Kampf um Mitte

In Berlin-Mitte schlägt das Herz der Demokratie. Hier sitzen Bundestag und Regierung, hier finden sich aber auch die Wahrzeichen, die Berlin weltweit bekannt gemacht haben: das Brandenburger Tor, das Reichstagsgebäude, Prachtbauten allenthalben. Ein Repräsentierstadtteil also, könnte man denken. Eigentlich nicht der typische Ort, um im Sommer ein Duell um ein Bundestagsmandat zu führen. Doch der Schein trügt.
Eva Högl ist bei der Bundestagswahl die Direktkandidatin der SPD im Wahlkreis Mitte. Die 40-Jährige ist seit kurzem Bundestagsabgeordnete, im Januar rückte sie für den ausgeschiedenen Abgeordneten Dietmar Staffelt nach. Jetzt will sie den Bezirk direkt gewinnen.
An einem Märzmorgen steht Högl vor dem großen Portal einer Oberschule in Wedding. Wedding? Der Fahrdienst des Bundestags hat zweimal gefragt, wohin er sie fahren soll. Normalerweise verirren sich nicht viele Abgeordnete in diesen „Problemkiez“. Doch auch der ist Teil vom Wahlkreis Mitte.

Kein Vorzeigebezirk

Seit der Gebietsreform von 2001 gehört der Ortsteil Wedding zum Bezirk Mitte, ebenso wie Gesundbrunnen, Tiergarten und Moabit. Der ganze Stadtbezirk hat ungefähr 320.000 Einwohner. In Wedding leben um die 75.000, davon 23.000 nichtdeutscher Herkunft. Die Arbeitslosigkeit liegt über zehn Prozent, die Gewaltkriminalität ist überdurchschnittlich hoch. Die Wahlbeteiligung in den vergangenen Jahren ist eine der niedrigsten in der Stadt. Keine heile Welt also, und vor allem: eine andere Welt als das repräsentative Berlin-Mitte um den Pariser Platz.
Heute besucht Eva Högl das Lessing-Gymnasium im Wedding. Sie wirkt motiviert und unterhält sich angeregt mit dem Schulleiter, während sie das Gebäude betritt. Das Gymnasium ist eine Vorzeigeschule, die innen aussieht wie eine Burg. Der Innenhof ist umrahmt von hohen Fassaden, die Schule ist 100 Jahre alt. Das Gymnasium hat einen hohen Migranten-Anteil, zugleich aber auch einen ausgezeichneten Ruf als Bildungstempel: Expressabitur, Hochbegabtenförderung und ein breites Fächerangebot. Högl diskutiert mit Schülern und zwei Lehrern der Oberstufe über die Europäische Union. Es ist EU-Projekttag in Berlins Schulen.
Ob die Türkei in die EU aufgenommen wird, will eine Schülerin wissen. „Die Türkei wäre eine Bereicherung für Europa, aber es ist ein sehr langer und schwieriger Weg“, sagt Högl. Die Abgeordnete lächelt die meiste Zeit etwas angestrengt, doch zugleich versprüht sie auch Energie. Sie gestikuliert viel mit den Händen, wenn sie spricht. „Politik muss auch unbequeme Positionen vertreten“, sagt sie. Die Aufnahme der Türkei ist ein vieldiskutiertes Thema in der Schulklasse. Ein Schüler zweifelt den Sinn der Aufnahme an. Auch unter Türken sei das Thema nicht unumstritten, sagt er. Högl argumentiert für den Beitritt, zählt die Vorteile auf, wägt ab, geht auf Gegenargumente ein und verteidigt ihren Standpunkt. Die Klasse ist interessiert und aufmerksam, Einzelne stellen immer wieder Fragen. Die Mehrheit stimmt ihr zu, den zweifelnden Schüler kann sie aber nicht überzeugen.
In der gleichen Woche in einer anderen Schule: Christian Burholt ist zu Besuch, der CDU-Kandidat in Mitte. Er sieht aus wie ein Buchhalter: gescheiteltes Haar, randlose Brille, Mantel, Aktentasche. Der 36-jährige Rechtsanwalt arbeitet in der internationalen Kanzlei Freshfields am Potsdamer Platz. Seine offene und freundliche Art überrascht angesichts der äußerlichen Strenge. Die evangelische Schule Berlin-Mitte ist eine Privatschule. Man würde bei einer solchen mindestens ein Dutzend S-Klasse-Mercedes gutsituierter Eltern erwarten. Doch viele bringen ihre Kinder zu Fuß oder mit dem Fahrrad in die Schule. Das Gebäude wirkt renovierungsbedürftig, fast baufällig, und erinnert von außen an einen Verwaltungsbau.

