Was taugt der Führungstrend Achtsamkeit?

Politik

Betrachten Sie eine Rosine. Nehmen Sie sie in die Hand und schauen Sie sich dieses merkwürdige, schrumpelige Gebilde an, befühlen Sie es so lange, bis es Ihnen faszinierend und fremd vorkommt, als käme es von einem anderen Stern. Halten Sie die kleine Frucht ins Licht, riechen Sie an ihr, nehmen Sie sie schließlich in den Mund. Und schon haben Sie eine bekannte Achtsamkeitspraxis für Anfänger – ganz ohne “Omm” oder Räucherstäbchen – erfolgreich absolviert.

Achtsamkeit, “Mindful Leadership”, “Search inside yourself” – das Angebot an Seminaren, Ratgebern und Coachings zu empathischer Führung ist in den vergangenen Jahren rasant gewachsen. Und wie es scheint, auch die Nachfrage: Die “Mind Conference”, die Ende April in Berlin stattfand, war schon nach wenigen Tagen ausgebucht, die Warteliste lang. Dort sprachen Achtsamkeitstrainer und Führungspersönlichkeiten aus verschiedenen Unternehmen darüber, wie man Denken und Führen beflügeln kann, indem man ein Bewusstsein für den gegenwärtigen Moment schafft. Zwischen den Panels meditierten die Teilnehmer oder ­ließen das gewonnene Wissen im Lotussitz auf der Yoga­matte ­sacken.

Unter den Referenten war auch Günther Panke. Der Gründer des “Mindful Leadership Institute” mit Sitz in Stuttgart gestaltete zusammen mit Mounira La­trache, Communications- und Public-Affairs-Managerin bei Google, einen Workshop mit dem Titel “Wie überlebe ich als Geschäftsmann in der VUCA-Welt?”. Die Abkürzung steht für Volatility (Unberechenbarkeit), Uncertainty (Ungewissheit), Complexity (Komplexität) und Ambiguity (Ambivalenz). Man könnte meinen, gerade in Start-ups und dem Silicon Valley bleibt angesichts dieser Gegebenheiten keine Zeit für Meditation. Doch ausgerechnet von dort kommt der Trend. Der Softwarehersteller SAP gründete unlängst ein globales Achtsamkeitsprogramm, das Hamburger Büro von Google verwandelte einen “Powernapping-Room” in ein Meditationszimmer und Helmut Lind, Chef der Sparda-Bank München, hat gleich das ganze Unternehmen umgekrempelt und wird nicht müde zu betonen, wie sehr ihm das Wohlbefinden seiner Mitarbeiter am Herzen liegt.

Raus aus der Esoterikecke

Zu Beginn seiner Achtsamkeitsseminare erzählt Günther Panke, der ein Immobilienunternehmen führt, eine persönliche Anekdote. Vor einigen Jahren hatte er ein Gebäude nach einigen Monaten endlich an einen Kunden vermittelt. Als er seinen Auftraggeber anrief, um die Nachricht zu überbringen, erfuhr er, dass dieser in der Zwischenzeit einen anderen Käufer gefunden hatte. “Normalerweise wäre ich ausgerastet”, sagt Panke. Damals noch Anfänger in Sachen Achtsamkeit, wagte er ein Experiment: Er fokussierte sich auf seine Wutsymptome, den verkrampften Kiefer, die Fingernägel in den Handflächen. Wie ein Außenstehender beobachtete er sich und merkte, wie die Wut langsam verblasste. Er versuchte für den Kunden Empathie aufzubringen, fragte ihn ruhig nach den Beweggründen, sagte: “Sie müssen jetzt nicht entscheiden, rufen Sie mich am Nachmittag nochmal an.” Der Kunde meldete sich kurz darauf, das Geschäft kam zustande. “Hätte ich den Hörer aufgeknallt, wäre das wohl nicht gelungen.” In der Führung seiner Mitarbeiter erlebt er oft ähnliche Situationen.

Günther Panke:  “Mitgefühl und die Fähigkeit, zuzuhören, sollten in der Politik Kernkompetenzen sein.” (c) privat

Selbstregulierung ist in der Achtsamkeit ein großes Thema. Es geht darum, das eigene Ich besser kennenzulernen, sein Fühlen und Verhalten zu reflektieren. Nur wer mit sich selbst verantwortlich umgeht, kann für andere offen sein, so die Logik. “Achtsamkeit ermöglicht, all das anzunehmen, was ist, ohne es unmittelbar als gut oder schlecht zu bewerten und abzutun”, schreibt Coach Torsten Schrör in seinem Ratgeber “Führungskompetenz durch achtsame Selbstwahrnehmung und Selbstführung” und fährt fort: “Natürlich muss ich als Verantwortlicher irgendwann einschätzen, ob das Handeln meiner Mitarbeiter zielführend ist oder nicht. Aber nicht sofort, nicht ohne in eine Öffnung gegangen zu sein. Diese nicht-bewertende Präsenz erfordert Mut.”

