Alles hat seine Zeit

Für die deutsche Politik könnte der August dieses Jahres eine Zeitenwende bedeuten. Denn die Rücktritte des hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch und des Hamburger Bürgermeisters Ole von Beust stehen für einen Trend, der bei führenden politischen Akteuren immer öfter erkennbar wird: der Rückzug aus freien Stücken. Koch und von Beust regierten in ihren Ländern als „Landesfürsten“: souverän und mit breiten Mehrheiten im Parlament. Innerhalb der CDU galten beide als Ausnahmetalente, die durch den legendären Andenpakt bestens vernetzt waren und oft mit noch höheren Ämtern in Verbindung gebracht wurden. Umso größer war die Überraschung, als Koch Ende Mai und von Beust rund acht Wochen später bekanntgaben, dass sie ihre Ämter vorzeitig abgeben würden. Welchen Grund hatten die Politiker, mit Mitte 50 so plötzlich zurückzutreten?
Als von Beust Mitte Juli im Hamburger Rathaus vor die Presse trat, um die Öffentlichkeit über seinen Entschluss zu informieren, sagte er: „Die biblische Erkenntnis „Alles hat seine Zeit“ gilt auch für Politiker.“ Der Mann aus der Hansestadt, der nun in der freien Wirtschaft sein Geld verdienen möchte, meinte damit seine 32 Jahre in der aktiven Politik; gleichzeitig hätte dieser Satz auch in Roland Kochs Rücktrittsankündigung auftauchen können. Der hessische Ministerpräsident sagte bei seinem Rücktritt: „Politik ist ein faszinierender Teil meines Lebens, aber Politik ist nicht mein Leben.“ Steckte hinter diesen Erkenntnissen wirklich nur Frust wegen des ausbleibenden Rufs von Bundeskanzlerin Angela Merkel an den Berliner Kabinettstisch? In diesem Zusammenhang darf ein weiterer Rücktritt nicht vergessen werden, der die Deutschen Ende Mai so überraschte, dass viele erst einmal im Grundgesetz nachlesen mussten, ob es überhaupt möglich sei: der des damaligen Bundespräsidenten Horst Köhler. Fakt ist, dass bei den drei Männern unterschiedliche Faktoren dazu geführt haben, ein neues Lebenskapitel aufschlagen zu wollen. Vor dem Hintergrund jedoch, dass Mitte Juli auch der neue baden-württembergische Ministerpräsident Stefan Mappus angekündigt hat, sein Amt aufgrund des erhöhten Tempos und der gestiegenen Komplexität nicht länger als zehn Jahre ausüben zu wollen, scheint der Entschluss, sich nur noch befristet in der Politik zu engagieren, alltäglich geworden zu sein. Deutschland im Jahr 2010: eine Republik der Aussteiger?
Ein Blick zurück zeigt, dass sich deutsche Politiker mittlerweile auch ein Leben außerhalb des Parlaments, von Ministerien und Staatskanzleien vorstellen können. Bei Männern wie Helmut Schmidt, Herbert Wehner und Franz-Josef Strauß war die Politik weniger Beruf, vielmehr Berufung. Ein Rücktritt erschien unmöglich – er wäre einer Lebensniederlage gleich gekommen. Und heute? „Das Berufsbild des Politikers ändert sich“, sagt Pascal Beucker. Der Journalist arbeitet für die „taz“ als landespolitischer Korrespondent in Düsseldorf und hat 2006 das Buch „Endstation Rücktritt – Warum deutsche Politiker einpacken“ geschrieben. „Für Politiker war es früher selbstverständlich, bis zur Rente im Parlament aktiv zu sein.“ Die ehemaligen Bundeskanzler Konrad Adenauer, Willy Brandt und Helmut Kohl zeigten, dass sie selbst nach der Abwahl nicht ganz loslassen konnten. Und auch Helmut Schmidt, obwohl parteipolitisch nicht mehr aktiv, meldet sich mit 91 Jahren regelmäßig zu Wort und gibt seiner Partei Ratschläge. Wie sehr sich der Sozialdemokrat damit von anderen ehemaligen Spitzenpolitikern unterscheidet, zeigt sich bei einem Anruf in Bremen.

