Estland zeigt, wie es geht

p&k: Bei den US-Präsidentschaftswahlen haben viele Wähler ihre Stimme nicht mehr auf dem Papier, sondern online abgegeben. Auch in Estland gibt es seit 2007 bei Parlamentswahlen die Möglichkeit des E-Votings. Ist das Verfahren in beiden Ländern dasselbe?
Kristjan Vassil: Nein. Bei den US-Wahlen wurden in den Wahllokalen sogenannte DRE-Wahlmaschinen aufgestellt, mit denen der Wähler seine Stimme online abgeben konnte. In Estland muss man dafür nicht extra in ein Wahllokal gehen. Die Bürger können landesweit von jedem Computer mit Internetzugang aus oder per Smartphone an der Wahl teilnehmen.
Wie funktioniert das konkret?
Der estnische Personalausweis ist mit einer Chipkarte ausgestattet, mit der man sich anhand eines Kartenlesegeräts im Computer einloggt. Mit einem Pin-Code identifiziert sich der Wähler. Stimmen die Daten, erscheint die Wahlliste mit den Kandidaten. Ein zweiter Pin-Code dient als digitale Unterschrift. Damit bestätigt der Wähler seine Wahl und seine Stimme wird verschlüsselt an den Server der Wahlkommission gesendet.
Bei den estnischen Parlamentswahlen 2011 gaben rund 24 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme per Internet ab. Was macht E-Voting in Estland so erfolgreich?
Das Vertrauen in das System. Estland ist sehr aufgeschlossen gegenüber digitalen und technischen Innovationen, deshalb ist das Vertrauen in E-Voting viel größer als in anderen Ländern wie etwa Deutschland. Aber dieses Vertrauen kann schnell erschüttert werden, selbst wenn bei Hackerangriffen kein ernsthafter Schaden angerichtet wird.
In den USA gab es am Wahltag den Fall eines defekten Wahlcomputers, der auf den republikanischen Präsidentschaftskandidaten Mitt Romney umgeschaltet hat, wenn der Wähler seine Stimme für Barack Obama abgeben wollte; schnell gab es Gerüchte über Manipulationen. Wie sicher ist das E-Voting System in Estland?
Hundertprozentige Sicherheit gibt es natürlich nicht. Bei den Parlamentswahlen in Estland im März 2011 hat es ein Student geschafft, in das E-Voting-System einzudringen. Er hatte ein Programm geschrieben, das verhindert, dass die abgegebene Stimme beim Server ankommt. Das war zwar ein Einzelfall. Er hat allerdings gezeigt, dass die Verifizierung der Stimmen bei der Internetwahl problematisch ist. Daher hat das estnische Parlament auf eine Änderung des technischen Verfahrens beim E-Voting bestanden.
Wie sieht dieses Verfahren aus?
Im Wesentlichen handelt es sich dabei um einen Feedback-Mechanismus, der dem Wähler mitteilt, dass seine Stimme angekommen und gezählt wurde. Dieses neue E-Voting-System soll erstmals bei den Lokalwahlen 2014 eingesetzt werden.
Werden durch E-Voting eigentlich neue Wählerschichten mobilisiert?
Nein. Zurückliegende Wahlen in der Schweiz, in Großbritannien, den Niederlanden und in Estland haben gezeigt, dass sich die Wahlbeteiligung durch E-Voting insgesamt kaum verändert hat.
Woran liegt das?
Am sogenannten Flaschenhals-Effekt: Der typische E-Voter ist urban, jung, gut gebildet, politisch interessiert und zumeist recht wohlhabend. Er gehört zu denjenigen, die sowieso zur Wahl gehen würden. Für diese Klientel ist die Internetwahl nur eine einfachere und effizientere Form der Wahlbeteiligung. Trotzdem öffnet E-Voting ein schmales Fenster, um bestimmte politikferne Bürger zu mobilisieren. Für sie ist die Internetwahl in technischer Hinsicht faszinierend, deshalb geben sie ihre Stimme ab. In ein normales Wahllokal würden sie nicht gehen.
Die Bundesregierung hat 2009 für die Organisation der Bundestagswahl 65 Millionen Euro ausgegeben. Macht E-Voting die Wahlen kosteneffizienter?
Eindeutig ja. Denn die in Estland praktizierte Form des E-Votings macht Wahllokale, Stimmzettel, Papier und Materialien überflüssig und erfordert weniger Arbeitskräfte. Große Länder wie Deutschland könnten davon sehr profitieren.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Wann bringen Sie Angela Merkel das Twittern bei, Herr Altmaier? – Fragen an den Politiker des Jahres. Das Heft können Sie hier bestellen.