"Selbst der Papst kann nicht tun, was er will"

Politik

p&k: Herr Simon, Soziologe Max Weber verstand Macht als die Chance, den eigenen Willen auch gegen Widerstand durchzusetzen. Was bedeutet Macht aus sozialpsychologischer Sicht?

Bernd Simon: Beim Machtbegriff des Sozialpsychologen Kurt Lewin liegt der Fokus darauf, Menschen zu leiten. Macht bedeutet, andere so zu beeinflussen, dass sie im Sinne unserer Agenda handeln. Es geht nicht darum, Menschen zu zwingen oder ihren Willen zu brechen. Bestenfalls beugt man ihren Willen und lenkt sie in die gewünschte Richtung. Die Menschen müssen aber – und das ist entscheidend – mitmachen. Sie werden nicht zu willenlosen Wesen gemacht.

Aber bei Macht geht es doch darum, wer das Sagen hat, oder nicht?

Wichtig ist die Unterscheidung zwischen Willen beugen und Willen brechen. Ein Beispiel: Im Krieg übe ich gegenüber meinem Feind keine Macht aus, sondern Gewalt. Wenn Bomben fallen, wird der Wille von Menschen gebrochen, nicht gebeugt. Meine eigenen Truppen dagegen versuche ich, mit Macht zu leiten. Die müssen freiwillig mitmachen. Gelingt es mir nicht, den Willen anderer zu lenken, bin ich machtlos.

Woraus speist sich Macht?

Klassischerweise werden sechs Ressourcen von Macht unterschieden: Zwang, Belohnung, Legitimität, Referenz, Expertenstatus und Information. Wer Zwang ausübt, hat Sanktionsmacht. Wer Belohnungen austeilen kann, hat Belohnungsmacht. Ebenso können Menschen Macht qua Amt, aufgrund einer Vorbildrolle oder wegen Expertenwissens besitzen. Wer privilegierten Zugang zu Informationen hat, ist ebenfalls mächtig. Dieser klassische Ansatz ist aus meiner Sicht aber unzureichend.

Warum?

Weil es keine Ressource gibt, die Menschen automatisch Macht verleiht. Ist jemand an Geld interessiert, kann ich mit finanziellen Mitteln Belohnungsmacht auf ihn ausüben. Bei Menschen, für die Geld keine Rolle spielt, versagt meine Machtbasis. Selbst Wissen ist keine universelle Machtquelle.

Gilt nicht “Wissen ist Macht”?

Nicht unbedingt. Person X ist für manche Kreise ein Experte, für andere nicht. Nehmen Sie den Wirtschaftsweisen Peter Bofinger. Für linksorientierte Personen ist er ein Experte, konservative Menschen erkennen eher Hans-Werner Sinn vom Münchener Ifo-Institut als Experten an. Keiner von beiden hat einen absoluten Expertenstatus und unbedingte Macht. Macht ist immer relational.

Wie meinen Sie das?

Entscheidend ist die Beziehung zwischen dem vermeintlich Mächtigen und dem vermeintlich Beherrschten. Diese Beziehung muss auf einer geteilten Identität basieren. Nur dann kann die eine Person Macht über die andere ausüben.

Und woran sind Mächtige zu erkennen? Gibt es im Sinne Bourdieus einen Habitus der Macht?

Der Habitus von Mächtigen, die Gruppen mit traditionell hohem gesellschaftlichem Status entstammen, ist von einer enormen Selbstverständlichkeit geprägt. Das ist kein kämpferisch vorgetragener Habitus. Vielmehr agieren diese Mächtigen mit einer dezenten Leichtigkeit, die stilsicher Souveränität und Überlegenheit signalisiert.

Kann man diesen Verhaltenscode lernen?

Ja und nein. Ein guter Schauspieler kann während seiner Performance Macht simulieren. Aber auf Dauer? Das bezweifle ich. Ein Habitus formt sich nicht durch explizite Lernprozesse, sondern durch unbewusste Aneignung. Den diskreten Charme der Bourgeoisie kann man nicht erlernen.

Ist es generell wirkungsvoller, mit Macht diskret umzugehen, als sie vor sich herzutragen?

Das hängt davon ab, ob man sich in einem Gefüge befindet, in dem man die Macht sicher auf seiner Seite hat. Wenn man noch Machtkämpfe austragen muss, kann man sich nicht habituell auf seine Macht verlassen. In Zeiten des Umbruchs oder der Krise müssen Eliten Zähne zeigen nach dem Motto: Wir können auch anders. Theodore Roosevelt riet: “Speak softly and carry a big stick.”

Gilt der Grundsatz: kein Machtzentrum ohne Peripherie?