Sog der Wichtigkeit

Henning Scherf, der frühere Bürgermeister der Hansestadt, entschied 2005, nur noch Privatier sein zu wollen. Damals sagte er, dass er auch ein Leben nach der Arbeit führen und nicht „mit den Füßen zuerst aus dem Rathaus“ getragen werden wolle. Auf die Frage, was für ihn heute anders sei, antwortet Scherf: „Ich habe ein ganz neues Leben angefangen. Es gibt keine Termine mehr, die mir andere Menschen vorschreiben. Ich muss mich nicht nach fremden Fahrplänen richten, sondern kann meinen Tag selbst gestalten.“ Spricht der 71-Jährige heute über seine Zeit als Politiker, klingt er ernüchtert. „Es war eine große Belastung. Es gibt wenig Vergleichbares in der Gesellschaft.“ Vor allem der zeitliche Aufwand sorge für einen hohen Stressfaktor. „Einen Feierabend gibt es nicht. Passt man nicht auf, kann einen das auffressen“, sagt Scherf. Dazu komme, dass es im Politikbetrieb praktisch keine Selbstständigkeit mehr gebe, die Volksvertreter ständig unter Kontrolle seien. „Manchmal habe ich gedacht, das ist wie bei einem Freigänger aus dem Knast, der nie allein gelassen werden kann. Der immer begleitet werden muss, damit er keinen Unsinn macht.“ Auch deswegen hat Scherf während seiner Zeit als Bremer Bürgermeister immer versucht, sich Aus- und Reflexionszeiten zu schaffen. „Lebensnotwendig“ sei es gewesen, so den Stress des Politikeralltags auszugleichen, eine Balance zu finden. Für den Sozialdemokraten waren das seine „informellen Strukturen“. Scherf: „Für mich waren das Menschen aus dem privaten Umfeld – aber auch darüber hinaus. Die ganz normale und alltägliche Vertrautheit geben und einen auch leben lassen, so wie man ist.“
Für den ehemaligen „Spiegel“-Autor Jürgen Leinemann ist Scherfs Strategie, den Regierungsalltag mit der Nähe zu seinen Mitmenschen auszugleichen, ein gelungenes Mittel, den Verschleiß im Amt zu bekämpfen. 2004 schrieb Leinemann in seinem Buch „Höhenrausch – Die wirklichkeitsleere Welt der Politiker“: „Lebendige, offene Kontakte zu Menschen außerhalb der politischen Szene sind Barrieren gegen den süchtig machenden Sog der Wichtigkeit im täglichen Betrieb der Politik. Kaum jemand bemerkt selbst, wann die Deformation beginnt, […] das eigene Leben zur Fassade wird.“
Wie alltägliche Belastungen und Stress den Politiker verändern, untersucht Thomas Kliche an der Universität Hamburg. Der Politikpsychologe zögert nicht lange, wenn es um die Frage geht, ob die deutschen Parlamentarier zur Aussteigergeneration geworden sind. „Nein, das ist Quatsch“, sagt er. Die meisten parlamentarischen Karrieren hätten früher lange gedauert, „und tun das auch heute noch“. Für Kliche hat das vor allem einen Grund: „Wer sich für den Beruf des Politikers entscheidet, nimmt einen tiefen biografischen Einschnitt in Kauf.“ Je länger die Abgeordneten im Amt seien, desto mehr werde das Berufs- zum Privatleben. Kliche: „Der Mensch verschwindet hinter dem Mandat, eine Rückkehr in den Alltag ist schwierig.“ Auch deshalb versuchten viele Abgeordnete, so lange wie möglich im Parlament zu bleiben. Die Rücktrittswelle in der CDU ist für den Hamburger Psychologen daher kein Ausdruck eines allgemeinen Politikerprotests. Und auch der These der Grünen-Chefin Claudia Roth, die nach dem Rücktritt Ole von Beusts von einer „bürgerlichen Null-Bock-Generation“ sprach, stimmt er nicht zu.

