Auswärtsspiel

Sport & Politik

Die Altvorderen als Vorbild? Bundespräsident Walter Scheel und Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) waren 1974 in München dabei, als die Mannschaft des Deutschen Fußballbunds gegen die Niederlande Fußballweltmeister wurde. Helmut Kohl (CDU) wollte es sich 1986 nicht nehmen lassen, zum Endspiel der Fußballweltmeisterschaft nach Mexiko zu fliegen, weshalb der Bundeskanzler eine Viertelstunde nach dem Sieg des deutschen Teams im Halbfinale die Botschaft in Mexiko wissen ließ, er werde kommen. Weil es nach damaligem Brauch ausgeschlossen war, Staatsoberhaupt und Regierungschef könnten das Finale gemeinsam besuchen, hatte Kohl die Befürchtung, Bundespräsident Richard von Weizsäcker könne ihm zuvorkommen. Kohl also flog.

Erstmals rückte ein Kanzler samt Entourage zu den Spielern in die Kabine ein – spendete Sekt und wegen der Niederlage gegen Argentinien Trost. Auch für Gerhard Schröder (SPD) war es 2002 selbstverständlich, zum WM-Endspiel eines deutschen Fußballteams zu fliegen – von einem Gipfeltreffen in Kanada reiste er ins japanische Yokohama. Angela Merkel (CDU) trat in die Fußstapfen ihrer Vorgänger, gemeinsam sogar mit Bundespräsident Joachim Gauck flog sie 2014 nach Brasilien. Deutschland gewann – und kaum jemand jubelte so ausgelassen wie die Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland. Besuche in der Mannschaftskabine gehörten zum Standardprogramm Merkels bei solchen Anlässen; Trainer Jogi Löw und seine Spieler versicherten, sie fänden das schön.

Und kaum hatten die deutschen Fußballerinnen das Halbfinale der Europameisterschaft erfolgreich hinter sich gebracht, teilte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) – via Twitter, noch in der Nacht – sein „Ich fahre nach London“ mit. Auch Scholz war nach dem Spiel in der Kabine – mit Dank und Trost. Die Engländerinnen hatten gewonnen. Schön finden es die Spitzen der Politik, sich in der Popularität des Sports zu sonnen. Demnächst auch im Winter, bei der Fußballweltmeisterschaft der Männer? Auf nach Katar?

Sport begeistert

Mit ihrer Nähe zum Sport wollen Politiker ihre Nähe zum Volk dokumentieren. Fast wo auch immer. Russlands Präsident Wladimir Putin geriert sich als Eishockeyspieler und brach deswegen sogar eine Telefonkonferenz mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron ab. Silvio Berlusconi war nicht nur italienischer Ministerpräsident, sondern dazu noch Eigentümer des Spitzenvereins AC Mailand. Französische Präsidenten pflegen die Tour de France einen Tag lang im offiziellen Fahrzeug des Veranstalters zu begleiten. Der Kiewer Bürgermeister Vitali Klitschko profitiert von seinen Erfolgen im Boxsport. Mao Tse-tung schwamm einst im Jangtse-Fluss, um seine körperliche Fitness zu beweisen und Gerüchte über seinen Gesundheitszustand auszuräumen.

Im Vergleich dazu hat die deutsche Politik wenig zu bieten. Immerhin: Franz Josef Strauß (CSU) und Joschka Fischer (Grüne) waren in ihrer Jugend als Rennradfahrer im Amateurbereich erfolgreich, Annalena Baerbock im Trampolinsport. Rudolf Scharping (SPD) trimmte sich am Tourmalet und wurde nach dem Ende seiner politischen Laufbahn Präsident des Bundes Deutscher Radfahrer. Doch weil König Fußball in Deutschland die mit Abstand populärste Sportart ist, warfen sich die meisten am liebsten Fußballschals um und verbreiteten ihre fußballerische Vergangenheit. Helmut Kohl sei ein begnadeter Mittelfeldspieler gewesen. Gerhard Schröder habe in seiner Mannschaft als Stürmer den Rufnamen „Acker“ getragen. Wenn immer bei seinen öffentlichen Wahlkampfauftritten draußen im Lande sich die Gelegenheit bot: Sakko aus, Elfmeterschießen. Über Martin Schulz hieß es, als er SPD-Kanzlerkandidat war, er habe das Zeug zum Bundesligaspieler gehabt.