Eher: kein Machtzentrum ohne Basis. Es braucht ein Band der Identifikation. Nehmen wir die Beziehung zwischen Chef und Team: Mitarbeiter sind nicht völlig machtlos, denn der Vorgesetzte hat ihnen gegenüber auch Verpflichtungen. Machtbeziehungen sind nie einseitig. Selbst der Papst kann nicht tun, was er will.

In der katholischen Kirche hat er doch eine unangefochtene Machtposition.

Ja, dennoch ist auch er gebunden. Der Papst kann nicht in Frauenkleidern auftreten, sich einen Bart ankleben und beim Eurovision Song Contest mitmachen. Damit würde er seine Machtgrenzen überschreiten. Er würde das Band der Identifikation mit seiner Klientel so überstrapazieren, dass es reißt.

Bedeutet das, dass jeder die Grenzen seiner Macht kennen sollte?

Ja. Man muss die Grenzen seiner Bezugsgruppe kennen. Darüber hinaus hat man keine Macht. Der Papst hat großen Einfluss auf die Mitglieder der katholischen Kirche, auf Atheisten oder Muslime wohl kaum.

Woher kommt das Streben nach Macht?

Da Macht auf einer gemeinsamen Identität aufbaut, lohnt sich das Bestreben, diese Identität bestmöglich zu verkörpern. Das kann mit einer Stilisierung beginnen und bis zur Stereotypisierung der eigenen Person gehen. So steigt der eigene Machtanspruch nach dem Motto: Wenn ich unsere Gruppe so gut repräsentiere, habe ich einen Anspruch darauf, gehört zu werden.

Diesen Anspruch hegt aber oft mehr als eine Person. Müssen Mächtige nicht permanent befürchten, dass jemand anderes nur darauf wartet, die Macht an sich zu reißen?

Nicht, wenn die Macht institutionalisiert ist. In der Demokratie wird Macht zumindest für eine bestimmte Zeit verliehen, auch so in vielen Konzernen. In Krisensituationen oder bei Umsatzeinbrüchen wird die Führungsfrage allerdings neu gestellt. Das ist auch gut so, denn Macht ist kein Selbstzweck. Sie soll helfen, Dinge zu bewegen. Permanente Machtkämpfe sind im Hinblick auf Zielerreichung aber kontraproduktiv.

Wie sollten Parteivorsitzende Macht idealerweise einsetzen?

Menschen, die in eine Partei eintreten, signalisieren mit ihrer Mitgliedschaft ihre Bereitschaft, sich einzusetzen. Ein Parteivorsitzender muss ein feines Gespür für diese Bereitschaft haben. Er muss den Mitgliedern ein passendes Identitätsangebot machen. Er muss sie ernst nehmen und ihnen für ihr Engagement eine Richtung geben, damit sie tatsächlich partizipieren können.

Wie viel Autorität ist dabei angebracht, wann ist das Machtwort fehl am Platz?

Es gibt verschiedene Phasen. Anfangs muss der oder die Parteivorsitzende ein Gespür dafür entwickeln, welche Themen die Partei umtreiben. Das muss sehr offen ablaufen. Zunehmend muss die Diskussion aber gebündelt und in eine Richtung gebracht werden. Bei der Umsetzung muss die Parteispitze dann Führung beweisen.

Welche psychologischen Fertigkeiten muss jemand mitbringen, der in einer Partei oder Fraktion Macht erlangen will?

Wer im politischen Kontext Macht anstrebt, muss ein Identitätsunternehmer sein. Mit ihrer Mitgliedschaft in einer Partei oder sozialen Bewegung signalisieren Menschen immer auch eine Identitätsnachfrage. Wer politisch führen will, muss diese Nachfrage bedienen. Politische Führung ist die Kunst, das Gemeinsame auf den Punkt zu bringen. Insbesondere im Fall von Volksparteien ist es aber gleichzeitig hilfreich, neben dem gemeinsamen Kern eine gewisse Unschärfe anzulegen.

Warum?

Dann können mehr Menschen inhaltlich andocken. Unschärfe bietet eine gute Projektionsfläche. Ein Parteivorsitzender muss immer eine gewisse Distanz wahren, da sich dann mehr Menschen in dem gemeinsamen Projekt wiederfinden. Nur kleine Parteien können es sich leisten, exklusiv zu sein. Wenn eine Partei nur ein oder zwei Themen besetzt, kann die Parteispitze eine exklusive Identität anbieten, die durch ihre klare Abgrenzung hochattraktiv ist. Das bedeutet aber auch, dass viele Menschen nicht mitgenommen werden.

Eine Volkspartei kann sich das nicht erlauben. Im Gegenteil: Dort bilden sich entlang des ideologischen Spektrums Flügel heraus. Ist das machttaktisch positiv oder negativ?