Schulische Probleme

Christian Burholt macht einen Rundgang durch das Gebäude. Die Schulleiterin zeigt ihm einzelne Klassen und erklärt das pädagogische Konzept. Anfangs wirkt der CDU-Mann skeptisch. Es gibt weder festen Gemeinschaftsunterricht noch einen vorgegebenen Lehrplan. Einige Schüler sitzen auf dem Flur und arbeiten, andere in den Klassen. Jeder Einzelne wird individuell gefördert und zum selbstständigen Lernen erzogen. Die Kinder entscheiden selbst, an welchem Tag in der Woche sie Mathe machen und wann sie Englisch lernen. Nur der Religionsunterricht hat einen festen Platz im Stundenplan.
Die Schule liegt zwischen Alexanderplatz und Hackeschem Markt. Hier leben viele Selbstständige und Freiberufler. Die Kreativwirtschaft ist ein typischer Wirtschaftszweig des Viertels. Wedding dagegen ist ganz anders, ein klassisches Arbeiterviertel. Das Besondere am Bezirk Mitte sei die Heterogenität, sagt Burholt. Antworten auf die Probleme der Menschen hier zu finden, sei eine große Herausforderung, aber auch eine Chance.
Die Evangelische Schule, die er besucht, leidet besonders unter Finanzierungslücken. Die Bausubstanz ist schlecht, für die Integration von behinderten Kindern werden Sonderpädagogen benötigt. Ohne das Engagement der Eltern wäre es noch schlimmer. „Ich kann nur sagen, ich werde mich für die Schule einsetzen“, sagt Burholt im Gespräch mit Lehrern und Eltern. Die Eltern wirken skeptisch, doch der Umgang ist ausgesucht höflich. Burholt gibt sich nach einer Weile überzeugt von dem Schulkonzept. Er diskutiert über Probleme der Bildungspolitik. Er zeigt sich energisch. Langsam tauen die Eltern auf. Die Stimmung wird freundlicher.
In den Ortsteilen müssen die Kandidaten um jede Stimme kämpfen. Die Arbeiterviertel Wedding und Gesundbrunnen stehen genauso im Fokus wie die eher bürgerlichen Gebiete Süd-Tiergarten und Alt-Mitte. Auch die traditionell linken Hochburgen Leipziger Straße und Fischerinsel neigen heute nicht mehr eindeutig einer Partei zu. Nur Unter den Linden ist die Sache klar: Wenn die Kandidaten hier Wahlkampf machen, dann wissen sie, dass sie zum Beispiel mehr der SPD im Schwabenland oder der CDU in Niedersachsen helfen als ihrer eigenen Kandidatur. Die Prachtstraße ist fest in Touristenhand.
Eva Högl hat sich mit dem Direktor des Lessing-Gymnasiums und zwei Lehrern zusammengefunden. Zwar ist die Schule einer der Leuchttürme in Berlins Schullandschaft, doch gibt es auch hier Sorgen. Vor allem an der Ausstattung mangelt es. Der Schulleiter erzählt von Erfolgen und Mängeln der Schule. Er ist ernst, verhält sich abwartend, als würde er verhandeln. Eva Högl kämpft um seine Gunst. Sie stellt ihm Fragen, redet über die Bildungspolitik in der Stadt Berlin, hört zu. „Sie können sich jederzeit an mich wenden, ich werde mich für Ihre Belange einsetzen“, sagt sie schließlich. Auf einmal wird der Direktor lockerer. Er wirkt zufrieden, lächelt.
Es ist das zweite Mal, dass Högl für den Bundestag kandidiert, aber das erste Mal als Direktkandidatin. 2005 erreichte sie Platz sieben auf der Landesliste. Das reichte nicht. Sie ist Juristin, spezialisiert auf Europäisches Recht und promovierte über die Europäische Sozialordnung. Högl hat schon im Parteivorstand der SPD und im Arbeitsministerium gearbeitet. In der Politik kennt sie sich aus. „Ich setze mich dafür ein, dass Berlin-Mitte noch besser zusammenwächst. Neben Potsdamer Platz und Brandenburger Tor sollten die Menschen auch den Wedding und Tiergarten kennen und schätzen lernen.“ Ihre Schwerpunkte liegen neben der Europa- auf der Arbeits- und Sozialpolitik, auf Integration und Bildung.

Eine realistische Chance

Auch Burholt promovierte über europäisches Wirtschaftsrecht. Für ihn ist es die erste Bundestagskandidatur. Trotzdem kennt er das Umfeld. Fünf Jahre hat er für einen Bundestagsabgeordneten gearbeitet, zunächst in Bonn und nach dem Regierungsumzug dann in Berlin. „Eines der Kernthemen in Mitte werden die Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise sein. Das betrifft alle. Ich möchte mich dafür einsetzen, dass es wieder aufwärts geht und die Bürger vom nächsten Aufschwung profitieren.“ Innere Sicherheit, Integrationspolitik, Familie und Bildung nennt er als weitere Schwerpunkte seiner Arbeit.
Burholt wittert seine Chance, falls die anderen Parteien Stimmen der SPD abgreifen. Das ist nicht unrealistisch. Die Grünen sind mit ihrem Bundestagsabgeordneten Wolfgang Wieland gut aufgestellt. Er war lange Jahre Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses und Justizsenator. Auch die Linkspartei hat mit ihrem Landesvorsitzenden Klaus Lederer ein bekanntes Gesicht aus der Berliner Politik im Rennen. Beide Parteien gewannen letztes Mal an die 14 Prozent der Stimmen, und das war vor den rosigen Umfragewerten, die sie heute erreichen. Kurt Lehner wiederum ist der Kandidat der FDP, die 2005 mit 3,7 Prozent abgeschlagenes Schlusslicht war. Gemeinsam ist allen Kandidaten, dass sie Juristen sind und dass sie möglichst viele Stimmen gewinnen wollen. Da enden die Gemeinsamkeiten aber schon.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Die Meinungsmacher. Das Heft können Sie hier bestellen.