Diener vieler Herren

Dieser Lobbyist hat etwas von einem Pfarrer. Auf dem Gesicht von Stephan Becker-Sonnenschein liegt meist ein Ausdruck milder Güte. „In Ruhe darüber reden“, ist eine seiner Lieblingswendungen im Gespräch. Sein bedachtes Wesen ist sicher von Vorteil, wenn es darum geht, den Ruf der von Skandalen gebeutelten Lebensmittelindustrie aufzubessern.

Becker-Sonnenschein ist seit einem halben Jahr Geschäftsführer des Vereins „Die Lebensmittelwirtschaft“ in Berlin. Dessen Gründer sind sieben Verbände der Lebensmittelbranche, darunter die Bundesvereinigung der deutschen Ernährungsindustrie und der Deutsche Bauernverband. Laut Satzung will der Verein das Vertrauen der Verbraucher in die Branche erhöhen.

Als Lobbyist sieht sich Becker-Sonnenschein dabei ganz und gar nicht. „Lobbying ist nicht unsere Aufgabe“, meint er. Becker-Sonnenschein hat sich zwar bei den verbraucherpolitischen Sprechern der Bundestagsfraktionen vorgestellt, regelmäßige Gesprächsformate sind jedoch nicht geplant. Nach seiner Definition ist ein Lobbyist jemand mit einem Verhandlungsmandat. „Der Verein ist nur für die Kommunikation zuständig. Wir sind nicht in Gremien vertreten, die etwa festlegen, welchen Leberanteil eine Leberwurst haben darf“, so der 57-Jährige. Ihm gefällt daher die Jobbezeichnung „Kommunikator einer Branche“ besser. Noch präziser wäre „vorsichtiger Kommunikator“.

Ein erstes Gespräch findet auf Wunsch Becker-Sonnenscheins „zum Kennenlernen“ statt, als Hintergrundgespräch unter sechs Augen in den Büroräumen des Vereins in der Friedrichstraße 171. Pressesprecher Hanno Burmester ist auch dabei. Dabei ist der Tenor bei Medien und aus dem Lager der Verbraucherschützer bis jetzt erwartungsvoll positiv. „Wir begrüßen den angestrebten Dialog“, heißt es beispielsweise beim Bundesverband der Verbraucherzentralen. Aber ein guter Ruf ist schnell dahin und für jemanden, der stets Reputationsmanagement gemacht hat, ist Vorsicht wohl eine Berufskrankheit. Becker-Sonnenschein hat früher die Produkt-PR bei Philip Morris geleitet und für RWE und Telefónica in ähnlichen Funktionen gearbeitet. Zuletzt betrieb er eine Beratungsagentur in München. Deren Name: 1bester Ruf. Im Dezember vergangenen Jahres kam das Angebot, „Die Lebensmittelwirtschaft“ aufzubauen. Wie der Kontakt zustande kam, möchte Becker-Sonnenschein nicht sagen.

Die Idee, eine Lobbyplattform zu gründen, hatten die Verbände Ende 2011. Damals verfestigte sich der Eindruck, dass die Positionen der Branche medial zu wenig präsent sind, beispielsweise bei Sendungen zum Thema Lebensmittel im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, erzählt Becker-Sonnenschein. Es war auch die Zeit, als „Lebensmittelklarheit.de“ online ging. Die Internetseite erlaubt es Verbrauchern, ihre Bedenken hinsichtlich bestimmter Produkte und Hersteller öffentlich zu äußern.

Das Projekt war nur möglich aufgrund der finanziellen Unterstützung des Verbraucherschutzministeriums. Umgesetzt wird es von den Verbraucherschutzzentralen. Für Foodwatch-Vize Matthias Wolfschmidt ist die Seite ein „Meilenstein, um die Wagenburgmentalität der Lebensmittelbranche in Sachen Transparenz aufzubrechen“.

Für das Informationsbedürfnis der Verbraucher hat Becker-Sonnenschein Verständnis. Aber es müsse auch klar sein, wie intensiv der Wettbewerb am Lebensmittelmarkt sei. „Wenn ein Unternehmen nur einen bestimmten Aromastoff in der Limonade als Wettbewerbsvorteil sieht, hat das Thema Transparenz für dessen Vertreter noch eine andere Bedeutung“, meint er. Der Mann hat keine einfache Aufgabe.

