„Ich bin im Reinen mit mir“

p&k: Herr Ministerpräsident, Ende August scheiden Sie nach elf Jahren als hessischer Ministerpräsident aus dem Amt: Haben Sie alles erreicht, was Sie erreichen wollten?
Roland Koch: Zu 100 Prozent fertig wird man wahrscheinlich nie: Sobald die eine Aufgabe bewältigt ist, warten schon fünf andere. Aber grundsätzlich bin ich mit dem, was ich erreicht habe, außerordentlich zufrieden. Ich hatte das Glück, zusammen mit einer sehr fähigen Landesregierung eine Vielzahl von wichtigen Projekten zu realisieren, die Hessen zu dem gemacht haben, was es heute ist: Ein erfolgreiches Bundesland mit einer modernen Organisation, einer hervorragenden Infrastruktur, mit dem höchsten Bruttoinlandsprodukt aller deutschen Flächenländer und den besten Verdienstmöglichkeiten, ein Land, in dem sich die Menschen wohlfühlen können. Es hat mir große Freude gemacht, die Politik in diesem Land über einen so langen Zeitraum mitzugestalten. So konnte ich viele Dinge nicht nur anstoßen, sondern auch erleben, wie sie fertig wurden.

Politischer Einfluss, mediale Aufmerksamkeit und finanzielle Unabhängigkeit: Wird Ihnen der Abschied von der Macht schwerfallen?
Mit dem Gedanken daran, etwas völlig Neues zu machen, musste ich mich ja schon vor zwei Jahren beschäftigen. Seit dieser Zeit weiß ich, dass ich auch außerhalb der Politik eine Beschäftigung finden werde, zumal ich auch vor 1999 über sehr lange Zeit beruflich auf zwei Beinen stehen konnte. Aber natürlich empfinde ich nicht nur pure Vorfreude auf den neuen Lebensabschnitt. Es ist schon Wehmut dabei. Da ist zum Beispiel der Abschied von den vielen engagierten Mitstreitern und Mitarbeitern, mit denen ich zusammenarbeiten durfte. Oder der Verlust von Gestaltungsmöglichkeiten, die einem das Amt des Ministerpräsidenten in einer ganz einzigartigen Bandbreite bietet. Ich war mir immer darüber im Klaren, dass der Abschied für mich auch Risiken und Nebenwirkungen mit sich bringt.

Bleiben Politiker zu lange im Amt, gelten sie oft als „Pattex-Politiker“. Treten Sie im Lauf einer Krise zurück, werfen ihnen die Medien „Fahnenflucht“ vor. Ist es für Politiker unmöglich, das Richtige zu tun?
Das Leben wäre sehr einfach, wenn immer klar wäre, was „das Richtige“ ist. Das schließt natürlich nicht aus, dass es Menschen gibt, die davon überzeugt sind, es stets zu wissen und deswegen glauben, dass sie das Handeln anderer zu 100 Prozent beurteilen könnten. Das macht es für Politiker umso wichtiger, auf ihren eigenen inneren Kompass zu vertrauen und Kritik in Gelassenheit zu ertragen. Und an Zustimmung und Kritik hat es bei mir ja nie gefehlt. Nach meinem Verständnis von Politik gehört das dazu. „Everybody’s darling“ wollte ich nie sein. Ich denke, für mich aus freien Stücken den richtigen Zeitpunkt für den Abschied gefunden zu haben.

Kurze Zeit nach Ihnen hat auch Hamburgs Bürgermeister Ole von Beust seinen Rückzug aus der Politik angekündigt. Verlangen die Deutschen zu viel von ihren Politikern?
Die Bürger haben jedes Recht, viel von denen zu verlangen, die sie regieren. Gleichzeitig haben auch Politiker das Recht, in einem gewissen Rahmen über ihr eigenes Leben zu entscheiden. Dazu gehört, zu einem angemessenen Zeitpunkt aus freien Stücken gehen zu können, ohne gleich als „Fahnenflüchtiger“ verurteilt zu werden.

„Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen“, lautet einer der bekanntesten Ratschläge von Helmut Schmidt. Sind der deutschen Politik die Visionen ausgegangen?
Ohne Helmut Schmidt, den ich persönlich sehr schätze, zu nahe zu treten: Im Gegensatz zu ihm bin ich nicht der Meinung, dass Visionen stets ärztlich zu behandeln wären. Nur wer Perspektiven und Visionen hat, kann etwas bewegen. Die Kunst ist jedoch, den Schritt von der Idee zur Umsetzung zu schaffen. Glücklicherweise gibt es noch eine ganze Reihe von Politikern in Deutschland, die genau das können und es auch tun.

In der Politik bestimmt meist ein voller Terminkalender den Tagesablauf. Gab es für Sie Momente des Innehaltens, der Reflexion?
Bei einem Job mit 80 bis 100 Wochenstunden ist es außerordentlich wichtig, dass man geistig die Tür hinter sich zu machen kann. Wenn man keine klaren Grenzen ziehen kann zugunsten der eigenen Ausgeglichenheit, dann wird man schnell zu einem Getriebenen, der seinen Beruf nicht mehr mit der notwendigen Leidenschaft ausüben kann. Mir ist es glücklicherweise immer gelungen, in angemessener Weise abzuschalten.

Sie wollen sich nun bis zum Ende des Jahres eine Auszeit gönnen. Was sind Ihre Pläne für diese Zeit?
Zunächst einmal werde ich Abstand nehmen von Terminen, die Zeit nutzen, um auszuschlafen, zu verreisen, all das zu tun, was in den letzten Jahren zu kurz kam. Dazu gehört auch, meiner großen Leidenschaft zu frönen, also meine Kenntnisse am Herd zu erweitern, vielleicht als Praktikant in einer gehobenen Großküche. Gleichzeitig werde ich mich weiter nach einer spannenden Beschäftigung umschauen.

Die Entscheidung, Politiker zu werden, ist ein tiefer biografischer Einschnitt. Als Sie Ihren Rücktritt angekündigt haben, sagten Sie: „Amt und Mensch dürfen nicht verwachsen.“ Wie schwierig wird es, den Privatmensch Roland Koch wiederzuentdecken?
Elf Jahre in einem solchen Amt verändern einen: Der andauernde Entscheidungsdruck, die hohe Verantwortung, die ohne Unterbrechung geforderte Präsenz, das alles legt man nicht von heute auf morgen ab. Ich war mir aber immer über die Gefahr im Klaren, die in so einem Amt darin besteht, den Bezug zum realen Leben zu verlieren. Dieses Bewusstsein und die Erdung durch meine Familie haben mir dabei geholfen, nicht abzuheben. Den Privatmenschen Roland Koch muss ich also nicht erst wiederentdecken – es hat ihn die ganze Zeit gegeben.

Sie wurden oft als „Hardliner“ und Polarisierer kritisiert; viele klagen jetzt bereits über Ihren Rückzug. Sind Sie überrascht?
Die Aufmerksamkeit ist größer, als ich erwartet habe. Ich bin noch immer der Meinung, dass es zum Job des Politikers gehört, Dinge auf den Punkt zu bringen. Auch wenn das hier und da unbequem sein mag und es einen nicht bei allen beliebt macht. Insgesamt bin ich nicht unzufrieden mit dem, was nach meiner Ankündigung geschrieben wurde, mit allen Ausschlägen nach der einen und der anderen Seite. Ich bin ziemlich im Reinen mit mir, aber auch mit denjenigen, von denen ich mich verabschiedet habe.

Sie haben die Politik einmal als „Droge“ bezeichnet. Können Sie ausschließen, dass Sie in ein paar Jahren rückfällig werden?
Ich habe diese Entscheidung nicht getroffen, um ein ruheloser Wanderer zwischen zwei Welten zu werden. Definitiv strebe ich keine aktive Rolle mehr in meiner Partei oder ein Regierungsamt an. Mit einigem Abstand zur Tagespolitik werde ich sicherlich hier oder da auch mal meinen Senf dazugeben – ansonsten bin ich optimistisch, dass mir der Entzug gelingen wird.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Raus aus der Mühle – Warum Politiker zurücktreten. Das Heft können Sie hier bestellen.