Dass der Trend auch hierzulande angekommen ist, nimmt auch Ludger Ramme, Hauptgeschäftsführer der United Leaders Association (ULA), wahr: “Das ist eine starke Bewegung, man kann schon von einem Hype sprechen.” Der Führungskräfteverband beschäftigt sich mit den Praktiken, hat mit dem Begriff jedoch Schwierigkeiten: “Achtsamkeit ist ein Modewort, das wir nicht gern benutzen. Wir versuchen, das Thema etwas neu­traler zu adressieren, damit es nicht in die Esoterikecke geschoben wird.” Bei der ULA übersetzt sich das in den Slogan “Neu denken, gut führen”, hinter dem sich viele der Techniken und Ansätze der Achtsamkeit verbergen, beispielsweise die Förderung einer wertschätzenden, motivierenden und verantwortungsvollen Führungskultur.

Nach einer Umfrage unter den Verbandsmitgliedern kristallisierten sich zwei Megatrends heraus: zum einen der nachhaltige Umgang mit sich selbst, zum anderen die Digitalisierung und deren Auswirkungen. Ramme sieht eine Verbindung zwischen beiden Themen. Durch neue technische Möglichkeiten werde die Freiheit der Führungskräfte erweitert, unter anderem durch das Bröckeln der Präsenzkultur. Doch je mehr sich beispielsweise durch den Gebrauch sozialer Netzwerke Privates und Berufliches vermische, desto mehr sei gutes Selbstmanagement gefragt. So geht es auch Ramme: “Ich brauche am Morgen eine halbe Stunde ohne Smartphone und Computer und mache Yoga oder einen Waldspaziergang, um Kraft für den Tag zu sammeln.”

Ein Phänomen der Generation Y?

Aber ist die neue, weichere und sensiblere Führung ein Phänomen der Generation Y? Der Bildungs- und Jugendforscher Klaus Hurrelmann ist davon überzeugt: “Ihre Vertreter sind gegen starre Hierarchien, brauchen Sinnerfüllung, sind aus der digitalen Welt direktes Feedback gewohnt.” Und nun, da die ersten von ihnen Karriere machen, gebe es immer dann Schwierigkeiten, wenn sie Führungskräfte bekämen, die autoritär über sie verfügten.

Wichtigste Kompetenzen von Führungskräften heute und morgen sind laut Hurrelmann: “Neugierig sein, was im Team für einzelne Stärken stecken, sensibel sein, genau zuhören, was der einzelne Mitarbeiter wirklich will, stetig Rückmeldung geben und Leistungen würdigen.” Die Hauptbotschaft müsse sein: “Bitte denkt mit, wir wollen gemeinsam etwas schaffen, und wenn das gelingt, werden auch alle beteiligt.”

Klaus Hurrelmann: “Autoritäre Führung stößt in der Generation Y auf Ablehnung”. (c) Michael Danner

Bescheiden und ehrgeizig

Der Management-Experte Jim Collins fand bereits in den neunziger Jahren in einer Studie heraus, was gute von hervorragender Führung unterscheidet: Langfristig am erfolgreichsten sind demzufolge Unternehmen, die von Persönlichkeiten gelenkt werden, die über zwei Merkmale verfügen: Entschlossenheit und Bescheidenheit. Führungskräfte, die ihre Bedürfnisse hintanstellen und gemeinsame Erfolge betonen.

Aber warum wird Achtsamkeit ausgerechnet jetzt zum Management-Trend? Neu ist die Methode nicht. In den späten siebziger Jahren gründete der Molekularbiologe Jon Kabat-Zinn in den USA die “Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion”, ein Programm zur Stressbewältigung mithilfe von Yoga und Atemübungen. Den buddhistischen Überbau dieser Techniken streifte er ab und widmete sich deren therapeutischer Wirkung aus wissenschaftlicher Sicht.

