Fraktion Ost im Bundestag?

25 Jahre Mauerfall

Lange waren die Grünen in den Medien nicht mehr so positiv präsent wie in den letzten Sommertagen dieses Jahres: Statt Tempo-30-Zonen und Veggie-Day, einem Verbot von Plastiktüten oder Motorrollern widmete sich die Partei der Freiheit: Einen Tag lang loteten Wissenschaftler, Bürgerrechtler und Politiker das komplexe Spannungsverhältnis zwischen individueller Handlungsfreiheit und Demokratie, sozialer und ökologischer Gerechtigkeit aus.

Auf dem Freiheitskongress im Deutschen Bundestag Mitte September ging es um Globalisierung und das Digitale Zeitalter, um Forschungsfreiheit und Rechtsextremismus. Und um die Menschen in all jenen Ländern, in denen der Kampf für Freiheit noch weit mehr Mut erfordert: Ob Tahrirplatz oder Maidan – an alle wichtigen Schauplätze heutiger Freiheitsbewegungen hatten die Veranstalter gedacht.

An fast alle. Denn an die Zeit vor 25 Jahren, als in der DDR um die Freiheit gerungen wurde, wurde zwar in einer Fotoausstellung erinnert. Aber kein einziger von denen, die sie erkämpft hatten, kam zu Wort.

Monika Lazar kann es Tage später immer noch nicht fassen. “Hunderttausende Menschen haben in Deutschland bewiesen, dass eine friedliche Revolution möglich ist, eine Diktatur gestürzt werden kann, wenn Menschen sich etwas trauen und sich der Demokratie verpflichten. Eine der wichtigen Forderungen 1989 war der Wunsch nach mehr Freiheit. Und ein Freiheitskongress meiner eigenen Partei ignoriert das, bis auf eine Ausstellung? Und traut sich nicht an einen historischen Ort, weil sonst die Hauptstadtjournalisten angeblich nicht kommen?”

“Es ist wahnsinnig schwer, hier ostdeutsche Themen durchzusetzen.”

Nun hätte sich die Bundestagsabgeordnete der Grünen ja für ein anderes Programm stark machen können. Hat sie, sagt die Leipzigerin, die vor einem Vierteljahrhundert jeden Montag mit ihren Eltern stritt, wenn sie auf den Nikolaikirchhof zog, weil schlicht nicht absehbar war, welche Folgen das haben würde. Doch am Ende, erklärt Lazar, seien die deutschen Bürgerrechtler erst der Debatte über Maidan und Tahrir zugeschlagen und schließlich ganz aus der Tagesordnung gekippt worden.

Nach dem Freiheitskongress widmete sich die Sprecherin der Grünen-Fraktion für Strategien gegen Rechtsextremismus wieder anderen Aufgaben. Wegen ihres vollen Terminkalenders, aber auch, weil sie weder “Berufsossi” noch “Ostmissionarin” sein mag: “Ich will nicht immer die sein, die ihre Biografie erklärt. Im Privatleben und im Wahlkreis fragt auch kaum jemand danach. Nur im Bundestag komme ich immer wieder an den Punkt, an dem ich denke: So, jetzt erzähle ich euch mal aus unserem Alltag.” Auch Besuchergruppen erklärt sie regelmäßig: “Es ist wahnsinnig schwer, hier ostdeutsche Themen durchzusetzen.”

Ostdeutsche Themen, 25 Jahre nach dem Mauerfall? “Natürlich gibt es die noch”, sagt die 47-Jährige, die vor ihrem Einzug in den Bundestag 2005 erst als Bäckerin und dann als Journalistin gearbeitet hat. Vor allem sozialpolitische Themen würden vor einem ganz anderen Hintergrund diskutiert. Die Rente mit 63 zum Beispiel, weil viele Menschen in den neuen Bundesländern sich immer noch wünschten, so lange wie möglich zu arbeiten. Oder die Betreuung unter 3-Jähriger, weil die Mehrheit der Mütter immer noch möglichst schnell in den Beruf zurückwol­le. “Das Verhältnis zu Arbeit”, sagt Lazar, “ist und bleibt ein anderes. Das hat viel, aber nicht nur mit finanziellen Zwängen zu tun.”

Dass ostdeutsche Themen so schwierig durchzusetzen sind im Bundestag, mag unter anderem an der geringen Zahl ostdeutscher Volksvertreter im Parlament liegen. In der Grünen-Fraktion stammen ganze sechs von 63 Abgeordneten aus den neuen Ländern. Unter ihnen an vorderster Front die Fraktionsvorsitzende Katrin Göring-Eckardt – die allerdings stellt ihre Herkunft nach einhelliger Meinung ähnlich wenig zur Schau wie Bundeskanzlerin Angela Merkel.

