Zwei Vögel

Politik

Sie sind Brüder, Hans-Jochen heißt der eine Vogel und Bernhard der andere Vogel. Hans-Jochen ist Jahrgang 1926; er hat den Zweiten Weltkrieg erlebt und geriet als Soldat am Ende in Gefangenschaft. Der jüngere Bernhard ist Jahrgang 1932 und zitterte in einem Bunker vor den Bombenangriffen. Hans-Jochen hat Jura studiert, Bernhard Politikwissenschaft, Geschichte, Soziologie und Volkswirtschaft, beide wurden promoviert. Der eine hat in der SPD Karriere gemacht, der andere beim schwarzen Konkurrenten, der CDU, viele Stufen der Leiter erklommen.

Beide waren erfolgreich und ließen sich oft genug von ihrer Partei in die Pflicht nehmen. Der Ältere kann auch mal laut werden und ungeduldig, vor allem, wenn es um Unpünktlichkeit und Ungenauigkeit geht. Der Jüngere ist eher ein Mensch, der leiser wirkt und öfter lacht als sein strengerer Bruder. Bernd ist eher ein Feingeist und tritt stets freundlich auf, nach dem Gemeinsamen suchend, gerade so, als wäre er der personalisierte Vermittlungsausschuss. Beide sind gläubige Katholiken. Beide sind keine Trickser und lupenreine Demokraten.

Ihren Parteien haben sie auf unterschiedliche Art gedient. Wenn man sie brauchte, waren sie da. Als Bundeskanzler Gerhard Schröder seine Agenda-Reform in der SPD gegen heftige Kritik verteidigen musste, trat Hans-Jochen ans Rednerpult und stellte sich mit einer Leidenschaft und einem Kampfesmut schützend vor die Politik des Parteifreundes, mit dem er in früheren Jahren nicht immer so richtig auf einer Wellenlänge gelegen hatte. Vogel war und ist ein Pflichtmensch, Schröder lebte und lebt das Leben. Aber Schröders Mut zu Reformen und sein Nein zum Irak-Krieg haben Vogel imponiert.

Ich höre ihn, als wäre es gestern gewesen, auf dem Parteitag in Berlin, wo er die jüngeren Parteifreunde wegen ihrer Klagen und Jammerei attackierte. Als wären die geplanten Eingriffe in den Arbeitsmarkt und die Sozialpolitik nicht zu ertragende Zumutungen für die Genossen. Da kamen sie bei Hans-Jochen Vogel an den Richtigen. Er erinnerte in kräftigen Worten an die Jahre nach dem Krieg, die voller Entbehrungen waren für Millionen. Aber die Generation Krieg hat die Dinge auf sich genommen, die Ärmel hochgekrempelt und gestemmt, was es zu stemmen gab.

Ähnlich Bernhard Vogel, der seiner CDU oft und lange gedient hat. Das Wort “dienen”, wenngleich es nicht mehr modern ist, darf man bei beiden Vögeln (Pardon, die Herren!) verwenden. Denn beide sahen sich im Auftrag für das Land unterwegs, nicht wegen des Geldes. Als die Thüringer CDU in Not geriet, weil der amtierende Ministerpräsident Josef Duchač offensichtlich DDR-Vergangenheitsprobleme hatte, ließ sich Vogel von seinem Kanzler Helmut Kohl, damals zugleich Parteichef der CDU, in die Pflicht nehmen, ging nach Erfurt und wurde 1992 Ministerpräsident des Freistaates.

Diesem Kanzler hielt Bernhard über Jahrzehnte die Treue. Er besuchte ihn auch dann noch regelmäßig, als Kohl schon im Rollstuhl saß und seine zweite Frau, Maike Kohl-Richter, andere Freunde nicht mehr vorließ. Dabei hat sich Kohl früher oft genug über den Bernhard amüsiert, damals in Mainz. So soll Bernhard Vogel auf Bitten Kohls schon mal Theater gespielt haben, weil der Chef seinen Spaß haben wollte. Aber der Bernhard ist ein friedlicher Zeitgenosse, der über seinen alten Mentor kein böses Wort verliert.

In der Tat hatte Kohl seinen Studienfreund Bernhard gefördert und ihn 1967 als Kultusminister an den Kabinettstisch in Mainz bugsiert, zusammen mit Heiner Geißler, der Arbeits- und Sozialminister wurde. Wenig später musste Amtsinhaber Peter Altmeier den Platz räumen für Helmut Kohl, der Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz wurde.

