Schelm mit Tiefgang

In Nico Frieds Büro steht der Altkanzler. Gerhard Schröder hat die lila Krawatte lose umgebunden, trägt eine graue Jeansjacke über dem Anzug und einen seltsamen Hut auf dem Kopf. Nur seine würdevolle Miene will nicht so recht zu der eigenwilligen Aufmachung passen. Es ist aber auch nicht Schröder persönlich, der da steht. Es ist ein lebensgroßer Aufsteller aus Wahlkampfzeiten. Nico Fried hat den Pappkameraden selbst geschmückt. Der Hut, erklärt er, stamme von einer Reise aus Kasachstan und stinke leider ein wenig. Für den Brioni-Kanzler a. D. ist er wohl noch gut genug.
Über Frieds rundes, freundliches Gesicht huscht ein Lächeln. Mit seinen 42 Jahren hat er sich etwas Lausbubenhaftes erhalten. Den echten Schröder, erzählt er weiter, beobachtete er früher oft beim Schnitzelessen im Promi-Treffpunkt Borchardt. Das Edelrestaurant befindet sich im selben Haus wie die Parlamentsredaktion der „Süddeutschen Zeitung“, die Fried seit Oktober 2007 leitet. Aus seinem Fenster kann er direkt auf die Terrasse im Innenhof blicken. Er und seine neun Kollegen gehen aber nur selten dorthin. „Das Borchardt ist nicht unsere Kantine, das können wir uns gar nicht leisten“, sagt Fried.

Nicht alles bierernst nehmen

Seit acht Jahren arbeitet er nun schon als Hauptstadtkorrespondent für die „SZ“. Und je länger man sich mit ihm unterhält, desto deutlicher wird, wie wohl er sich bei der Zeitung fühlt. Lässig zurückgelehnt sitzt Fried auf der Ledercouch und erläutert, was er für die besondere Qualität der „SZ“ hält: Politik unterhaltend zu präsentieren, für den Leser erlebbar zu machen. Und: „diesen ganzen Polit-Klamauk nicht immer hundertprozentig bierernst zu nehmen“. So lesen sich seine Texte. Fried ist ein exzellenter Beobachter, der komplizierte Zusammenhänge in kleinen Szenen anschaulich erklären kann.
Der Journalismus wurde ihm quasi in die Wiege gelegt. Sein Vater Kurt ist bis zu seinem Tode 1981 Mitherausgeber und Feuilleton-Chef der „Südwest Presse“ in Ulm. Wenn der kleine Nicolaus Florian – so der vollständige Name – nicht gerade Fußball oder Schach spielt, tollt er mit seinen älteren Geschwistern Amelie und Rainer bei Papa durch die Redaktionsstube. Dennoch träumt er als Kind zunächst nicht von der großen Reporterkarriere. Fried wird musisch erzogen, geht zur Waldorfschule, denkt, dass er es später vielleicht mal mit der Schauspielerei probieren könnte.
Die Lust am Schreiben entdeckt er erst nach dem Zivildienst. Bei einem Praktikum in einer Münchner Medienagentur verfasst Fried Texte für Programmzeitschriften. Er bleibt zum Grundstudium in München, besucht danach die dortige Deutsche Journalistenschule. Während der Ausbildung lernt er Christoph Schwennicke kennen. Der wird später nicht nur sein Vorgänger im Berliner „SZ“-Büro, sondern auch zu einem langjährigen Freund. Die beiden tauschen sich fortan über ihre Texte aus, schreiben gemeinsam Reportagen.
Ein Stück über die rechtlichen Grauzonen bei der künstlichen Befruchtung bringt ihnen 1993 den renommierten Theodor-Wolff-Preis ein. Ein Arzt hatte so genannte Direktinseminationen vorgenommen: Frauen Eizellen mit frisch gespendeten Spermien eingepflanzt – ohne diese vorher auf Aids-Viren zu überprüfen. Fried recherchierte inkognito als vermeintlicher Samenspender in der Klinik.

