Denken und das Verhalten, da sie in die Gesamtheit des menschlichen Denkens und Handelns einfließen. Jeder kennt das wahrscheinlich von sich selbst. Typische Denkstrukturen und Verhaltensmuster wirken vielleicht rational und logisch begründet, sind aber selbst getragen und gespeist durch einen – oftmals unbewusst bleibenden – emotionalen Erfahrungsprozess.
Ein Beispiel ist die Finanzkrise: In der Überzeugung, dass nur eine rationale Vorgehensweise die Krise wirklich lösen kann, neigen Politiker dazu, die Wirkung der tiefen Angst in der Bevölkerung vor dem großen Crash zu unterschätzen, aber auch den verzweifelten Zorn. Und sie unterschätzen die kollektiven Emotionen des Finanzmarkts selbst, sprich seine Widerstandsfähigkeit gegenüber rational begründeten Lösungen – getreu dem Motto: Wenn ich nicht darüber rede, kann es diese kollektiven Emotionen auch gar nicht geben. Und sie sind fasziniert von der Selbst-Suggestion, die faustischen Finanzmarktfesseln sprengen zu können, wenn man nur vernünftig genug sei.
Was aber macht Emotionen zu kollektiven, gemeinschaftsbildenden Emotionen? Die wissenschaftlichen Erkenntnisse über die sogenannten Spiegelneuronen zeigen anschaulich, wie sich die Fähigkeit des Menschen zu Empathie und Mitgefühl, zur Nachahmung und zur emotionalen Ansteckung hin entwickelt. Das motorische, sensorische und emotionale Verhalten Anderer kann der Mensch richtiggehend spiegeln. Vor allem spielen persönliche Vorbilder bei der sozialen Ausbreitung von positiven Emotionen eine Schlüsselrolle. „Auf demselben Mechanismus beruhen vermutlich ebenfalls die uns schon mehrfach begegneten Synchronisierungserscheinungen innerhalb einer Menschenmenge“, sagt Luc Ciompi.

Kollektive Emotionen – hier lässt sich von „emotionalen Milieus“ sprechen – können in unterschiedlicher Hinsicht für Politik eine Rolle spielen. Die folgenden Beispiele verdeutlichen das:

1. Der Kiez ist überall
Zur Abgeordnetenhauswahl in Berlin sind viele Parteien angetreten, gewissermaßen schickte jeder Kiez seine eigene Partei. Der unmittelbare Lebensraum macht das Leben der Menschen aus. Dort regieren Gefühle, Beziehungen, Erfahrungen und Nachbarschaftskultur. Dort begegnet man Freund und Feind, dort, im eigenen Lebensraum, will der Bürger von der Politik entsprechend gesehen und geachtet werden.

2. Gefühlte versus faktische Armut
Eine Hartz-IV-Empfängerin kann sich arm fühlen, und ein Rechtsanwalt mit einem Monatsgehalt von 5600 Euro fühlt sich womöglich ebenfalls arm. Will man dies zynisch nicht als Jammern auf hohem Niveau abtun, steht die Politik vor der Herausforderung, „emotionalen Milieus“ gerecht zu werden, statt Wählerpopulationen soziologisch und demographisch zu bestimmen.

3. Stuttgart 21
Menschen zeigen sich als mündige und vernünftige Bürger, wenn sie die zugeschriebene Rolle des Wutbürgers spielen, wie in Stuttgart (Stuttgart 21) oder in Duisburg nach dem Love-Parade-Unglück. Politische Versprechungen nach dem Motto „Glaubt uns, alles wird besser“ und „Wir wissen, was wir tun, denn wir haben alles geprüft“ schüren eher die kollektive Emotion.

4. Piratenpartei
Deutschland braucht „die naive Bereitschaft der neuen Akteure“ (Joachim Gauck), die den Mut haben, die politische Zuschauertribüne zu verlassen. Die Politik ist unerfahren mit dieser Art von Begegnung mit dem politisch engagierten Bürger. Sie versteht (noch) nicht die emotionale Choreografie dieser Chance auf Innovation.

5. Personifizierung in der Politik
Menschen identifizieren sich mit dem Politiker, den sie wählen. Dies findet seinen Ausdruck etwa im Phänomen zu Guttenberg, auch beim TV-Duell im Wahlkampf. Beide Identifikationsbühnen spiegeln eine emotionale (Beziehungs-)Dynamik, mit deren spezifischer Erklärung Politik sich noch schwer tut. Konstruktive politische Lösungen wirken also nur dann gesellschaftlich nachhaltig, wenn sie in der Lage sind dem Zusammenspiel der sachrationalen und emotionalen Logik gerecht zu werden.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe SPD – Eine Partei baut sich um. Das Heft können Sie hier bestellen.