Den Spitzenplatz in der Mainzer Staatskanzlei, den Vogel 1976 einnahm, als Kohl als Oppositionschef nach Bonn ging, habe Kohl dem Bernhard Vogel zunächst nicht richtig zugetraut – so erinnern sich Parteifreunde noch heute. Und als Vogel von parteiinternen Konkurrenten zum Rücktritt als CDU-Chef von Rheinland-Pfalz gedrängt wurde und in der Folge das Amt des Ministerpräsidenten abgab, habe Kohl seinem alten Freund nicht geholfen, sondern zugeschaut. Damals, am 1. November 1988, verlor Vogel wohl das einzige Mal in seinem politischen Leben die Nerven, als er den Saal mit den Worten verließ: “Gott schütze Rheinland-Pfalz!” Es passte nicht zu dem sonst eher bescheidenen Bernhard Vogel, so zu tun, als hinge Wohl und Wehe des Landes allein von ihm ab. Eins aber stimmt noch heute: Damals schoss sich die CDU in Mainz in die Opposition.

Ja, was soll man über die Vogel-Brüder sonst noch schreiben? Frei nach Johannes Rau ist alles gesagt, nur nicht von allen. Reden wir über Stationen ihrer Karrieren: Hans-Jochen war Oberbürgermeister in München und als OB hat er mit dafür gearbeitet, dass die bayerische Metropole Austragungsort der Olympischen Spiele 1972 wurde. Er wechselte von München nach Bonn, um Wohnungsbauminister und später Justizminister zu werden. Als die SPD in Berlin um die Verteidigung ihrer Macht kämpfte, ließ sich Hans-Jochen Vogel 1981 breitschlagen, Regierender Bürgermeister in der geteilten Stadt zu werden. Doch er konnte nicht mehr verhindern, dass Richard von Weizsäcker die nächste Wahl gewann.

Vogel ging zurück nach Bonn und selbstverständlich trat er 1983 als Kanzlerkandidat der SPD an, als Kohl Helmut Schmidt aus dem Kanzleramt gedrängt hatte. Es war ein Ehrenamt für Vogel, mehr nicht, denn er hatte keine Chance gegen den “schwarzen Riesen”. Dann übernahm er von Herbert Wehner den Vorsitz der Bundestagsfraktion und zeigte den Kollegen, was Ordnung und Disziplin ist. Immer vorbereitet zu sein, der Rolle, Regierung im Wartestand zu sein, gerecht zu werden – das war sein Antrieb. Als Kärrner den Karren ziehen, wie es Herbert Wehner mal für sich in Anspruch genommen hatte. Vogel bewunderte Wehner, weil er dessen Aufs und Abs im Leben kannte und wusste, was der alles erlitten und auf sich genommen hatte. Derselbe Wehner, der Hans-Jochen Vogel bei dessen Amtsantritt in Bonn als neuer Minister schon mal als “weißblaues Arschloch” tituliert hatte.

Aber so war halt Wehner: rau, aber herzlich. Und dann wurde Vogel auch noch Nachfolger von Willy Brandt als Bundesvorsitzender der SPD. Wenn das kein Traumjob – Vogel möge mir den Begriff verzeihen – für einen wie ihn war! Die Partei zu führen, in die er kurz nach dem Krieg eingetreten war, angeworben von Waldemar von Knoeringen, dem “roten Baron”, dem Vordenker der SPD in Bayern. Und eines Tages trat er als Fraktions- und Parteichef zurück, ohne dass man ihn gedrängt hätte. Auch sein Arzt hatte ihm bestätigt, dass er topfit sei. Er übergab die Geschäfte in geordnetem Zustand.

Reden wir über Bernhard Vogel. In den Wahlkämpfen in Rheinland-Pfalz habe ich ihn reden hören, nicht kämpfen. Denn die Wahlsiege im Land der Reben, Rüben und Raketen waren für die CDU so überraschend nicht. Und Vogel war keiner, der den Gegner verbal fertig zu machen versuchte. Er war fair, freundlich und hin und wieder fröhlich. Manche Rede war eher im Ton einer Predigt gehalten. So war er, und seine Amtskollegen schätzten diesen zudem sehr gebildeten und belesenen Mann, mit dem man gut auskommen konnte, der Fragen stellte und andere gern zu Wort kommen ließ.