In erster Linie ist es notwendig. Volksparteien müssen eine größere Spannbreite aufweisen. Das macht die Sache nicht leichter. Hier zeigt sich die Kunst des Parteiführers, trotz der Vielfalt eine Fokussierung auf das Wichtige hinzubekommen. Das ist aber auch eine wichtige Übung, weil die politischen Entscheider später – beispielsweise in der Regierung – ja auch unterschiedliche gesellschaftliche Interessen vertreten und abwägen sollen. Aber auch hier gilt: In manchen Phasen braucht es nach außen Vielfalt, in anderen Homogenität.

Ein Beispiel?

Im Wahlkampf kann eine Partei als Chor auftreten, aber dieser muss von einem Dirigenten gesteuert werden. Wenn die Fliehkräfte allerdings zu groß werden und sich die unterschiedlichen Stimmen nicht mehr an derselben Melodie orientieren, wird das Wählerpublikum verwirrt.

Auch in einer Koalition tragen die beteiligten Parteien Machtkämpfe aus. Wie sollte ein Regierungschef damit umgehen?

Jeder Regierungschef muss interne Machtkämpfe pazifizieren, ohne sie zu unterdrücken. Einerseits darf Heterogenität nicht überstrapaziert werden. Andererseits ist Politik immer Konflikt und Konflikt macht munter. So wird nicht immer gleich die erstbeste Lösung genommen. Das ist produktiv und kreativ. Es gibt Zeiten der Exploration und Entscheidungsfindung, aber auch Zeiten der Umsetzung, in denen die Parteispitze dann für eine homogene Stoßrichtung sorgen muss.

Obwohl dieses Austarieren von Macht ein hartes Geschäft ist, erleben wir es immer wieder, dass Mächtige an der Macht kleben. Woran liegt das?

Politik ist ein Fulltime-Job. Das ist sinnstiftend für die einzelne Person. Wenn die Macht aber das einzige Feld ist, aus dem eine Person Sinn ziehen kann, ist das Vakuum nach dem Machtverlust umso größer. Politik ist sehr stark verbunden mit Gestalten und Verändern. Außerdem gehen mit Ämtern gesellschaftliche Anerkennung und nicht selten auch materielle Vorteile einher, die mit dem Machtverlust schwinden. Wenn ein Mensch alles auf eine einzige Karte der Sinnstiftung gesetzt hat, entsteht nach dem Machtverlust eine schmerzhafte Leere. Dann überrascht es nicht, dass Menschen an der Macht kleben.

Stellt Macht also den Charakter auf die Probe?

Ja. Machtvolle Positionen sind mit Versuchungen verbunden. In wichtigen politischen Ämtern wird heute die gesamte Person beansprucht. Das ist ein Belastungstest, bei dem die Gefahr besteht, dass die Person an der schwächsten Stelle bricht.

Was heißt das?

Wenn jemand für Vergünstigungen empfänglich ist, kann er in besonders belastenden Situationen genau dieser Versuchung erliegen. Die Herausforderung legt aber nicht nur Schwächen, sondern auch Stärken von Menschen offen. Insofern können Mächtige, die unter Druck stehen, auch über sich hinauswachsen.

Wo endet Machtausübung, wo beginnt Machtmissbrauch?

Machtausübung ist zunächst etwas Produktives. Machtmissbrauch beginnt da, wo Macht zu einem Wert an sich wird. Wenn Menschen ihre Agenda nicht mehr mit Macht verfolgen können, greifen sie mitunter auf das Arsenal der Gewalt zurück. Oder sie führen ihre eigene Klientel hinters Licht. Sie spielen dann der eigenen Bezugsgruppe vor, deren Agenda zu verfolgen, obwohl sie eigentlich ein doppeltes Spiel spielen.

Sie betonen, dass Mächtige ihre Bezugsgruppe sehr gut verstehen müssen. Bedeutet das im Umkehrschluss: keine Macht ohne Empathie?

Ich muss mich in die Lage einer anderen Person versetzen können. Ich muss sie da abholen, wo sie ist, um sie gegebenenfalls in eine andere Richtung zu lenken. Das ist eine Voraussetzung. Es gibt allerdings auch Soziopathen, die andere Menschen vorübergehend gut führen können, da sie deren Bedürftigkeit spüren und auszunutzen wissen.

Also geht es bei Macht am Ende doch darum, andere Menschen zu manipulieren?

Nein. Nur weil es Heiratsschwindler gibt, verteufelt man die Liebe nicht. Jeder Mensch kann hinters Licht geführt werden – in der Liebe wie in Machtfragen – aber nicht auf Dauer.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Bonn – wo liegt das?. Das Heft können Sie hier bestellen.