Seit langem gibt es im Bundestag eine fraktionsübergreifende Fußballmannschaft, „FC Bundestag“ mit Namen, die auch im Ausland auftritt, manchmal in halbdiplomatischer Mission. Nebenwirkung: Beilegung politischen Streits beim Spiel und Umkleiden. Mannschaftssport verbindet mehr als Golf, Rennradfahren und Jogging im Berliner Tiergarten, was nicht wenige Abgeordnete tun, der eigenen Fitness wegen und ohne davon viel Aufhebens zu machen – Olaf Scholz zum Beispiel.

In Schals geworfen

Fans aber sind sie auch, jedenfalls manche. Indem sich ein Politiker zu einem Fußballverein der Heimat bekennt, stellt er seine Verwurzelung und Herkunft heraus, ohne das noch umständlich erklären zu müssen. Im Bundestag haben sich Fanclubs von Vereinen – aus München, Köln, Frankfurt und Gelsenkirchen zum Beispiel – gebildet, die von den Clubs als Gesprächs- und Kommunikationsforen genutzt werden. Markus Söder (CSU) hängt heimatverbunden am 1. FC Nürnberg. Martin Schulz (SPD) half dem 1. FC Köln bei einer komplizierten Spielertransaktion mit China. Gerhard Schröder war, ehe er wegen seiner Näher zu Putin verstoßen wurde, Ehrenmitglied von Borussia Dortmund. Der Grünen-Vorsitzende Omid Nouripour hält die Fahne der Frankfurter Eintracht hoch.

Doch ein Zufall ist es wohl nicht, dass Bayern München das Maß der Dinge ist. Angela Merkel, ihr CDU/CSU-Fraktionsvorsitzender Volker Kauder und Wolfgang Schäuble gaben sich als Anhänger des Münchner Vereins zu erkennen. Der CSU-Altvordere Edmund Stoiber ist mit Bayern München verbandelt. Dass sein Parteifreund, der frühere Finanzminister Theo Waigel, Anhänger des Stadtrivalen 1860 München ist, wurde als Zeichen innerparteilichen Zwists inszeniert. Hamburger Verhältnissen ist es wohl zuzuschreiben, dass vom früheren Bundeskanzler Helmut Schmidt das hanseatisch-herablassende Zitat überliefert ist, er sei „ein ganz weit entfernter Anhänger des HSV“. Denn tatsächlich ist es dort so, dass es fußballaffine Sozialdemokraten mit der örtlichen Konkurrenz des FC St. Pauli halten – früher Helmut Schmidts Finanz- und Verteidigungsminister Hans Apel, heutzutage der Chef des Bundeskanzleramts Wolfgang Schmidt und die grün-alternative Szene in Hamburg sowieso. Als Olaf Scholz noch Erster Bürgermeister der Hansestadt war, gab er sich – mäßig interessiert – neutral. Er mache sich Sorgen um den Hamburger Fußball und hoffe, beide Vereine „kriegen das hin“. Nun als Kanzler und in neuen Zeiten thematisiert der Sozialdemokrat Scholz das „Equal pay“ bei Prämien im Fußball. Frauenfußball ist seit der EM populärer denn je. Natürlich hatte die DFB-Führung, als Scholz sie in Frankfurt besuchte, Gesprächsbereitschaft zu signalisieren.

Zusammenspiel

Wird der deutsche Profifußball sozialdemokratisiert? Sein Sozialprogramm im Kampf gegen die Folgen von Energieknappheit und Inflation erläuterte Scholz unter Verwendung der Hymne des FC Liverpool: „You’ll never walk alone.“ Ein Zeichen für neue Zeiten? Das Amt des DFB-Präsidenten war lange Zeit eine Domäne der CDU: Gerhard Mayer-Vorfelder (2002 bis 2006) war CDU-Kultus- und dann Finanzminister in Baden-Württemberg; Theo Zwanziger (2006 bis 2012) war CDU-Landtagsabgeordneter in Rheinland-Pfalz; Reinhard Grindel (2016 bis 2019) CDU-Abgeordneter im Bundestag. Seit März 2022 amtiert erstmals ein Sozialdemokrat an der Spitze des DFB: Bernd Neuendorf, früher Staatssekretär im nordrhein-westfälischen Familienministerium. Als Olaf Scholz SPD-Generalsekretär war, war Neuendorf dessen Pressesprecher im Berliner ­Willy-Brandt-Haus.