Verwalten statt gestalten

Und doch erkennt Kliche, dass der Politikbetrieb anstrengender geworden ist und die Anforderungen an die Parlamentarier gestiegen sind. Familienministerin Kristina Schröder bestätigte das Mitte Juli in einem Interview mit dem Nachrichtenmagazin „Spiegel“. Auf die Frage, wann sie privat ihr Handy ausstelle, antwortet die CDU-Politikerin: „Nie. Ich stelle das Handy nie aus. Das würde mich zu sehr beunruhigen.“ Und wenig später, angesprochen auf die Maßstäbe, die für Politiker gelten, sagt sie: „Manche Politiker geben schon gar nicht mehr zu, dass sie gerade im Urlaub sind. Sie denken, dass ihnen das negativ ausgelegt wird.“ Kliche: „Der Druck ist gewachsen – und das nicht nur, weil die rechtliche Materie immer komplexer wird. Es gibt eine tiefe Unzufriedenheit mit den Politikern. Die Bürger haben den Eindruck, dass die Abgeordneten nicht gestalten, sondern lediglich verwalten.“ Heute, rund zwei Jahre nachdem die Finanzkrise mit dem Zusammenbruch der Investmentbank Lehman Brothers ihren Höhepunkt erreicht hatte, wird das umso deutlicher.
Denn mittlerweile mussten die Entscheider in Berlin erkennen, wie groß die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit geworden ist. Im Krisenherbst 2008 erwartete Deutschland von der damaligen schwarz-roten Regierungskoalition nichts weniger als die Rettung des deutschen Finanzmarkts – die Spareinlagen aller Bürger inklusive. Und was ist in der Zwischenzeit passiert? Wenig bis nichts. In Washington und Berlin versuchten die Regierungen mit zaghaften Reformen, die Finanzmärkte sicherer zu machen. Ansonsten die gleiche Situation wie vor der Krise: grenzenlose Märkte und Bankmanager, die gar nicht daran denken, sich von nationalen Richtlinien einschränken zu lassen. In Zeiten, in denen die nationalen Gestaltungsräume immer kleiner werden, lässt das die Enttäuschung bei den Wählern steigen und die Frustration der Politiker wachsen.
Vor diesem Hintergrund erscheinen die Rücktritte von Köhler, von Beust und Koch nachvollziehbarer. Schließlich erklären die Politiker seit Jahren, dass die Bevölkerung flexibler werden müsse und sie sich von dem Gedanken, ein Leben lang bei einem Arbeitgeber angestellt zu sein, verabschieden müsse. Warum sollten das nicht auch Abgeordnete und Regierungschefs erkannt haben? Warum sollten nicht auch sie nach Alternativen zum Politikbetrieb suchen?
Einer, der das mit Erfolg gemacht hat, ist Ulrich Kasparick. Der ehemalige Parlamentarische Staatssekretär im Bundesbildungs- und im Bundesverkehrsministerium hat sich ein Jahr vor der Bundestagswahl 2009 dafür entschieden, nicht wieder fürs Parlament zu kandidieren und stattdessen ein Sabbatjahr einzulegen. In seinem jüngst erschienen Buch „Notbremse“ beschreibt Kasparick, wie er das „fremdbestimmte“ Leben hinter sich gelassen hat und nun im „Politikentzug“ ist. Für Kasparick ein weitverbreiteter Wunsch in Berlin. Im Gespräch mit p&k (siehe Interview Seite 15) beschreibt der SPD-Politiker, wie ihm ein ehemaliger Kollege erzählt, dass auch er über eine solche Auszeit nachgedacht hat – sich aber nicht dazu durchringen konnte. Die Begründung: „Ich habe keine Zeit für so etwas.“
Für Thomas Kliche keine überraschende Reaktion. „Viele Parlamentarier wünschen sich ein solches Sabbatjahr. Der Beruf verhindert das aber.“ Der Psychologe nennt zwei Dinge, die dafür verantwortlich sind: Medienpräsenz und berufliche Netzwerke. „Einfach ein Jahr auszusteigen lässt sich damit nicht verbinden.“ Ein klares Urteil, doch bedeutet das für Politiker nicht zwangsläufig, zwischen Arbeiten bis zum „Burn-Out“ oder Rücktritt zu wählen. Es gibt für sie Möglichkeiten, sich zwischen Café Einstein, Fraktionssitzung und Parlamentarischem Abend auf die Herausforderungen des Berufs einzustellen.

