Neue Vorbilder

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Scheitert Europa? Der Titel des neuen Buches von Joschka Fischer erinnert an die berühmte Rede der Bundeskanzlerin in der Hochphase der Eurokrise. Das war es aber auch mit den Gemeinsamkeiten. Fischer liefert eine scharfe Kritik der maßgeblich von Angela Merkel geprägten europäischen Politik seit Ausbruch der Finanzkrise im Jahr 2008.

Kern der wirtschaftlichen Probleme Europas ist für ihn die Austeritätspolitik; als Ursache der aktuellen Sicherheitskrise sieht er den “völligen Zusammenbruch strategischen Denkens”. Das ist bei einem Welterklärer, für den sich Fischer  selbst hält, so auch zu erwarten. Doch was schlägt der Stratege vor? Was muss geschehen, damit Europa nicht scheitert? Dieser Frage nachzugehen lohnt sich, allein ihre Prämisse ist in Deutschland lange tabu gewesen: Ja, die EU kann scheitern, sie ist nicht unauflöslich – allein, ihr Scheitern wäre eine Katastrophe für unser Land. Es spricht für Fischer, dass er sich keiner falsch verstandenen politischen Korrektheit unterwirft, sondern die Herausforderung beim Namen nennt.

Der Ex-Außenminister ist dabei auf sehr unterschiedlichen Niveaus unterwegs. Dass er das Heil für die Überwindung der ökonomischen Krise wie sein Mentor George Soros nach wie vor in der Vergemeinschaftung von Schulden sucht, ist unoriginell und gefährlich. Kein Wort verliert er über die Anreizprobleme von Eurobonds, über den “moral hazard”, der finanzpolitische Trittbrettfahrerei unausweichlich machen würde. Kein Wort auch über die machtpolitischen Realitäten innerhalb der Eurozone. Kein Wort über die demokratie-ethischen Fragen: Wer kontrolliert am Ende, was in anderen Eurostaaten alles auf Pump finanziert wird? Das ist alter Wein in neuen Schläuchen und vermag nicht zu überzeugen.

Klar und zielführend ist dagegen seine Analyse der Ukraine-Krise. Ausgehend von einer scharfen Verurteilung der russischen Politik skizziert er die sicherheitspolitischen Herausforderungen für die EU. Die Nationalstaaten hätten keine Konzepte angesichts real existierender außenpolitischer Risiken – sei es aus Mangel an Willen, Ressourcen oder beidem.

Die Mitgliedstaaten der EU fordert er deshalb auf, Europas Soft Power endlich mit der notwendigen Hard Power zu unterlegen, auch weil die Zeit der “sicherheitspolitischen Trittbrettfahrerei im Rahmen des transatlantischen Bündnisses” vorbei sei. Beides ist richtig und zeigt, dass er in der Außenpolitik “moral hazard” nicht nur erkennt, sondern auch ablehnt. Auch Deutschland wird seiner sicherheitspolitischen Verantwortung nicht gerecht, weil im Fall der Fälle die USA unsere Sicherheit garantieren – das ist “moral hazard” in Reinform.

Genauso interessant sind die Schlussfolgerungen, die er aus der Krise der EU insgesamt zieht. Richtig ist, dass die Mitglieder der Eurozone als Avantgarde voranschreiten sollten. Richtig ist auch, dass die Vertiefung der EU genauso notwendig ist wie die Beibehaltung einer starken Rolle ihrer Nationalstaaten. Neu ist, dass Fischer nicht die USA, sondern die Schweiz zum Vorbild für die EU erklärt. Dabei hat er allerdings den Widerspruch zwischen seinen europa- und wirtschaftspolitischen Vorstellungen nicht bedacht. Schulden werden in der Schweiz eben nicht vergemeinschaftet, notfalls kann eine Gemeinde auch pleitegehen. Das hat über Jahrzehnte für solide eidgenössische Finanzen gesorgt, weshalb vor Fischer schon der Chef des Ifo-Instituts, Hans-Werner Sinn, die Eidgenossen als Orientierungspunkt empfohlen hat. Dennoch macht Fischer einen Punkt: Die Schweiz existiert bundesstaatlich, aber dezentral, friedlich, aber wehrhaft, wohlhabend, aber mit niedriger Staatsquote seit über 700 Jahren – kein schlechtes Vorbild für die Europäische Union.

Joschka Fischer: Scheitert Europa?, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014, 160 Seiten, 15,99 Euro.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Die andere Perspektive. Das Heft können Sie hier bestellen.