„Internet ist wie Radioaktivität“

p&k: Herr Schell, wie müssen wir uns politische Kommunikation in China vorstellen?
Orville Schell: Dort konkurrieren zwei Formen der Kommunikation. Zum einen steht China noch immer in der kommunistischen und konfuzianischen Tradition, nach der der Staat vorgibt, wie über ein Thema gesprochen wird. Doch das Land hat sich geöffnet: Kommunikation soll nicht mehr nur Sprachrohr der Regierung sein, sondern auch Raum für Individuen bieten. Der Staat behält aber die Oberhand. Die Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit gibt das Drehbuch vor, nach dem die Medien sich richten.
Also ist Propaganda und Pressearbeit dasselbe?
Ja, aber es gibt neue Kräfte, die andere Ziele verfolgen – mehr Magazine zu verkaufen oder Werbung besser zu platzieren. Auch wirtschaftliche Interessen entscheiden, was in die Medien gelangt.
Aber das letzte Wort hat die Regierung?
Genau. Eine kontroverse Berichterstattung über Führungspersönlichkeiten, das Regierungssystem und Außenpolitik ist tabu. Journalisten sollten diese Themen umgehen, wenn sie Schwierigkeiten vermeiden wollen.
Welchen Stellenwert hat die Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit in der chinesischen Gesellschaft?
Die Menschen sind grundsätzlich skeptisch – wie in der früheren DDR. Dennoch bestimmt die Propaganda die Grundstimmung.
Könnte sich durch das Internet eine Vierte Gewalt in China entwickeln?
In gewisser Weise ist das Internet bereits eine Vierte Gewalt; allerdings kontrolliert der Staat das Netz heftig. Doch die Millionen chinesischer Micro-Blogger produzieren Nachrichten, die sich verbreiten, bevor die Regierung sie aus dem Netz nehmen kann. Es ist ein großes Katz-und-Maus-Spiel. Viele Leute fühlen sich im Internet wohl, da es dort anonymer zugeht. Es gibt aber Zehntausende von Beamten, die das Netz überwachen und politisch inkorrekte Seiten abschalten.
Ist diese Internet-Kontrolle auf lange Sicht nicht zum Scheitern verurteilt?
Seit zehn Jahren heißt es, die chinesische Regierung könne das Internet nicht kontrollieren, doch seit zehn Jahren beweist sie das Gegenteil. Ob China das dauerhaft schafft, ohne das Internet abzuschalten, ist ein Experiment. Das Internet ist wie Radioaktivität: Einmal freigesetzt, ist es kaum wieder einzudämmen.
Existiert ein Dialog zwischen Zivilgesellschaft, Medien und der Politik?
Die Bürger können ihren Unmut nicht direkt äußern, aber die Regierung beobachtet die Stimmung in der Bevölkerung, da sie um ihren Machterhalt und die soziale Stabilität besorgt ist.
Und das tut sie zum Beispiel über Online-Fragestunden mit Politikern?
Der Premierminister hat so etwas mal gemacht. Allerdings sucht die Regierung die Themen aus, kritische Fragen fallen unter den Tisch. Dennoch ist das Internet auch in China eine bedeutende Form der Kommunikation zwischen Bürgern und politischen Eliten.
Wenn die Bürger es schon nicht können, kann denn die Wirtschaft online Kampagnen führen und Druck auf die Regierung ausüben?
Die Regierung duldet einfach nicht, öffentlich unter Druck gesetzt zu werden. Wenn ein großes Unternehmen etwas braucht, wird es jemandem in der Regierung einen Gefallen tun. Aber den Bürgern gelingt es inzwischen vereinzelt, sich Gehör zu verschaffen, etwa beim Thema Lebensmittelsicherheit. In solchen Fällen protestieren die Bürger lautstark – allerdings auf lokaler Ebene. Einen Brief an Präsident Hu Jintao zu schreiben, ist nicht ratsam.
Die westliche Welt stößt sich an der Menschenrechtsfrage. Versucht China, die Kritiker von seiner Politik zu überzeugen?
Die Chinesen fühlen sich immer weniger genötigt, auf westlichen Druck einzugehen, da sie wirtschaftlich so stark geworden sind. Früher mussten Dissidenten freigelassen werden, wenn ein westlicher Minister zu Besuch kam. Heute hören sie sich die Kritik an, aber es passiert nichts.
Die Meinung des Westens beeinflusst die politische Kommunikation in China nicht?
Diesen Eindruck erwecken die Chinesen gerne. In Wahrheit legen sie viel Wert darauf, da sie 150 Jahre lang um unseren Respekt gerungen haben. Gegenüber westlichen Ratschlägen ist China jedoch resistenter geworden – und bringt das zum Teil deutlich zum Ausdruck.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe SPD – Eine Partei baut sich um. Das Heft können Sie hier bestellen.