Der Pferdefleisch-Betrug und das Kartoffel-Kartell sind die letzten in einer Endloskette von Skandalen der Nahrungsindustrie. Und die Verbraucher-NGOs haben in den vergangenen Jahren ihre Kampagnenfähigkeit erfolgreich ausgebaut. Ein Beispiel ist der „Goldene Windbeutel“ von Foodwatch. Der Negativ-Preis brandmarkt Produkte, die aus Sicht der NGO besonders dreist beworben werden. Die Kritiker der Lebensmittelindustrie positionieren ihre Sichtweise bestens in den Köpfen. Ihr Bild: Der Nährstand ist eine arrogante Chaos-Branche, bei der es ein Wunder ist, das die Verbraucher nicht den Tod erleiden.

Bis dato hat die Nahrungsindustrie nichts Vergleichbares zu bieten, um für ihre Sicht der Dinge zu werben. Becker-Sonnenschein soll das jetzt ändern. Für den Geschäftsführer der „Lebensmittelwirtschaft“ sind die Skandale eher bedauerliche Betrugsfälle. Diese dürften das Gesamtbild einer ansonsten „sensationell“ arbeitenden Branche nicht verzerren. Das Bild, das der höfliche Bayer von der Lebensmittelwirtschaft hat, lässt sich mit einem präzise arbeitenden Schweizer Uhrwerk vergleichen – „sicheres Essen für 82 Millionen Menschen, dreimal am Tag“. Hin und wieder gebe es Aussetzer – „Betrugsversuche“. Deren Ursache gilt es akribisch aufzuspüren und zu bereinigen. Danach arbeitet das Uhrwerk noch präziser.

“Lobbying ist nicht unsere Aufgabe”

Um das Image der Nahrungsmittelbranche aufzupolieren, hat sich Becker-Sonnenschein eine „Drei-Säulen-Strategie“ ausgedacht. Zum einen soll der Verein die Leistungen der Lebensmittelwirtschaft deutlich machen. Zum anderen soll er Vorwürfe an die Branche herantragen und Antworten geben. Und drittens will der Geschäftsführer Perspektiven in Sachen Ernährung aufzeigen. Dabei hat „Die Lebensmittelwirtschaft“ nicht vor, mit den Verbrauchern direkt zu kommunizieren. Primäre Ansprechpartner sind Medien und andere Multiplikatoren. Bis jetzt gibt es wenig Fassbares. „Geht man nach dem Branchendreiklang Informieren, Involvieren, Mobilisieren, ist der Verein noch auf Stufe eins“, so Jan Böttger, Spezialist für den Bereich Lebensmittel bei der Agentur Ketchum Pleon.

Auf der Webpräsenz der „Lebensmittelwirtschaft“, die von der Münchner Agentur Kochan & Partner gestaltet wurde, gibt es noch nicht allzu viel zu sehen. Becker-Sonnenschein bittet um Geduld, man sei in der Aufbauphase. Ziel ist es, in zwei bis drei Jahren als Denkfabrik zum Themenkomplex Lebensmittel wahrgenommen zu werden.

Ein konkretes Projekt ist ein Wettbewerb an der Hochschule Augsburg. Deren Studenten im Fach Gestaltung sollen Entwürfe für eine zeitgemäße Bildersprache für die Lebensmittelwerbung entwickeln – „weg von altmodischen und übermäßig idyllisierten Bildern“, wie es auf der Vereins-Webseite heißt.

Was allerdings seltsam anmutet: Das selbsternannte „Dialogforum“ scheint den Dialog nicht gerade zu suchen. Auf der Webpräsenz lassen sich Artikel nicht kommentieren und auch Facebook dient nur als Verbreitungskanal. Dazu passt: Wer Becker-Sonnenschein auf Twitter folgen will, muss erst eine Anfrage senden.

In der zweiten Jahreshälfte soll die Vereinsarbeit Fahrt aufnehmen. Nach der Sommerpause ist eine Pressereise an die Nordsee geplant, um Journalisten Einblick in die deutsche Fischindustrie zu bieten. Ende des Jahres soll es ein Experten-Symposium geben. Zudem plant der Verein ein regelmäßiges Diskussionsformat in seiner Geschäftsstelle, das sich mit Themen wie der Stichprobenkontrolle oder der Siegelvielfalt bei Lebensmitteln beschäftigen soll.

Die größte Herausforderung für Becker-Sonnenschein könnte werden, dass er ein Diener vieler Herren ist, so der Tenor aus der Public-Affairs-Szene. Die Interessen von Landwirten, Handel und den Nährkonzernen sind äußerst heterogen. Ihn selbst ficht das nicht an. „Wir müssen uns nicht an den kleinsten gemeinsamen Nenner halten.“ Bis jetzt sieht es aber ganz danach aus.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Bild, Blogs und Glotze – Die wichtigsten Meinungsmacher im Wahljahr. Das Heft können Sie hier bestellen.