Mehr Demokratie wagen?

Pro und Kontra

Pro
von Petra Pau

In Fragen direkter Demokratie ist Deutschland noch immer ein EU-Entwicklungsland. Dabei steht im Grundgesetz, Artikel 20, Absatz 2, seit 1949: „Alle Staatsgewalt (…) wird vom Volk in Wahlen und Abstimmungen (…) ausgeübt.“ Wählen durfte das Volk gleich – Abstimmen ist noch heute unmöglich, jedenfalls auf Bundesebene. Dank CDU/CSU.
Die angeführten Vorbehalte sind immer dieselben. Drei greife ich auf.
Erstens: Politische Fragen seien häufig so komplex, dass sie nicht einfach mit Ja oder Nein zu entscheiden seien. Das stimmt! Aber auch in Parlamenten wird letztlich nur mit Ja, Nein oder weiß nicht entschieden, wobei Fraktionszwänge manchmal nachhelfen.
Zweitens: Volksabstimmungen könnten zu leicht durch sachfremde Kampagnen manipuliert werden. Wo ist der Unterschied? Tausende Lobbyisten versuchen unentwegt, die Voten von Abgeordneten zu beeinflussen, und nicht selten durchaus mit Erfolg.
Drittens: Die Bürger hätten die Volksvertreter in eine Verantwortung gewählt, die diese nicht einfach abstreifen dürften. Gewählt ja, stellvertretend! Aber die Souveräne sind und bleiben laut Verfassung dennoch die Bürger, auch zwischen den Wahltagen.
Ich könnte ebenso noch die anderen beiden Standardargumente gegen Volksabstimmungen aufrufen. Sie sind nicht stichhaltiger. Mir geht es um etwas anderes. Immer häufiger werden – in dieser Reihenfolge – Parteien-, Politik- und Demokratiemüdigkeit beklagt. Das erste hat Gründe, das zweite ist fraglich, das dritte geht an die Substanz. Denn zunehmender Demokratieverdruss ist immer zugleich ein Einfallstor für rechtsextreme Kameraden mit ihren menschenverachtenden Parolen. Dagegen hilft letztlich nur mehr Demokratie, mehr direkte Demokratie, also Volksabstimmungen auch auf Bundesebene. Sie könnte zudem die Politik öffnen und Medien wecken.
 

Kontra
von Hans-Peter Uhl

Angeblich würden Volksentscheide „mehr Demokratie“ bewirken. Als Vorbild gilt die Schweiz, wo sich mittels Volksentscheiden nicht kurzsichtiger Populismus durchgesetzt habe, sondern eine effiziente Verwaltung und eine wettbewerbliche Wirtschaftsordnung. Aber lässt sich allein die Methode direkter Demokratie – ohne die gewachsene Schweizer Kultur – auf andere Länder übertragen? Zudem sind in der Schweiz die Zuständigkeiten zwischen dem Bund und den Kantonen klar abgegrenzt – im Gegensatz zum deutschen Föderalismus. Bei uns findet die Gesetzgebung fast nur im Bund statt, woran die Länder über den Bundesrat mitwirken. Diese mühsame Kompromissbildung – ständig ist irgendwo Wahlkampf – würde bis zur Unregierbarkeit gesteigert, wenn durch Volksentscheide eine weitere Veto-Macht hinzukäme.
Das generelle Problem ist, dass es keinen Kohärenzzwang für Volksentscheide gibt, die einzeln zwar eine Mehrheit finden mögen, aber gemeinsam keinen Sinn ergeben. Entsprechende Auswirkungen sind in Kalifornien zu sehen, wo die Bürger per Volksentscheid Steuererhöhungen verboten und zugleich höhere Staatsausgaben festgeschrieben haben. Aktuelle Proteste in Israel, Chile und andernorts zeigen, wie widersprüchlich populäre Forderungen häufig sind: mehr Sozialtransfers, gebührenfreie Bildung, weniger Steuern.
Der Vorteil der repräsentativen Demokratie ist, dass Parteien und Parlamente unterschiedliche gesellschaftliche Bedürfnisse vermitteln und zu einigermaßen kohärenten Politikangeboten bündeln können. Da viele Menschen für das lernende Verfahren parlamentarischer Abwägung kein Interesse mehr aufbringen, preisen sie Volksentscheide als Lösung für stärkere politische Beteiligung an. Aber gerade wenn sich ein wachsender Teil der Bevölkerung nicht mehr fortlaufend und übergreifend über politische Alternativen informiert, sondern dies nur noch punktuell und hoch emotionalisiert geschieht – wie wollen wir da zu besseren Ergebnissen kommen mit direkter Demokratie?

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Think-Tanks – Ihre Strategien, ihre Ziele. Das Heft können Sie hier bestellen.