Wie wir mit unseren Altkanzlern umgehen

Politik

Vor gut einem Jahr, in den letzten Tagen ihrer Amtszeit als Bundeskanzlerin, wurde Angela Merkel mit dem Walther-Rathenau-Preis ausgezeichnet, der in Erinnerung an den deutschen Außenminister der 1920-er Jahre für ein herausragendes außenpolitisches Lebenswerk verliehen wird. Der australische Historiker Christopher Clark hielt die Laudatio. Wohlwollend setzte er Merkels Leben in Beziehung zu weltpolitischen Entwicklungen: Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums, Ende der Ost-West-Konfrontation, Wiedervereinigung Deutschlands, Finanz- und Eurokrise, die Flüchtlingsströme. „Das Putin-Regime desavouierte die Politik Gorbatschows und Jelzins und schlug einen konfrontativeren Kurs gegenüber NATO und EU ein“, trug Clark vor. „Wladimir Putin hat 2019 die liberale Gesellschaftsordnung für obsolet erklärt.“ Merkels Umgang mit Krisen beschrieb der Historiker so: Die Bundeskanzlerin sei stets um einen „möglichst breiten Konsens bemüht“ gewesen, tragbare Lösungen habe sie fast immer als Ergebnis eines Kompromisses gesucht.

„So ist ihre Haltung gegenüber dem russischen Staats​präsidenten Wladimir Putin immer von einer Mischung aus Umsicht, Festigkeit und der mehr oder weniger kontinuierlichen Kommunikation gekennzeichnet gewesen“, sagte Clark. „Unter den westlichen Staatslenkern ist Angela Merkel (zusammen mit dem finnischen Präsidenten Sauli Niinistö) diejenige, die den enigmatischen russischen Präsidenten wohl am besten begriffen hat.“ Nun bedeutet „enigmatisch“ rätselhaft. Und vielleicht hat Merkel Putin auch „am besten“ begriffen. Wirklich begriffen aber hat sie ihn nicht – wie sich ein Vierteljahr später mit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine erwies. Deutschlands Abhängigkeit von russischen Gaslieferungen oder auch der klägliche Zustand der Bundeswehr wurden in Clarks Laudatio nicht thematisiert. Wenig später hätte er eine andere Rede halten müssen. Geschichte wird eben nicht nur gemacht. Sie wird auch – immer wieder – neu geschrieben.

Freiwillige Abgänge selten

„Jeder Bundeskanzler besitzt in der Bundespressekonferenz eine absolute Mehrheit“, ist als eine Bemerkung des 2013 verstorbenen „Spiegel“-Reporters Jürgen Leinemann überliefert, der einst zu den erfahrensten und einfühlsamsten Beobachtern des Bonner und des Berliner Politikbetriebs gehörte – wobei, nicht ganz nebenbei, zu fragen ist, ob die damalige Beschreibung derzeit auch auf Olaf Scholz zutreffen würde. Doch ist die kollegiale Schelte Leinemanns von früher verwunderlich?

Bundeskanzler sind qua Amt auf der Seite der Sieger und Erfolgsverwöhnten. Sie haben Wahlen gewonnen und es gelang ihnen, Regierungsbündnisse zu schmieden. Kanzler können Journalisten belohnen – mit Informationen, mit der Zulassung zu Hintergrundgesprächen und mit der Mitnahme zu Auslandsreisen. Wenn Kanzler bei Pressekonferenzen Scherze, auch zu Lasten Dritter, machen, lachen Journalisten beifällig. Die Partei​freunde der Kanzler reden pflichtgemäß-loyal gut über ihre Chefs, was wiederum eine „gute Presse“ nach sich zieht. Doch stellt sich auch die andere Frage: Welche Mehrheit in der Bundespressekonferenz hätten Altkanzler? Keine? Tatsächlich spricht viel für die Umkehrung der Verhältnisse. Über Ex-Kanzler wird selten gut gesprochen und geschrieben. Nicht in Medien, nicht in Parteien, was eng miteinander verwoben ist. Seit alters her folgt dem Hosianna das „Kreuzige ihn“.

