Einzigartiger Thrill

Dienstag, 24. Mai, 10:00 Uhr
Berlin, WBH, SPD-Parteivorstand

Es ist der Dienstag nach der NRW-Wahl und ich sitze im Büro von Kajo Wasserhövel, dem Bundesgeschäftsführer der SPD. Er hatte noch am Sonntag bei mir angerufen und nun sprechen wir gemeinsam mit seiner Vertrauten Svenja Hinrichs darüber, wie man mit diesem Wahlkampf umgeht, den es vor 48 Stunden noch nicht gab.
Tatsächlich sprechen wir über eine Wahl, von der noch nicht einmal feststeht, ob sie stattfinden wird. Ein amtierender Bundeskanzler mit einer parlamentarischen Mehrheit will Neuwahlen. Dem müssen am 1. Juli erst der Deutsche Bundestag, dann das Bundesverfassungsgericht und schließlich der ebenso unerfahrene wie überraschte Bundespräsident zustimmen. Das bedeutet auch, dass in einer politisch hoch aufgeladenen Zeit „offiziell“ kein Wahlkampf gemacht werden kann, da die SPD als Regierungspartei natürlich die Entscheidungen der Verfassungsorgane abwarten muss – alles andere wäre respektlos. Oder würde sogar Ablehnung provozieren.
Dennoch: Wir gehen davon aus, dass spätestens im September gewählt wird.
Aber wer um Himmels willen sollte einen Bundeskanzler wählen, der dem Volk soeben seinen Rücktritt eingereicht hat? Wird er überhaupt antreten? Und wie reagiert die Basis darauf, die man für einen Wahlkampf braucht? Also die hunderttausende freiwilligen Helfer, die eine Kampagne überhaupt erst auf die Straße bringen.
Ein General hat eine Armee, ein Unternehmen einen Außendienst, wir haben nichts außer der Kraft der Motivation und Überzeugung. Und die ist nicht vorhanden. An diesem Montag steckt mir noch sehr viel in den Knochen und die Aussicht, direkt nach NRW in die nächste Schlacht ohne Chancen zu ziehen, ist alles andere als verlockend. Kajo Wasserhövel spürt das und ich sage es ihm auch. Die Mitinhaber meiner Agentur, Rolf Schrickel und Oliver Lehnen, haben mir freie Hand gegeben, für oder gegen diesen Wahlkampf zu entscheiden. Allerdings tendieren beide eher zur Absage und ich auch. Ein Wahlkampf ist auch für eine Werbeagentur eine sehr öffentliche Angelegenheit. Eine Niederlage kratzt am Siegerimage und Nimbus – und viel mehr als einen Nimbus haben wir nicht. Viele helle Köpfe, ein gutes Image und ein paar Computer sind das einzige Kapital einer Kommunikationsagentur. Parteipolitik polarisiert zusätzlich unsere Kundschaft – denn unter den Firmenbossen, die uns ihre Marken anvertrauen, sind vermutlich nicht allzu viele Sozen. Auf der anderen Seite steht der einzigartige Thrill genau dieses Risikos. Und meine Kompagnons wissen auch, wie sehr mein Herz an Wahlkämpfen hängt. Deshalb trauen sie mir nicht so ganz über den Weg, wenn ich von Absage spreche. Natürlich völlig zu Recht.
Andere wollen in ihrer Jugend Pilot werden. Ich wollte Wahlkämpfe machen. Ich weiß nicht, warum. Auf einem Symposium in Berlin begegnete mir vor kurzem ein Freund aus Grundschulzeiten, der als Erstes sagte: „Du warst der Einzige, der ’76 einen SPD-Wimpel am Bonanza-Rad hatte.“ Da war ich 11 und von meinen Eltern hatte ich nur das Rad. 1982 bastelte ich mir einen Helmut-Schmidt-Button und hörte im Gymnasium mit einem kleinen Kofferradio und Kopfhörern im Unterricht die Debatte zum konstruktiven Misstrauensvotum, das Helmut Kohl ins Amt brachte. Kurze Zeit später trat ich in die SPD ein und meine Eltern traten mich wieder aus, weil ich noch minderjährig war. Egal. Ich wollte Kampagnen machen. Später ging es Schlag auf Schlag.
Mit 25 durfte ich beim Aufbau der DDR-Opposition helfen, mit 26 war ich Praktikant bei Al Gore, mit 27 mittendrin in der Clinton/Gore-Kampagne. Seither gehe ich in den Schaltzentralen der Macht ein und aus. Ich habe die süßesten Siege gefeiert und bittere Niederlagen beweint. Ich habe erlebt, wie aussichtslose Oppositionsführer in die Staatskanzlei zogen und Politstars ihren Schreibtisch räumen mussten.
Ich bin Werber. Manche meiner Kollegen meinen, es gäbe nichts Aufregenderes, als Werbung für ein Luxusauto zu machen. Mit nahezu unerschöpflichen finanziellen Mitteln, den geilsten Autos, den besten Fotografen und Regisseuren, den schönsten Models an kurvenreichen Straßen und Stränden von Rio bis Monaco. Aber wenn man das gegen ein muffiges Zimmer mit kaffeebeflecktem Teppichboden und einer Handvoll Parteifunktionären in schlechten Anzügen tauschen kann, fällt die Wahl natürlich leicht.
Nichts ist spannender als eine Wahl, denn nichts ist endgültiger. Es gibt kaum die Möglichkeit, in einer Kampagne einen Fehler zu korrigieren. Wenn eine Kampagne für ein Parfum, ein Auto oder einen Schokoriegel nicht richtig läuft, dann kann ich nachjustieren, relaunchen, die Agentur feuern und nochmal von vorn anfangen. Bei einer Wahl geht das nicht. Am Wahltag ist Zahltag und man ist bei den Gewinnern oder bei den Verlierern. Jede Kampagne macht Fehler. Bei den erfolgreichen spricht später niemand mehr darüber. Bei den erfolglosen spricht später niemand mehr über etwas anderes. Ich bekomme 24 Stunden Bedenkzeit.