Natürlich hatte er auch den Machtanspruch und hat entschieden, was zu entscheiden war. Sonst wäre er nicht geworden, was er wurde: MdB, Landesvorsitzender der CDU in Rheinland-Pfalz, später CDU-Chef in Thüringen, viele Jahre Kultusminister in Rheinland-Pfalz, Ministerpräsident dort, kurzzeitig Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung, dann rief ihn Kohl und Bernd Vogel “flog” nach Erfurt, wurde Ministerpräsident, 2003 trat er freiwillig zurück – aus Altersgründen. Da ist noch eine Gemeinsamkeit der Vogel-Brüder: loslassen können, gehen, solange die Leute sagen: “Schade, dass er geht.” Vorsitzender der Adenauer-Stiftung blieb er bis 2009, seither engagiert er sich als Ehrenvorsitzender.

Beide “Vögel” genießen in Deutschland hohes Ansehen und das nicht nur in ihrer Partei. Sie sind angesehen, weil sie glaubwürdig geblieben sind, authentisch, jeder auf seine Weise. Hans-Jochen Vogel gilt stets als der strengere Herr, als der Oberlehrer, der alles weiß und hin und wieder sogar besser weiß. Bernd Vogel weiß davon ein Lied zu singen. Nein, nicht mit einem Beiklang von Häme. Politischen Streit haben die Brüder nie ausgetragen, bis heute lassen sie die Öffentlichkeit davon verschont. Politisch haben sie beide viel erreicht und mit ihrer Art der Politik und Haltung viel zur Stabilität in diesem Land beigetragen.

Bernd Vogel kann für sich in Anspruch nehmen, dass er nach der Wende und dem Rücktritt von Duchač in Thüringen gute Arbeit geleistet hat. Dass es dem Land so gut geht, hängt auch mit seiner Leitung der Geschäfte in Erfurt zusammen, damit, dass er es konnte, der Bernd Vogel: regieren. Die Wahlsiege in Thüringen kamen nicht von ungefähr. Der Kulturmensch Bernd Vogel mag kein Experte der Wirtschaft gewesen sein, aber er hatte ein gutes Händchen und hat sich die nötigen Experten von außen geholt. Der Wirtschaft in dem Land geht es gut.

Er spielt gern Skat, berichten Bekannte und Freunde, immer nach den Altenburger Regeln. Was sonst käme für den eins­tigen Ministerpräsidenten von Thüringen infrage. Altenburg, die Wiege des Skatspiels. Dort wurden die strengen Regeln erfunden. Vogel spielt kein Bauernskat, sondern ohne Ramsch, weil er letzteres für Betrug hält – er selbst würde es wohl feiner formulieren.

Wenn Hans-Jochen Vogel früher als Fraktionschef im Bundestag ans Rednerpult trat, wurde er gelegentlich auch von seinem Enkel daheim am Fernseher beobachtet. Als Chef der Opposition attackierte er oft mit hochrotem Kopf Kohls Politik und schaute dabei sehr ernst drein, haute auch mal mit der flachen Hand aufs Pult, um seinen Worten mehr Kraft zu verleihen. Kam er am Abend nach Hause, fragte der Enkel: “Warum warst Du heute Morgen so böse?” Dabei kann Vogel nicht nur die ernste Rolle. Wir haben mit ihm auch gelacht. Und einmal gab er eine spaßige Bemerkung eines Kollegen ebenso spaßig zurück: “Ich geh’ zum Lachen nicht in den Keller.”

Später, als er mit seiner Frau in ein Altersheim in München gezogen war, habe ich ihn eines Tages angerufen, um für ein Porträt über ihn zu recherchieren. Wie verabredet wählte ich Punkt neun Uhr seine Nummer in München und ließ läuten. Sekunden verstrichen, dann meldete er sich mit den Worten: “Sie sind ja überpünktlich.” Darauf antwortete ich: “Ja, Herr Dr. Vogel, von wem haben wir Journalisten das denn in Bonn gelernt?” Darauf Vogel: “War ich so schlimm?” Antwort: “Nein, aber immer pünktlich.”

Alt sind die Vogel-Brüder geworden, das darf man sagen, ohne ihnen zu nahe zu treten. Bernd Vogel ist 82 Jahre alt, Hans-Jochen ist sieben Jahre älter. Weißhaarig sind sie, tragen weiter Kassenbrille und oft die übliche politische Garderobe: graue Hose, blaues Sakko. Brüder ohne Mätzchen, aber mit einer Lebensleistung, die sich wahrlich sehen lassen kann.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Beste Wahl. Das Heft können Sie hier bestellen.