In der griechischen Mythologie hat die Königstochter Kassandra die Fähigkeit, in die Zukunft zu sehen. Doch aufgrund eines Fluchs glaubte niemand an ihre Vorhersagungen. Ein ähnlicher Fluch lastet heute auf den so genannten Prognosemärkten, die auf Wetten beruhen. Sie versprechen einen Blick in die Zukunft, indem sie für sich in Anspruch nehmen, Wahlergebnisse präzise vorhersagen zu können. Aber sie werden den Ruf nicht los, unseriös zu sein. Empirische Studien bescheinigen ihnen zwar erstaunlich geringe Fehlerquoten, trotzdem führen sie in Deutschland ein Schattendasein. Hierzulande spielen klassische Meinungsumfragen die Hauptrolle, trotz ihrer Fehleranfälligkeit.
Anders sieht es in den USA aus. Dort sind Prognosemärkte seit langem etabliert. Bereits 50 Jahre vor der ersten erfolgreichen Meinungsumfrage zur Präsidentschaftswahl im Jahr 1936 sagten Wahlbörsen die neuen US-Präsidenten voraus. Bei immerhin elf von fünfzehn Wahlen lagen sie richtig. Der bekannteste Prognosemarkt ist heute der Iowa Electronic Market (IEM) der Universität von Iowa. Seit mehr als 20 Jahren liefert er präzise Ergebnisse bei den US-Präsidentenwahlen und schlägt regelmäßig die Meinungsforschungsinstitute. Bei den vergangenen Wahlen beispielsweise führte Barack Obama im IEM von Anfang an deutlich vor seinem Herausforderer John McCain, der bei den Spielern nie eine ernsthafte Chance hatte. Einige Umfragen hatten die Kontrahenten lange Zeit gleichauf gesehen.
Eine Konkurrenz für Umfragen
Ein Prognosemarkt funktioniert wie eine Börse: Spieler handeln Aktien einer Partei oder eines Kandidaten. Statt des Geldwerts gibt der Preis einer Aktie aber die prozentuale Stimmenanzahl wieder, von der die Spieler glauben, dass eine Partei sie erreichen wird. Liegt eine Aktie beispielsweise bei 35 Prozent, kann ein Spieler entweder auf einen steigenden oder fallenden Kurs wetten. Er kauft eine Aktie also entweder zu 36 Prozent oder zu 34 Prozent. Tritt das gewählte Ereignis am Wahltag ein, so gewinnt er. Je nach Angebot und Nachfrage verändert sich im Laufe der Zeit der Kurs der Aktien. Der aktuelle Tageskurs gibt dann Aufschluss über die Einschätzung einer Mehrheit der Spielergemeinschaft.
„Wettbörsen haben das Potenzial, präziser zu sein als Meinungsforschungsinstitute, wenn genügend Leute mitmachen und wenn die Anreize und die Liquidität stimmen“, sagt Peter Reinhardt, Leiter mitteleuropäische Märkte beim Online-Wettdienst Betfair. „Der Vorteil ist, dass die Leute ihr eigenes Geld einsetzen. Sie antworten nicht strategisch wie bei einer Umfrage, sondern sie wetten darauf, wie sie glauben, dass die Wahl ausgeht.“ Ähnliches gilt für Spielbörsen, die von Wissenschaftlern durchgeführt werden und Ergebnisse von vergleichbarer Genauigkeit liefern. Wahlbörsen könnten in der Zukunft sogar zu einer Konkurrenz für Meinungsumfragen werden. „Wenn man Märkte und Meinungsumfragen vergleicht, dann sehe ich einen Vorteil der Märkte“, sagt Andreas Geyer-Schulz von der Universität Karlsruhe. Geyer-Schulz forscht seit mehr als zehn Jahren zum Thema Prognosemärkte und entwickelte zusammen mit Kollegen den Political Stock Market, eine Online-Spielbörse für Wahlen. Der Vorteil an Wahlmärkten sei, dass diese jederzeit eine Aussage über das mögliche Wahlergebnis liefern, während Umfragen nur eine Momentaufnahme bieten würden, sagt der Wissenschaftler.
An der Universität Karlsruhe wurde vor kurzem eine Firma gegründet, die ihren Kunden anbietet, Spielbörsen für sie durchzuführen, um daraus Prognosen abzuleiten. So könnten sich langfristig Alternativen zu Umfragen ergeben. Das entscheidende Argument zu Gunsten von Wettbörsen könnten die Kosten sein. Während Meinungsforschungsinstitute für repräsentative Umfragen zum Teil mehrere hunderttausend Euro verlangen, kosten Spielbörsen nur einen Bruchteil davon.