Immer weniger Konstanten

Welche das sind, weiß Stephan Lermer. Er arbeitet in München als Coach für Unternehmer, Führungskräfte und Politiker. In der Vergangenheit hat er sich immer wieder mit den Fähigkeiten beschäftigt, die in der Arbeitswelt „Future Skills“ genannt werden. Motivation zum Beispiel, Durchsetzungsfähigkeit oder kommunikative Kompetenz. Anders als Thomas Kliche geht er davon aus, dass es in Zukunft häufiger zu Rücktritten von prominenten Politikern kommen wird. „Die Zeiten werden für sie immer härter. Nicht nur die Berichterstattung in den Medien nimmt zu, auch die Bürger wollen aktiver am politischen Prozess teilhaben.“
Lermer rät den Politikern zwei Dinge: Zunächst einmal müssten sie sich klarmachen, wie „volatil“ die Gesellschaft geworden ist, in der sie sich bewegen. Es gebe immer weniger Konstanten, auf die sie sich verlassen könnten. Ein Blick auf die steigende Anzahl der Wechselwähler bei den vergangenen Landtagswahlen beweise das. Als wichtigste Eigenschaft, die ein Politiker haben müsse, bezeichnet Lermer jedoch die Resilienz, die Widerstandsfähigkeit. „Wer in der Politik Erfolg haben möchte, braucht ein dickes Fell und darf Kritik nicht überbewerten.“ Es sei nun einmal so, dass das politische Mandat mit der Person dahinter verschmelze. „Ärzte und Anwälte stecken Kritik leichter weg, denn im Beruf tragen sie einen Kittel oder eine Robe und können diese abends wie eine Rolle ablegen.“
Und was denkt ein Jungpolitiker über Lermers Ratschläge? Antworten darauf gibt Carsten Linnemann an einem Mittwochmorgen im Café Dressler an Berlins Boulevard Unter den Linden. Linnemann, seit vergangenem September Bundestagsabgeordneter für die CDU, verspätet sich etwas; Anfang August ist in Berlin parlamentarische Sommerpause, und der 33-Jährige kommt direkt aus seinem Paderborner Wahlkreis. Als Gesprächsthemen sind Amtsmüdigkeit und die Rücktritte in der CDU vereinbart. Linnemann, der sich zur Vorbereitung Kasparicks Buch „Notbremse“ gekauft hat, bestellt einen Milchkaffee und sagt: „Vergleicht man die heutige Politikergeneration mit der von Schmidt und Kohl, kann man feststellen, dass die Intensität der Debatten abgenommen hat.“ Als Grund vermute er, dass es mehr Nebenkriegsschauplätze gibt, auch innerhalb der unterschiedlichen Lager. „Trotzdem stehen immer noch große Themen auf der Agenda.“ Die Steuer- und die Gesundheitsreform beispielsweise. Das seien Zukunftsthemen und dort müssten die Abgeordneten überzeugen.

Nur mit „Ruhezeiten“

Das Gespräch mit Linnemann verdeutlicht: Die Vorwürfe, die nach den Rücktritten von Köhler, von Beust und Koch aufkamen, dass ein Berufsstand kollektiv seine Vorbildfunktion aufgegeben habe, weil die Arbeit nicht mehr in die jeweilige Lebensplanung passe, laufen ins Leere. Der CDU-Mann weiß um die Herausforderungen des Politikeralltags. „Klar, in manchen Wochen ist der Terminkalender voll. Aber das ist in der Wirtschaft auch nicht viel anders.“ Er versuche daher mit alltäglichen Ritualen gegenzusteuern. Seine „Ruhezeit“ nennt er das und meint damit die Zeit am Morgen zwischen 6 bis 8 Uhr. „Da gehe ich laufen und lese Zeitung.“ Wenig später später muss Linnemann los; im Büro warte noch Arbeit auf ihn, die wolle er auch in der Sommerpause nicht vernachlässigen. Während er das sagt, wird eines klar: Die Rücktrittswelle in der CDU hat bei dem Neuparlamentarier keinen Eindruck hinterlassen. Frust auf den Beruf? Davon ist nichts zu spüren.
Auch in der restlichen „Berliner Republik“ hat die Anspannung nach den hitzigen Sommermonaten nachgelassen. Weitere Rücktritte sind ausgeblieben – und Bundeskanzlerin Angela Merkel ist wie angekündigt aus dem Urlaub zurückgekommen.
Es scheint so, als ob die Zeitenwende noch etwas auf sich warten ließe.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Raus aus der Mühle – Warum Politiker zurücktreten. Das Heft können Sie hier bestellen.