Freitag, 5. August, Kassel
Mobilisierungskonferenz

Jetzt geht’s lohoos. Heute im Zug nach Kassel. Hier werden die SPD-Funktionäre mit Schröder und Müntefering auf den Wahlkampf eingestimmt. Für mich wichtiger: Der Bundesgeschäftsführer präsentiert die Plakate, und auch der Kino-Spot „Zu lange?“ feiert seine Premiere vor Publikum. Das ist der Spot, in dem man 40 Sekunden lang Merkel, Westerwelle und Stoiber sieht, und dann kommt als Frage: „40 Sekunden sind Ihnen schon zu lange?“
Die Stimmung im Saal ist erstaunlich gut, Schröder heizt ganz okay ein – auch wenn noch Luft nach oben bleibt. Er muss dann los, „weil die Doris heute Geburtstag hat.“ Die meisten im Saal scheinen dafür Verständnis zu haben. Ich nicht, die hat doch nächstes Jahr wieder Geburtstag. Egal. Münte bellt dann noch mal den Saal auf Habt-Acht-Stellung, bevor Kajo präsentiert. Der Spot läuft, die Uhr tickt, wie erhofft, fangen die Leute an, nervös zu werden – dann kommt die Auflösung und … Gelächter und spontaner, kräftiger Applaus.
Yes! Die Feuerprobe ist bestanden. Bestens gelaunt fahren wir zurück nach Berlin.
In einer Woche ist Wahlkampfauftakt in Hannover. Bis dahin muss auch der ganze Rest stehen: alle Spots, die Bühne, alle Materialien, alles.

Samstag, 6. August, Berlin, Kampa im WBH
Der Verrat Teil I

Ich habe eine Briefbombe auf meinem Schreibtisch. In einem neutralen Umschlag hat mir jemand das Manuskript für den TV-Spot der CDU geschickt. Kein Witz. In meinen Händen halte ich die detaillierte Beschreibung des CDU-TV-Spots, der erst kommende Woche präsentiert werden soll. Puh. Woher kommt das? Ist es echt?
Als ich das Kajo erzähle, wird selbst er hibbelig. Mit diesem Wissen können wir die JU-Nasen in der Arena erneut ärgern. Das bringt uns zwar keine Wähler, aber mal wieder etwas Futter für die Journies und einmal mehr Beachtung für die Kampa. Ebenso wie Hohn und Spott für die Arena. Das motiviert unsere Leute und lässt die anderen die Hände über dem Kopf zusammenschlagen.
Aber was fangen wir mit der Info an? Der Spot soll angeblich so laufen: Eine Art silberne Boulekugel läuft entlang eines Konferenztisches. Dabei stößt sie Gläser, Flaschen etc. um, während ein Off-Sprecher aufzählt, was Rot-Grün alles zerdeppert hat. Am Ende des Tisches droht die Kugel dann in den Abgrund zu fallen – aber zum Glück steht da Angela Merkel, fängt symbolisch die Welt mit bloßen Händen auf und spricht labende Worte in die Kamera. So weit, so schlecht. Aber was tun wir, wenn wir gerade verarscht werden und das vielleicht nur das Skript eines Spots ist, der nie gedreht wurde?
Wir wägen das hin und her und beschließen: Wenn uns was richtig Gutes dazu einfällt, machen wir es. Falls nicht, schweigen wir.