Heute werde den Menschen durch den demografischen Wandel und damit einhergehende politische Maßnahmen bewusst, dass sich die Lebensarbeitszeit verlängert, sagt Ramme. Zuvor hätten viele Manager noch das Modell gelebt, sich auszupowern und dann mit Mitte 50 zur Ruhe zu setzen. Es gebe einen Paradigmenwechsel: “Die Langstreckenläufer kommen ins Ziel, jene, die sich nicht verschleißen.” Und diese betrachteten eine Work-­Life-Balance, das tägliche Yin und Yang, als erfüllend.

Digitale Omnipräsenz versus Achtsamkeit

Dennoch: Gerade von der Generation Y wird mitunter ständige Erreichbarkeit gefordert. Zwischendurch E-Mails auf dem Smartphone checken, in der Freizeit wichtige Anrufe entgegennehmen – ist das mit den Praktiken überhaupt vereinbar? Panke bejaht: “Gerade wegen solcher Anforderungen ist Achtsamkeit absolut notwendig!” Natürlich: Wer drei Wochen Urlaub macht, ohne einen Blick ins berufliche Postfach zu riskieren, bekommt womöglich ein Problem. Es gebe aber ein Umdenken in Start-ups und Großkonzernen, da ist sich Panke sicher.

Oft sind es Personalmanager, die Panke für ihr Unternehmen anfragen. Seine Bedingung: Die Belegschaft muss offen für die Schulung sein. Im Falle einer Biomarktkette aus Luxemburg ist es kürzlich genau daran gescheitert. “Viele fürchten sich vor der aktiven Mitarbeit, die so ein Training erfordert”, sagt Panke. Aus Perspektive der Geschäftsführung sollte eine solche Maßnahme gut überlegt sein. Als Kosmetik ohne Verankerung taugt sie nichts. Einmal wurde ein Kurs in einem Callcenter mit fragwürdigen Arbeitsbedingungen gegeben, “für die Firma war das völlig kontraproduktiv – im darauffolgenden halben Jahr hat ein Großteil der Mitarbeiter gekündigt. Sie waren frustriert, da das alltägliche Arbeiten nicht mit den gelernten Praktiken vereinbar war.”

Reflektieren, Zuhören, Dinge nicht zwischen Tür und Angel entscheiden: Achtsamkeit kostet Zeit, da stimmt ULA-Geschäftsführer Ramme zu. Doch man solle diese als Investment begreifen: “Ich bin sehr optimistisch, dass sich das auszahlt, viel Aufwand im Personalmanagement motiviert und befähigt die Belegschaft.”

Teil der achtsamen Führung ist eine gute Feed­backkultur. Es reicht nicht mehr, einmal im Jahr in Mitarbeitergesprächen harte Fakten zu besprechen. Gefühle sollten am Arbeitsplatz kein Tabu sein, findet Ramme. “Früher hieß es oft: ‚Du wirst viel zu persönlich.’ Der Mensch wird aber zu 80 Prozent von seinen Emotionen gelenkt. Wer das als Führungskraft begreift, hat einen entscheidenden Vorteil.”

Und in der Politik? Beinahe alle Ratgeber und Coachings richten sich an Unternehmensvertreter. “Die Wirtschaft ist da schneller, weil sie dem Konkurrenzkampf eines harten Markts unterliegt”, sagt Panke. Das politische System braucht offenbar länger, um sich zu überholen.

Man stelle sich bloß vor: Vor jeder Parlamentssitzung würden die Abgeordneten innehalten und meditieren. Sie nähmen ihr Ego aus dem Fokus und rückten das Gemeinwohl hinein, träten den Haltungen anderer nicht aufbrausend entgegen, sondern empathisch. “Ob ich einen Dialog führe oder ein Kampfgespräch: Empathie macht den Unterschied”, sagt Panke. “Mitgefühl und die Fähigkeit, zuzuhören, sollten in der Politik Kernkompetenzen sein.” Empathie bedeutet dabei nicht, dass man seinem Gegenüber zustimmen muss oder ihn psychologisiert. Google­-Ingenieur Chade-Meng Tan schreibt im Ratgeber “Search Inside Yourself”: “Einen geschulten Geist erkennt man daran, dass er die Gefühle eines anderen verstehen und akzeptieren kann, ohne sich ihnen anzuschließen.”

Meditation im Innenministerium

Und wer kommt in der deutschen Politik dem beschriebenen Führungsstil am nächsten? In diesem Punkt sind sich Ludger Ramme, Günther Panke und Klaus Hurrelmann einig: Angela Merkel. “Sie führt wirklich, hat Weitblick, klare Prinzipien und ist uneitel – ein wichtiger Wesenszug für Führungskräfte”, sagt Ramme. Panke hat einmal einen Brief an die Kanzlerin geschrieben. Er stünde gern als Coach zur Verfügung, um ihre Mitstreiter empathischer zu machen. Eine Rückmeldung hat es nie gegeben.

