Fragt mich alles!

Praxis

Wird das Internet die Politik verändern? Werden Wähler und Politiker wieder stärker miteinander kommunizieren? Und das nicht nur am Wahlkampfstand? Viele haben Großes von der digitalen Vernetzung erwartet; manch einer ist heute ernüchtert. Denn oftmals wollen die Bürger gar nicht mit den Politikern sprechen, chatten oder twittern. Vielmehr suchen sie, besonders im Wahlkampf, nach Informationen, wie die aktuelle Studie “Wahlkampf digital” der FU Berlin zeigt.

Also ganz auf das Internet verzichten? Eine schlechte Idee. Denn die direkten Dialogangebote im Netz ergänzen klassische Bürgersprechstunden und das Gespräch am Wahlkampfstand. Das ist besonders interessant für jene Wähler, die wenig Zeit in ihrem Wahlkreis verbringen, für ältere und gehbehinderte Menschen sowie für junge Leute, die mit dem Internet aufgewachsen sind.

Viele Politiker nutzen das Internet schon kreativ für den Dialog mit ihren Wählern: So lädt der Berliner Bundestagsabgeordnete Frank Steffel (CDU) zur Skype-Sprechstunde. Andere bevorzugen Twitter-Townhalls (mit Hashtags wie #AskPeer und #AskMartin) oder Facebook-Sprechstunden (wie die SPD-Bundestagsabgeordnete Cansel Kiziltepe). “politik-digital.de” hat die digitale Bürgersprechstunde mit Google-Hangouts etabliert und viele Politiker auf Bundes- und Landesebene nutzen engagiert Frageportale wie “direktzu.de” und “abgeordnetenwatch.de”. Nur ein Instrument vermisse ich in der deutschen Politik: “Ask me anything” (Kurz: AmA) auf Reddit.com. Reddit, 2005 gegründet, versteht sich selbst als sogenannter “Social News Aggregator”. Das heißt, angemeldete Nutzer veröffentlichen auf Reddit Texte, Links und Videos, die andere Nutzer wiederum bewerten. Je positiver die Masse einen Beitrag bewertet, umso prominenter erscheint er auf der Reddit-Startseite. Somit erstellen sich die Nutzer ihre eigene Nachrichtenseite. Die populärsten Inhalte werden in den Vordergrund gerückt. Daher auch der Name “Reddit”: Er ist zusammengesetzt aus read (lesen) und edit (bearbeiten). Im Jahr 2013 nutzten mehr als 730 Millionen Menschen das soziale Netzwerk. Damit ist es das sechstgrößte weltweit. Hierzulande wartet Reddit bisher noch auf seinen Durchbruch: Nur rund 2,2 Prozent der Nutzer kommen aus Deutschland.

Eine der bekanntesten Funktionen ist das sogenannte “Subreddit” AmA, eine Art Unterkategorie, in der Nutzer sich den Fragen der Community stellen. Meist findet die Fragerunde zu einem bestimmten Zeitpunkt statt, vergleichbar mit einem Chat oder einem Forum.

Für Politiker echtes Neuland

AmA bietet eine Kombination aus Funktionen, die es auch für die Politik interessant machen: Es ist niedrigschwellig, da man sich zum Lesen der Fragen und Antworten nicht anmelden muss. Es ist zeitunabhängig, da die Antworten archiviert werden und als FAQ genutzt werden können. Es ist einfach zu bedienen. Es ist nicht auf politische Themen begrenzt und bietet mehr Platz als Twitter und Facebook. Zudem bewertet die Crowd Fragen und Antworten und hebt so die spannendsten hervor. Da gut bewertete AmAs prominenter auf der Seite angezeigt werden, erreichen diese auch im Nachgang noch viele Leser. Erfolgreiche Inhalte von AmAs haben so in der Vergangenheit ganz eigene Dynamiken erfahren und sich viral weiterverbreitet. Durch die Offenheit des Formates (wörtlich: “Fragt mich alles”) entsteht eine ganz eigene Diskussionskultur. Die Chats sind viel interaktiver und thematisch breiter als auf vielen anderen Plattformen. Das macht Lust auf Dialog – und somit Lust auf Politik. Selbst politisch Desinteressierte können so niedrigschwellig an politische Inhalte herangeführt werden.

In den USA nutzte Barack Obama AmA zum Beispiel im vergangenen Wahlkampf. Dabei kamen mehr als 13.000 Kommentare in einer halben Stunde zusammen. In Deutschland haben sich bisher, abgesehen von einigen Piraten-Politikern und Netzprominenten wie Stefan Niggemeier oder Ronny Kraak vom Blog Kraftfutter- mischwerk, eher Bürger den Fragen der Gemeinschaft gestellt, die nicht im Licht der Öffentlichkeit stehen. Diese Chats zeigen schon sehr eindrucksvoll, wie spannend, ungewöhnlich, erkenntnisreich und inspirierend eine AmA-Session sein kann.

Ich gebe zu: Anfangs wirkt Reddit etwas unübersichtlich, aber nach ein paar Minuten hat man die Logik hinter dem grafisch nicht besonders anspruchsvollen Layout verstanden. Wer also ist der erste prominente deutsche Politiker, der sich auf Reddit.com wagt? Ich würde mich freuen, wenn auch deutsche Mandatsträger mit Lust auf Dialog den Weg zu Reddit finden würden – ein Versuch lohnt sich!

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Die andere Perspektive. Das Heft können Sie hier bestellen.