Politiker mögen sich in der Nähe der populärsten Sportart und dessen Spitzenleute zeigen wollen, um Wähler zu beeindrucken. Doch auch die Sportverbände, voran der DFB und seine Vereine, profitieren von der Nähe und pflegen die politische Landschaft in Berlin und anderswo. Im Steuerrecht haben sie besondere Interessen: Privilegien bei der Umsatzsteuer, Kostenfreiheit der Polizeieinsätze zum Schutz von Bundesligaspielen, Sonderregelungen während der Zeit der Coronaeinschränkungen. Die Führungen von Bundesligavereinen lassen sich regelmäßig in Berlin blicken. Hans-Joachim Watzke, Geschäftsführer von Borussia Dortmund und CDU-Mitglied, veranstaltet gerne Hintergrundgespräche mit Berliner Politikjournalisten. Werner Gatzer, seit ewigen Zeiten der für Haushaltsfragen zuständige Staatssekretär im Bundesfinanzministerium, und auch Norbert Walter-Borjans (SPD), früher NRW-Finanzminister, sind in Beiräten des 1. FC Köln. Edmund Stoiber ist Vorsitzender des Verwaltungsbeirats von Bayern München und soll nun – wohl der politischen Ausgewogenheit wegen – auch Lars Klingbeil, den aus Niedersachsen stammenden SPD-Vorsitzenden, in dieses Gremium berufen haben. Christian Seifert, bis in das vergangene Jahr hinein der Chef der Deutschen Fußball Liga (DFL), in der die Profivereine organisiert sind, begleitete als Mitglied von Wirtschaftsdelegationen häufig Ex-Kanzlerin Angela Merkel auf Reisen, um den deutschen Fußball im Ausland zu vermarkten. Fast zeitgleich begannen und endeten die Amtsgeschäfte der beiden.

Politische Abseitsfallen

Untiefen für die Politik gibt es freilich auch. Die jeweiligen Bundespräsidenten und die Bundeskanzlerin verzichteten darauf, an den Eröffnungsfeiern von Olympischen Spielen in China (2008, 2022) und Russland (2014) teilzunehmen – wegen der Menschenrechtsverstöße dort. Ein Besuch der Spitzen der deutschen Politik bei der Männerfußball-WM in Russland 2018 kam wegen der Krim-Annexion nicht in Betracht. Angela Merkel beschränkte ihren Kontakt zur Nationalmannschaft auf ein politisches Hintergrundgespräch mit Trainer und Spielern. Korruption und die Vergabepolitik internationaler Sportorganisationen wie dem IOC und der FIFA lassen es der Politik geraten erscheinen, auf Distanz zu gehen.

Auch jetzt stehen heikle Entscheidungen an – im Umgang mit der Männerfußball-WM in Katar, die Ende November beginnt und eine Woche vor Weihnachten endet. Dass die Terminierung des Turniers im Winter und auch der Austragungsort umstritten sind, gehört zum Konsens der Kommentare: wegen der Ausbeutung der Arbeiter, die in Katar die Stadien bauten; wegen der Verstöße dort gegen Menschenrechte; wegen der ökologischen Belastungen, die das Abhalten von Spielen in gekühlten Stadien in der Wüste mit sich bringt.

Doch dem einerseits steht ein doppeltes andererseits entgegen. Katar wurde wegen der Versorgung Deutschlands mit Erdgas zum wirtschaftlichen Bündnispartner. Vizekanzler Robert Habeck musste den Scheichs seine Aufwartung machen. Und schließlich: Was wäre, wenn das deutsche Team erfolgreich abschnitte, dann so beliebt würde wie jetzt das Frauenteam und die Fans daheim in Lokalen und beim Public Viewing ausgelassen feierten? Würde sich dann die Politik nörgelnd ins Abseits begeben wollen, begeben können? Olaf Scholz, der nun in London dabei war, Annalena Baerbock, die das Prinzip einer werteorientierten Außenpolitik verfolgt, und Vizekanzler Habeck, der politischen Dank für Gaslieferungen abstatten könnte, werden abwägen müssen. Schon hat Nancy Faeser (SPD), die für den Sport zuständige Bundesinnenministerin, eine Erkundungsreise nach Katar angekündigt. Gefahr erkannt, Gefahr gebannt? Freilich: Keiner von ihnen hat sich dermaßen als Fan präsentiert wie weiland Helmut Kohl, Gerhard Schröder und Angela Merkel, als der Männerfußball noch die schönste Nebensache der Welt zu sein schien.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 140 – Thema: Anspruchsvoll. Das Heft können Sie hier bestellen.