“Die Unsicherheit in vielen Elternhäusern nach der Wende – die prägt einen.”

Zwar ist das Ost-West-Verhältnis bei den Grünen-Abgeordneten wegen ihrer mageren Wahlergebnisse in Ostdeutschland besonders unausgewogen. Dennoch gilt: Insgesamt leben – selbst wenn man Berlin hinzuzählt – in Ostdeutschland weniger Wähler als in Nordrhein-Westfalen. Und so gingen bei der Bundestagswahl 2013 nur 103 von 631 Mandate an Abgeordnete aus den neuen Ländern.

Und auch das ist nur die halbe Wahrheit: Denn jedes vierte Mandat ging einem Bericht von Stern.de zufolge an einen Westdeutschen – Frank-Walter Steinmeier zum Beispiel trat in Brandenburg an, Thomas de Maizière in Meißen. Selbst bei den Linken, die sich gern als wahre Vertreter ostdeutscher Interessen präsentieren, verzeichnen die Landeslisten so manchen Import aus dem Westen: Jan Korte etwa, der aus Osnabrück stammt und für den Wahlkreis Anhalt im Bundestag sitzt. Oder Caren Lay, die in Neuwied geboren wurde und heute in Bautzen lebt.

Einer der berühmtesten Ostdeutschen im Parlament nahm zudem nach der Bundestagswahl 2013 nach 23 Jahren Abgeordnetendasein seinen Hut: Wolfgang Thierse, der schon im Juni 1991 eine flammende Rede für den Regierungsumzug von Bonn nach Berlin hielt: Alles andere sei nicht nur eine Beleidigung der Berliner, sondern auch eine Erniedrigung der Bürger in den damals noch sehr neuen Ländern.

Auch nahezu ein Vierteljahrhundert später ging Thierse nicht, ohne vor einem Schwund ostdeutscher Vertreter im Bundestag zu mahnen. Weniger Ostdeutsche im Bundestag, erklärte Thierse der “Zeit”, bedeute dort auch einen Verlust “existenzieller Erfahrungen des Umbruchs und Aufbruchs.”

Dabei sind den Thierses und Eppelmanns und Heyms eine ganze Reihe viel gehörter Jüngerer aus dem Osten gefolgt: Katherina Reiche, Carsten Schneider, Tankred Schipanski und Susanna Karawanskij sind nur einige. Oder auch: Daniela Kolbe, stellvertretende Sprecherin der SPD-Fraktion für Arbeit und Soziales, die 2011 mit 31 Jahren den Vorsitz der Enquete-Kommission “Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität” übernahm. In der Kommission, in der bemerkenswert diverse Vertreter darüber stritten, ob Wohlstand auch mit einem nachhaltigeren Verständnis von Wachstum erreicht werden kann, machte sich Kolbe als nüchtern-analytische Moderatorin einen Namen.

Nach den 17 Sachverständigen, denen sie damals vorstand, gefragt, antwortet sie noch heute prompt: “Am Anfang waren alle männlich, alle weiß, alle westdeutsch; nur bei einem Einzigen fand sich ein Hauch von ostdeutscher Biografie.” Und so wurde die Frage, ob sich unser Wohlsein in Zukunft immer noch im Bruttoinlandsprodukt oder vielleicht doch im Bruttosozialglück widerspiegelt, eben auch nur aus dem Westen beantwortet.

“Ich hoffe, dass das mit dem Osten irgendwann aufhört.”

Schade, findet Daniela Kolbe, beim Mauerfall gerade einmal neun Jahre alt. Auf dem Gebiet der ehemaligen DDR groß zu werden, hätte nämlich auch geheißen, “Transformationserfahrungen zu machen, die andere nicht haben: Die Unsicherheit, von der die meisten Elternhäuser geprägt waren. Arbeitslosigkeit, Umorientierung. Das prägt einen.” Auch sie, deren Eltern nach 1989 neue Ausbildungen machten, neue Jobs suchen mussten.

Und so fallen auch der 34-Jährigen außer Heimkinderfonds und Stasi-Aufarbeitung eine ganze Reihe Themen ein, die den Blick aus einer Region bedürften, in der vieles doch noch anders ist: “mit mehr Strukturwandel, weniger Tarifbindung, höherer Arbeitslosigkeit, einem niedrigeren Rentenniveau.” Selbst in der Ukraine-Krise, beobachtet Kolbe, “zeigen viele eine andere Haltung. Ihr Blick auf Russland ist ein anderer.”