Vom Vermischten in die Politik

„Der Nico ist ungeheuer neugierig und ein tief bohrender Fragensteller“, sagt eine Kollegin. „Der geht dahin, wo es weh tut“, meint ein anderer. Nach Abschluss seines Studiums in Hamburg heuert der Journalist 1996 bei der „Berliner Zeitung“ an. Das Blatt befindet sich unter dem neuen Chefredakteur Michael Maier im Umbruch. Im Bewerbungsgespräch fordert Fried, ins erste Buch, sprich: nach vorne ins Blatt zu kommen. Maier stellt ihn fürs „Vermischte“ ein. Das ist zwar im ersten Zeitungsbuch, aber nicht so ganz das, was Fried sich eigentlich erhofft hat. „Michael Maier hat mich ein bisschen ausgetrickst“, sagt er.
Im Rückblick erweist sich das „Vermischte“ aber als Glücksfall. Gemeinsam mit zwei weiteren Redakteuren muss Fried nur eine einzige Zeitungsseite betreuen. So kann er viel in anderen Teilen des Blatts schreiben. Im Sport, im Lokalen, auf der Seite Drei – und in der Politik. Chefin des Politikressort damals: Brigitte Fehrle. Die heutige Leiterin des „Zeit“-Hauptstadtbüros wird zur Mentorin des jungen Journalisten. „Sie hat mich nicht nur gefördert, sondern auch gefordert“, sagt Fried.
Für seine erste große Politikgeschichte schickt Fehrle ihn morgens um fünf Uhr ins entlegene Köpenick. Mit einer Ost-Offensive will die SPD-Bundestagsfraktion dort Stimmen zurückerobern, die sie an die PDS verloren hat. Es ist stockfinsterer Oktober. SPD-Fraktionschef Rudolf Scharping steht vor den Werkstoren von Samsung und AEG und versucht verzweifelt, mit den Arbeitern ins Gespräch zu kommen. Fast alle laufen vorbei. Amüsiert beobachtet Fried die Szenerie. Als er die Geschichte später in der Redaktionskonferenz verkauft, wird aus einer geplanten Meldung eine kleine Reportage.
Mehr und mehr erliegt Fried dem Reiz politischer Berichterstattung. „Zu erleben, wie Spitzenpolitiker denken, kommunizieren und entscheiden“, findet er faszinierend. Nach zwei Jahren ist er zum De-Facto-Nachrichtenchef der „Berliner Zeitung“ aufgestiegen. Er wird Redakteur für die Seite Drei, seine politischen Stücke fallen auf. Auch Kurt Kister, der im August 1999 die Leitung der Parlamentsredaktion der „Süddeutschen“ übernommen hat, wird auf Fried aufmerksam. Im Jahr darauf holt er ihn zur „SZ“.
Von Kister lernt Fried, Stil und politisches Denken zu verfeinern. Und Menschen zu führen. Ein „toller Chef“ sei Kister gewesen, sagt er, weil er seinen Leuten Freiraum gebe, und man sich gleichzeitig auf ihn verlassen könne, wenn es ernst wird. So ähnlich interpretiert Fried auch seine Chefrolle. Ein Kumpeltyp mit Führungsqualitäten. „So eine Parlamentsredaktion ist ja ein kleiner Organismus, wo man sehr stark aufeinander angewiesen ist“, sagt Fried, „bei uns läuft vieles auf Zuruf“. Große Hierarchien gibt es im „SZ“-Büro nicht, alle sagen „Du“ zueinander.
Fried hat auch kein Problem damit, Politiker zu duzen – solange die Grenze zur Kumpanei nicht überschritten und weiter kritisch berichtet wird. Anfangs fällt neben der Außenpolitik die PDS, dann die Grünen, später die SPD in seine Zuständigkeit. Als Büroleiter ist Fried formal auch für den Bundespräsidenten und das Kanzleramt verantwortlich. Doch eigentlich steht die SPD im Fokus seiner Berichterstattung. „Das ist schon ein relativ arbeitsintensives Thema“, sagt er und lacht.

Feierabend ungewiss

Vertrauliche Einschätzungen holt er sich im Hintergrundkreis „Gelbe Karte“. Das Misstrauen gegenüber diesen exklusiven Zirkeln von Journalisten und Politikern hält Fried für „totalen Schwachsinn“. Die Treffen gehörten einfach zum Tagesgeschäft der Hauptstadtkorrespondenten. Dennoch: Die Gefahr, im Berliner Politzirkus den Kontakt zur „Welt da draußen“ zu verlieren, sieht auch er: „Wir neigen ja hier in Berlin dazu, uns manchmal zu sehr in unserem Umfeld zu spiegeln.“ Die Leser interessierten aber vor allem politische Sachfragen und nicht die letzten kleinen Windungen im SPD-Machtkampf.
Sich selbst nimmt Fried von der Kritik nicht aus. Erdung holt er sich bei gelegentlichen Besuchen seiner Mutter in Ulm oder bei Treffen mit guten Freunden. Die Pflege von Kontakten außerhalb des Berliner Betriebs fällt ihm jedoch schwer. „Der Job nimmt einen schon sehr in Anspruch, da geht man nicht immer um sechs Uhr nach Hause“, sagt er. Wie zum Beweis überholt Fried den Besucher nach dem Gespräch im Treppenhaus. Er eilt zum nächsten Termin. Vielleicht ja zur echten Kanzlerin. Es ist kurz vor sechs.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Verhandeln – Die vernachlässigte Kunst. Das Heft können Sie hier bestellen.