"Welchen Tipp haben Sie für junge Politiker, Frau Süssmuth?"

p&k: Frau Süssmuth, vor 25 Jahren wurden Sie als zweite Frau überhaupt zur Bundestagspräsidentin gewählt. Sie haben damals gesagt, Sie hoffen, dass Ihr Beispiel andere Frauen ermutigt, politische Verantwortung zu übernehmen. Hat sich Ihr Wunsch erfüllt?

Rita Süssmuth: Wir haben auf jeden Fall Fortschritte gemacht. Mitte der 80er Jahre hatten wir nicht mehr Frauen im Parlament als zu Beginn der Weimarer Republik. Das fand ich schon damals erschreckend. Wenn wir heute sagen können, im Bundestag sind 36 Prozent Frauen und im Präsidium sitzen vier Vizepräsidentinnen, dann hat sich Entscheidendes verändert. Aber wir dürfen nicht nachlassen. Das sind wir auch den Frauen schuldig, denen wir die Veränderungen zu verdanken haben.

An wen denken Sie da?

Zum Beispiel an die Sozialdemokratin Elisabeth Selbert, die mit ganz wenigen Frauen den Satz „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ für unser Grundgesetz erkämpft hat. Sie hat 1948/49 mit einer großen Kampagne die Bevölkerung mobilisiert. Der Parlamentarische Rat hat dann Waschkörbe voll Post bekommen, sodass er gar nicht mehr anders konnte, als den Artikel 3 entsprechend zu formulieren. Ich nenne solche Beispiele nicht um der Historie willen, sondern um zu zeigen, was wir auch heute brauchen: Mut, Tatkraft und die Überzeugung, die einen auch dann weitermachen lässt, wenn man einmal gescheitert ist.

Wenn man auf Ihre Karriere blickt, gehört wohl auch ein dickes Fell dazu …

Das habe ich aber nicht. Ich bin zwar belastbar und gebe ungern auf – ich bin wahrscheinlich die letzte, die aufgibt –, trotzdem ist es mir manchmal schon sehr nahe gegangen, wenn ich harte Konflikte austragen musste.

Letztlich haben Sie die aber nie gescheut – nicht in der Frauen- und Integrationspolitik, und auch nicht beim Thema HIV/Aids, mit dem Sie sich als Gesundheitsministerin Ende der 1980er Jahre auseinandersetzen mussten.

Das stimmt. Bei allen Themen ging es darum, Menschen davor zu schützen, ausgegrenzt zu werden. Dagegen wollte ich etwas tun. Eine Gesellschaft darf niemanden ausgrenzen oder an den Rand drängen – nicht die Frauen, nicht die Migranten, weder behinderte Menschen noch Kranke. Das ist mein Leitthema.

Aber gerade beim Thema HIV mussten Sie nicht nur in Ihrer Partei gegen Widerstände kämpfen, viele Menschen waren verunsichert.

Ja, es gab anfangs immense Ängste und wenig Kenntnisse über diese Krankheit in der Gesellschaft. Dennoch mussten wir handeln. Mit der Kampagne „Gib Aids keine Chance“ haben wir die Menschen erreicht. Wir wollten damals für Prävention werben und sagen: Du kannst was tun! Da haben wir auch von amerikanischen Kampagnen gelernt, die oft auf den „It’s your concern“-Effekt setzen. Es ist wichtig zu vermitteln: Es betrifft nicht nur die anderen! Und die Kampagne ist immer noch wichtig, weil im Augenblick die Zahl der Infizierten – gerade unter Jugendlichen – wieder ansteigt. Aber damals stand es manchmal Spitz auf Knopf. Wenn Peter Gauweiler …

… der damals als Staatssekretär des Innenministeriums in Bayern Zwangstests für Homosexuelle, Prostituierte, Drogenabhängige und angehende Beamte einführen wollte und Ihr härtester Gegner war …

… mal wieder in den Medien auftrat und dort seine Zahlen von Millionen von Infizierten präsentierte, dann war das jedes Mal ein Rückschlag. Aber zusammen mit meinem Team habe ich das weggesteckt – so was bewältigt man nicht alleine. Sie brauchen dann jemanden, der Ihnen sagt: „Wir schaffen das!“ Der Durchbruch für unser Konzept „Prävention und Vermeidung von Ausgrenzung“ kam bei einer gemeinsamen Sitzung mit den Gesundheitsministern der Länder im November 1988 im Reichstagsgebäude im damals noch geteilten Berlin. Alle – mit Ausnahme des Vertreters aus Bayern – haben zugestimmt. Eine Stunde nach dem Beschluss kam ein Anruf aus Bonn, ich solle am nächsten Morgen ins Kanzleramt kommen.

Wollte Helmut Kohl Ihnen gratulieren?

Nein, er hat mich gefragt, ob ich als Kandidatin für die Nachfolge von Bundestagspräsident Philipp Jenninger zur Verfügung stünde. Sie können sich vorstellen, dass ich in diesem Moment primär den Wunsch hatte, als Ministerin weiterzumachen.

Was hat Sie letztlich überzeugt, doch Bundestagspräsidentin zu werden?

Überzeugt war ich nicht, aber ich habe eine Verpflichtung gespürt. Ich muss allerdings zugeben: Es ist mir schwer gefallen. Ich hatte die Wissenschaft aufgegeben, um etwas zu verändern. Und ich sah damals nicht, was ich als Bundestagspräsidentin verändern könnte.

Und: Hat sich diese Einschätzung bewahrheitet?

Nein, im Gegenteil. Als Bundestagspräsidentin habe ich viele fraktionsübergreifende Initiativen mit auf den Weg gebracht, etwa gegen Vergewaltigung in der Ehe oder beim Paragrafen 218 …

… in dem der Schwangerschaftsabrruch geregelt ist.

Man macht sich damit nicht beliebt bei den Fraktionen, aber wenn man mutig rangeht, dann macht es auch Spaß, Veränderungen zu ermöglichen.

Fraktionsdisziplin und Parteiräson gehören zum politischen Alltag – welchen Tipp haben Sie für junge Abgeordnete: Wie können sie sich treu bleiben?

Wenn einem etwas wirklich wichtig ist, dann muss man dazu stehen. Das sollte jeder tun, der in die Politik geht. Das ist meine Grundüberzeugung. Trotzdem habe ich ja nicht jede Woche die Fraktionsdisziplin verletzt, die natürlich auch wichtig ist, um Mehrheiten zu bekommen. Aber dieses und jenes einfach so für die politische Karriere preiszugeben – das ist nicht der richtige Weg, das war nicht mein Weg.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Bleibt alles anders? – Die Kampagnentrends 2014. Das Heft können Sie hier bestellen.