Zusammen bilden die SPD-Abgeordneten der neuen Länder die Landesgruppe Ost, deren Sprecherin Kolbe ist; jede zweite Sitzungswoche treffen sie sich. Erst im August gossen sie ihre Erfahrungen in ein Papier: “Vor dem Hintergrund der Lage, die die Ostabgeordneten in ihren Wahlkreisen erleben”, fordern sie einen neuen sozialen Arbeitsmarkt – und damit eine Perspektive für Menschen, von denen nicht zu erwarten ist, dass sie den Weg zurück ins Arbeitsleben finden.

Um Unterstützung werben sie bei Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD), aber auch in regelmäßigen Treffen mit den ostdeutschen Vertretern der CDU, die ihrerseits in einer Gruppe organisiert sind. Auch deren Sprecher Arnold Vaatz mahnt seit Jahren, den Osten nicht zu vernachlässigen.

Tatsächlich aber wollen sich nicht alle Bundestagsabgeordneten aus den neuen Ländern in erster Linie als Vertreter ostdeutscher Themen verstanden wissen. Marco Wanderwitz etwa, 1975 in Chemnitz geboren, gibt offen zu, den Treffen der Ost-Abgeordneten “eher emotionslos” beizuwohnen. Der kultur- und medienpolitische Sprecher der CDU wünscht sich, dass “das mit dem Osten irgendwann aufhört”. Wenn er sich verorten müsse, politisch wie emotional, dann doch sehr viel lieber “auf der Südschiene als auf der Ostschiene”. Auch parteiübergreifende Treffen der Abgeordneten aus den neuen Ländern lehnt der Sachse aus dem Erzgebirge ab – neue Bündnisse allerdings nicht.

Mit auffallend warmen Worten verabschiedete der 39-Jährige auf Twitter Sachsens jüngst zurückgetretene Vorzeige-Grüne Antje Hermenau. “Wenn alle Grünen so wären wie sie, wäre Schwarz-Grün längst denkbar”, so Wanderwitz. “Seinen Hut in den Ring geworfen” hat er auch für eine Neuauflage schwarz-grüner Treffen (eine Art Pizza-Connection 2.0); allerdings bisher ohne Vollzug. Ostspezifisch wird Wanderwitz in genau einem Punkt: “In der Riege unter den politischen Posten, bei den Spitzenbeamten, finden sich immer noch kaum Ostdeutsche. An der Laufbahnerfüllung kann das ja nun kaum noch liegen.”

“Rein ostdeutsche Themen? Die gibt es doch heute kaum noch.”

Also: Keine Soljanka-Connection, keine gemeinsamen Kämpfe, und wenn dann nur im Wahlkreis – gegen die Ausdünnung der Zughalte in Leipzig etwa oder für die Ausrichtung der Bundesgartenschau 2015 in Brandenburg. Gemeinsame Initiativen im Bundestag hingegen – Fehlanzeige. “Am Ende ist die Parteimitgliedschaft dann doch wichtiger”, sagt Daniela Kolbe; Marco Wanderwitz will sich zudem nicht “in den Verdacht begeben, mit den Linken zu koalieren.”

Dabei entsprechen die Ansichten von deren Abgeordneten längst nicht immer gängigen Klischees. “Rein ostdeutsche Themen, so viele Jahre nach dem Mauerfall? Die gibt es doch kaum noch”, konstatiert etwa Diana Golze, ehemals Vorsitzende der Kinderkommission. Außerhalb des Bundestages erlangte die 39-Jährige jüngst gewisse Berühmtheit, als der Publizist Roger Willemsen sie bei seiner Langzeit-Recherche im “Hohen Haus” als Highlight des Parlaments entdeckte: “In ihrer Sachlichkeit fast glanzlos pragmatisch, mit hoher Informiertheit und Leidenschaft für eine Sache.”

Nach strukturschwachen Regionen gefragt, kontert die 39-Jährige mit Schleswig-Holstein, fragt man nach Überalterung in fast menschenleeren Regionen, erklärt sie, der demografische Wandel habe längst auch den Westen erreicht. Das Betreuungsgeld sei eine “gesamtdeutsche Katastrophe”.

Als “spezifisch ostdeutsche Problemlage” kommen am Ende dann auch nur 17 im Rentenrecht benachteiligte Gruppen zur Sprache. Und die ebenso spannende wie bedrückende Frage, weshalb in Ostdeutschland, wo 1989 Hunderttausende für Demokratie auf die Straße gingen, heute weit weniger Menschen als in der alten Bundesrepublik finden, dass es sich lohnt, an demokratischen Wahlen teilzunehmen. Was also ist dort passiert in den 25 Jahren seit dem Mauerfall? “Das”, sagt Golze, “ist doch die eigentliche Frage.”

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Die andere Perspektive. Das Heft können Sie hier bestellen.