Begrenzte Weisheit
Doch was steckt hinter den Prognosemärkten? Warum scheinen diese Wettbörsen qualitativ zumindest gleichwertige Vorhersagen über Wahlergebnisse zu erzielen wie Meinungsumfragen? In seinem Buch „Die Weisheit der Vielen“ gibt der New Yorker Journalist James Surowiecki eine Antwort. Er behauptet, dass die durchschnittlichen Prognoseergebnisse der Mitglieder einer Gruppe oft präziser seien als die meisten Einzelprognosen. Unter den vielen Beispielen, mit denen er seine These untermauern will, findet sich in dem Buch auch die Beschreibung des so genannten Publikumsjokers aus der Fernsehshow „Wer wird Millionär?“. Dort, so Surowiecki, finde das Saalpublikum, wenn es vom Kandidaten zur Hilfe gerufen wird, in der Mehrzahl der Fälle die richtige Antwortmöglichkeit. Und das, obwohl die meisten Zuschauer keine Experten auf dem jeweiligen Themengebiet seien.
Doch die „Weisheit der Vielen“ hat auch ihre Tücken. „Wenn alle von einer falschen Grundannahme ausgehen, dann liegt auch das durchschnittliche Urteil daneben“, sagt Wolfgang Scholl, Professor für Psychologie an der Berliner Humboldt-Universität. „Die Weisheit der Vielen ist schlicht ein Mechanismus des statistischen Fehlerausgleichs.“ Dasselbe gilt für Prognosemärkte: Wenn die Mehrzahl der Spieler von einer falschen Annahme ausgeht, ist auch das Ergebnis falsch. Bestes Beispiel sind die Bundestagswahlen von 2005: Nicht nur die Umfrageinstitute schätzten die Union viel stärker ein als die SPD, sondern auch die Wahlbörsen. Am Ende lagen beide daneben. Der vermutete Vorsprung der Union schrumpfte am Wahltag auf unter einen Prozentpunkt. Der Mittelwert einer Summe von Einzelurteilen verringert also lediglich die Fehlerwahrscheinlichkeit. Eine Garantie für die Richtigkeit des Ergebnisses ist er nicht.
„Wettbörsen werden sicher nicht zu einer Konkurrenz für uns werden“, sagt Yvonne Schroth, Vorstandsmitglied der Forschungsgruppe Wahlen. „Ich finde es interessant, solche Börsen zu beobachten“, sagt Schroth. Bei den Teilnehmern handele es sich jedoch um politisch interessierte Menschen mit Internetzugang. „Eine Wahlbörse ist nichts ohne informierte Spieler – und ihre Informationen beziehen diese wahrscheinlich aus Umfragen.“
Ähnlich sieht es der Mainzer Wahlforscher Jürgen Falter: „Wahlbörsen sind durchaus abhängig von der Veröffentlichung von Umfragen. Die politische Stimmung und die politische Meinung der Handelsteilnehmer können außerdem zu einer Verfärbung des Ergebnisses führen.“ Doch seien auch Umfragen nicht unproblematisch. Das größte Problem an ihnen sei, dass sie Stimmungen wiedergeben und keine wirklichen Prognosen seien, sagt Falter. Es werde im Voraus gemessen und das Ergebnis dann hochgerechnet. Insgesamt seien beide Verfahren unsicher. „Meinungsumfragen sind keine idealen Prognoseinstrumente, und Wahlbörsen haben ebenfalls ihre Unsicherheiten und Fehlprognosen. Wenn sie die beiden Methoden international vergleichen, gib es kaum Unterschiede, im Positiven wie im Negativen.“
Yvonne Schroth hält es deswegen für falsch, Prognosemärkte und Umfragen gegeneinander auszuspielen. „Es muss hinterfragt werden, für welche Grundgesamtheit die Zahlen repräsentativ sind“, sagt sie. Politiker und Medien sollten lernen, „mit Prognosen richtig umzugehen“. Die Griechen haben das im Falle Kassandras übrigens nicht gelernt. Nachdem sie die Ermordung des mykenischen Königs Agamemnons weissagte, wurde sie erdolcht.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Beruhigungsmittel- Regierungskommunikation in der finanzkrise. Das Heft können Sie hier bestellen.