Vergangenes Jahr wurde Panke erstmals von einer politischen Institution gebucht, dem Innenministerium Baden-Württembergs. Auf einem Gesundheitstag bot er ein Achtsamkeitstraining an. Bei den Ministeriumsmitarbeitern fand es Anklang, sodass ein achtwöchiger Kurs zu “Achtsamkeitsbasierter Stressreduktion” im Raum stand. Doch 3.000 Euro für 26 Stunden, Pankes gängiges Honorar, überstiegen das Budget.

Im Gegensatz zur Wirtschaft hat die junge Generation der politischen Führungskultur noch nicht so sehr ihren Stempel aufgedrückt. Nach wie vor herrschen gerade in höheren Ämtern Vertreter der Babyboomer-Generation vor. Das tastende und reflektierende Vorgehen der Jungen dürfte sich aber auch dort durchsetzen, glaubt Hurrelmann. Und das lieber früher als später: “Je langsamer sich der Führungsstil an die junge Generation anpasst, desto stärker nimmt die Entfremdung von den Parteien zu.”Die Piraten, nicht zuletzt an ihrer inneren Struktur gescheitert, hätten sich in Sachen “neuer Führung” abgehoben. Seit sie weitgehend von der Bildfläche verschwunden seien, gebe es im Parteienvergleich kaum Unterschiede. Lediglich einzelne Personen trieben bisher achtsame Führung voran. Demgegenüber neigten gerade erstarkende rechtspopulistische Parteien wie die AfD zu eher autoritären Führungsstilen.

Ludger Ramme: “Langstreckenläufer kommen ins Ziele, jene, die sich nicht verschließen”. (c) Laurin Schmid

Workout für den Geist

Nachhaltigkeit, Leitlinien, Authentizität: Zum Thema Leadership gibt es alle Jahre wieder einen neuen Wurf. Ein Führungskonzept bestehe aus fünf bis sechs Komponenten, und die, bei der das größte Defizit herrsche, werde in den Vordergrund gerückt, sagt Hurrelmann. So auch die Achtsamkeit. “Das ist ein absoluter Modebegriff, er wird aufgeschäumt bis zum Gehtnichtmehr, viele verdienen sich eine goldene Nase daran, aber Vorsicht: Das bedeutet nicht, dass das Konzept wertlos ist.”

Eines Tages, hofft Günther Panke, werde es für alle ganz selbstverständlich sein, “Workout für den Geist“ zu betreiben. Sich solchen Praktiken zu widmen, wäre dann nicht exotischer, als seinen Körper im Fitnessstudio zu trainieren. Achtsame Führung könne sich jeder aneignen, selbst der größte Choleriker, glaubt Panke. Ob ein solcher aber auch dazu bereit ist, in einem Kurs gemeinsames Atmen zu üben, ist fraglich. Vielleicht sollte er mit einem kleinen Schritt anfangen. Dem Betrachten einer Rosine zum Beispiel.

Prinzipien Achtsamer Führung

1. Selbstwahrnehmung und -Management:
Die grundlegende achtsame Führungskompetenz ist die Selbstwahrnehmung, auf ihr baut alles auf. Anstatt Gefühle existenziell werden zu lassen (“Ich bin wütend!”), sollte man ihre Auswirkungen beobachten (“Ich spüre Wut in meinem ­Körper”).

2. Präsenz und Zuhören:
Die Aufmerksamkeit sollte auf den gegenwärtigen Moment ausgerichtet werden. So kann man anderen aufmerksam zuhören und sich ­fokussieren.

3. Emphatie:
Wer seine eigenen Gefühle kennt, kann sich auf andere einlassen und einfühlsam sein. Für Führungskräfte bedeutet das, Verständnis zu zeigen und den Mitarbeiter auch in schwierigen Situationen zu unterstützen.

4. Wertschätzung und Offenheit:
Wertschätzung bedeutet, dem anderen zuzuhören, ohne sofort ein Werturteil zu fällen. Dazu gehört es auch, auf Feinheiten in Tonfall und Körpersprache zu achten.

5. Gelassenheit:
Insbesondere für Führungskräfte ist es wichtig, einen starken inneren Halt zu haben. Wer sich klar artikuliert, die eigenen Emotionen im Blick behält und mit anderen über diese spricht, kann auch in herausfordernden Situationen ruhig bleiben.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe politik&kommunikation II/2016 Leadership. Das Heft können Sie hier bestellen.