Montag, 8. August, Berlin,
Kampa im WBH
Der Verrat Teil II

Was soll ich sagen? Uns ist leider was Gutes eingefallen.
Wir drehen ein alternatives Ende mit einem Merkel-Double. Das fängt die Kugel auf, bekommt sie aber nicht richtig zu fassen und wirft sie nun zwischen ihren Händen hin und her, bevor sie ihr endgültig aus den Händen fliegt.
Dazu sagt ein Off-Sprecher:
„Frau Merkel will angeblich keine deutschen Soldaten im Irak, aber noch vor zwei Jahren wollte sie auch ‚militärische Mittel‘ einsetzen.
Frau Merkel war vor kurzem noch gegen eine höhere Mehrwertsteuer. Jetzt will Frau Merkel die Mehrwertsteuer erhöhen. Frau Merkel wollte die Pendlerpauschale erst ganz abschaffen, dann teilweise, dann vielleicht wieder doch ganz.
Frau Merkel möchte, dass die Bruttolöhne sinken.
Oder die Nettolöhne steigen.
Oder die Bruttolöhne steigen.
Oder brutto, netto, steigen, sinken, brutto, netto, netto …
Frau Merkel kann sich nicht
entscheiden.
Aber Sie können es.
Vertrauen in Deutschland: SPD“
Wir beschließen, das Ding zu drehen. Wird es gut, setzen wir es ein. Wird es nicht gut, landet es im Müll.
Jetzt müssen wir ein Casting mit Merkel-Doubles anschieben. Nicht so einfach. Die findet man nicht in einer normalen Model-Kartei für Werbefilme.

Dienstag, 9. August, Kampa-Fest

Der Wahlkampfauftakt steht vor der Tür. Im Willy-Brandt-Haus gibt es ein Kampa-Fest mit Würstchen, Freibier und mehr Freibier. Die erste Welle der Plakate steht jetzt bundesweit und auch die „Für und Gegen“-Themenplakate sind überall präsent. „Für den Kündigungsschutz – Gegen die Willkür“, „Für den Frieden – Gegen blinde Gefolgschaft“ usw. Wir verteilen an alle Flaschenöffner in Umbra mit dem Spruch: „Für das Bier – gegen den Durst.“ Gehen weg wie warme Semmeln.
Die Stimmung wird immer besser, aber keiner weiß so recht warum. Denn die Union verliert zwar, aber wir gewinnen nicht nennenswert dazu.

Mittwoch, 10. August
9:00 Uhr Studio-Dreh, Präsentation des TV-Spots „Bundeskanzler“, Großkampftag

Drehbeginn für „Die Kugel“. Wir haben ein passendes Merkel-Double gefunden und stecken sie in ein apricotfarbenes Kostüm. Da wir nur das Storyboard des CDU-Spots kennen, wissen wir nicht, was Merkel in deren Spot trägt. Aber Apricot sorgt auf jeden Fall für Wiedererkennung. Der Dreh macht Spaß. Es funktioniert, so viel kann ich sehen, den Rest schaffen die alleine.
14:00 Uhr, Präsentation der Schröder-Spots vor dem Bundeskanzler. Die Präsentation eines TV-Spots ist für einen Werber eine heilige Angelegenheit. In unserem Konferenzraum in Düsseldorf surrt dafür lautlos die Leinwand aus der Decke, der fest installierte Beamer ist mit einer sehr guten Soundanlage bestückt, das Licht wird gedimmt und nach salbungsvollen Worten wird das Ergebnis wochenlanger Arbeit präsentiert. Toll. Man sagt mir, Schröder habe keine Zeit und ich soll ihm den Spot unterwegs zwischen zwei Sitzungen auf dem Laptop zeigen.
Frevel! Aber wenn man Bundeskanzler ist, kann man sich wünschen, was man will. Zwischen zwei Sitzungen darf ich also mit dem üblichen Kanzlertross (bei dem ich mir nicht sicher bin, ob Schröder eigentlich alle kennt und ob die voneinander immer wissen, was sie tun) mit meinem Laptop in einen kleinen Raum schweben.
Der Bundeskanzler setzt sich neben mich, setzt die Brille auf, ich gebe noch einmal kurz zu bedenken, dass das jetzt natürlich nicht der Sound und die Farben sind, wie man sich das wünschen würde, und drücke auf Play. Der Chef guckt auf den Monitor, ich halb auf den Monitor und halb auf den Chef und alle anderen auf uns, weil sie kein Bild sehen.
Spot eins ist durch. Spot zwei läuft. Spot zwei ist vorbei. Schröder sagt: „Das kann man nicht besser machen.“
Die Entourage rührt sich und steht bequem. Ich frage, ob er es noch mal sehen will. Natürlich nicht. Ich Dummerchen. Dann zeige ich ihm noch final die Plakate für die zweite Dekade. Alles gut, Händedruck, Kanzler raus, Entourage raus, Laptop zu. Wir haben eine TV-Kampagne.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Na, Klassenfeind? Ein Linker und ein Liberaler über Freundschaft zwischen politischen Gegnern. Das Heft können Sie hier bestellen.