Selten gingen Bundeskanzler freiwillig. Nur Machtpolitiker sui generis kommen in das mächtigste Amt, das die Republik zu vergeben hat. Den Erwerb von Macht hatten sie gelernt, und seinen Gesetzmäßigkeiten hatten sie sich unterworfen. Aber das Aufhören, den Verzicht? Teils gingen sie als (Wahl-)Verlierer, teils als von ihrer Partei oder vom Koalitionspartner Entmachtete, teils aus der Einsicht, die Zeit zum Rückzug sei gekommen – unweigerlich. Mit dem Amt geht viel verloren. Es fehlt der Apparat, die öffentliche Meinung zu domestizieren. Es fehlt die Aura der Macht. Es fehlen die Möglichkeiten, politische Zugeständnisse zu machen, andere mit Posten zu belohnen, sie mit Informationen zu versorgen oder zu bestrafen.

Schnelle Vergessenheit

Altkanzlern wird abverlangt, sich in Verzicht auf all das zu üben, was früher ihres Amtes war. Oft genug hatten ihre Parteien unter ihrer Knute zu ächzen. „Kanzlerparteien“, wie sie fast vordemokratisch genannt werden, werden nicht von der Parteizentrale aus geführt. Das Büro im Kanzleramt bestimmt – oft auch kleinteilig – die Richtlinien, denen sich auch die Führungsleute unterwerfen. Doch Parteifreunde wenden sich ab, wenn sich die Verhältnisse geändert haben. Dann können sie all das sagen, was sie vordem lieber nicht gesagt hatten. Alte Rechnungen können folgenlos beglichen werden. Leistungen geraten in Vergessenheit. Ihre Nebenwirkungen treten zutage.

In der Natur der Dinge liegt es, dass vor allem die Bundeskanzler a. D. mit besonders langen Amtszeiten betroffen sind. Konrad Adenauer war 73 Jahre alt, als er 1949 Bundeskanzler wurde. Er blieb es 13 Jahre. Als er die 80 überschritten hatte, muckten die CDU-Jüngeren – auch damals gab es den Begriff „Junge Wilde“ – auf gemäß dem Motto: „Der Alte muss weg“. Er passe nicht mehr in die Zeit. Mithilfe des Koalitionspartners FDP wurde Adenauer 1963 aus dem Amt gedrängt. Aus Rhöndorf bei Bonn kommentierte er die Arbeit seines Nachfolgers Ludwig Erhard eher abträglich, was auch auf ihn zurückfiel.

Die Amtszeiten seiner Nachfolger, Ludwig Erhard (1963 bis 1966) und Kurt Georg Kiesinger (1966 bis 1969), erwiesen sich als Übergangsphase aus der Adenauer-Ära hin zur sozialliberalen Koalition. Erhard verlor sein Amt durch den Ausstieg der FDP aus seiner Regierungskoalition. Kiesinger verlor die Bundestagswahl. Bald schon wurde kaum noch über sie geredet – weder im Guten, noch im Schlechten. Willy Brandt trat 1974 wegen der Günter-Guillaume-Spionage-Affäre zurück. Er war der einzige Politiker, der auch nach seiner Zeit als Kanzler eine politische Führungsposition behielt; bis 1987 blieb er SPD-Vorsitzender. Helmut Schmidt wurde vom FDP-Koalitionspartner verlassen, auch weil sich die SPD von seiner Sicherheitspolitik (Stichwort: Nato-Nachrüstung) abgewandt hatte. Er war isoliert, und erst Jahre später machte seine Partei ihren Frieden mit ihm. Allüberall wuchs sein Ansehen.

Kohl und seine Parteifamilie

Mit Helmut Kohl kam die neue Zeit. 25 Jahre lang war er CDU-Vorsitzender, davon 16 Jahre Bundeskanzler. Er beherrschte die Partei. Er betrachtete sie als Familie und die Mitglieder wie Verwandte. Er wehrte Intrigen ab. Mit der Entmachtung seines Generalsekretärs Heiner Geißler wurde das Kanzlerbüro endgültig zur Parteizentrale. Noch 1998, als sich bei den Jüngeren in der CDU der Eindruck verfestigte, die Zeit sei reif für einen neuen Mann an der Spitze, setzte Kohl seinen Anspruch auf die Kanzlerkandidatur durch. Widerwillig folgte die Partei.

Kohl verlor, und in der CDU glaubt man seither, Gerhard Schröder wäre niemals Bundeskanzler einer rot-grünen Regierung geworden, hätte Kohl damals zugunsten Wolfgang Schäubles verzichtet. Schäuble wurde zwar CDU-Vorsitzender. Kohl aber führte sich als CDU-Ehrenvorsitzender in den Gremiensitzungen auf, als sei er noch Chef. Es gab böses Blut. Wegen seiner Spendenaffäre und der gesetzeswidrigen Weigerung, die Namen der Spender preiszugeben, distanzierte sich die CDU-Führung – Angela Merkel voran – vom „Kanzler der Einheit“. Voller Zorn legte er den Ehrenvorsitz nieder. Nur noch ganz wenige alte Vertraute hielten zu ihm. Wie einst sein Vorbild Adenauer über Erhard redete Kohl schlecht über Merkels Politik. Seinem innerparteilichen Ansehen schadete das.

Ärger wurde es mit Gerhard Schröder. Schon während seiner Kanzlerschaft war seine Politik (Agenda 2010, Hartz-Gesetze) in der SPD umstritten. „Totengräber“ seiner Partei wurde er genannt. Sozialdemokraten hielten nichts von Schröder – und dieser nichts von seiner Partei. Endgültig zum Bruch kam es, als er – sich nun als Privatperson fühlend – für die russische Energiewirtschaft tätig wurde. Seit Putins Überfall auf die Ukraine wurde er von der SPD und deren Vorsitzenden wie ein Aussätziger behandelt. Nur knapp entging er einem Parteiausschluss. Irgendwann eine Versöhnung? Kaum denkbar.

Das Ärgste ist, Kanzler gewesen zu sein

Klugerweise verzichtete Angela Merkel auf den Ehrenvorsitz ihrer Partei, mit dem die CDU üblicherweise ihre ehemaligen Kanzler bedachte. Noch während ihrer Kanzlerschaft hatte sie die Fähigkeiten ihrer Nachfolger angezweifelt. CDU-Parteitage besucht sie nicht mehr. Womöglich hätte sie sich anhören müssen, die Union programmatisch entkernt zu haben. Eine Essenseinladung von Friedrich Merz schlug sie aus, hatte der doch den Zustand ihrer letzten Regierung als „grottenschlecht“ bewertet.

Putins Krieg aber wurde eine Zeitenwende auch für sie. Die Wirkungen ihrer Kanzlerjahre wurden einer Neubewertung unterzogen – in der Öffentlichkeit und in der CDU und so schnell, wie noch nie bei einem Ex-Kanzler: Atomausstieg, Abschaffung der Wehrpflicht, „strategische Partnerschaften“ mit Russland und China. Was zu Merkels Amtszeit alternativlos richtig schien, gilt nun als falsch, kurzsichtig und fahrlässig. Doch im Gegensatz zu Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, ihrem ehemaligen Außenminister, bleibt Merkel dabei: Alles richtig gemacht. In der Ampelkoalition und ihrer Partei glaubt das niemand mehr.

Ruhm und Ansehen verblassen schnell, und wie zur Bestätigung geht es um den alten Brauch, Altkanzlern eine großzügige Büroausstattung plus Personal zu gewähren. Bei Schröder soll das ganz gestrichen werden, wogegen dieser klagt. Merkel wurde von der Bundesregierung ermahnt. Ihr Büro habe allein der Erfüllung von „nachamtlichen Verpflichtungen“ und keinen anderen Zwecken zu dienen. Reisekosten würden nur erstattet, „wenn die Bundeskanzlerin a. D. im Auftrag und im Interesse der Bundesrepublik Deutschland reist“. Eine Rüge? Oder doch Bestätigung einer Gesetzmäßigkeit? Schwer ist es, Kanzler zu werden, und aufreibend, Kanzler zu sein. Das Ärgste aber ist, Kanzler gewesen zu sein.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 141 – Thema: Interview mit Norbert Lammert. Das Heft können Sie hier bestellen.