Die Flinke

Bundestag

Schwarz-weiß ist das Foto, an den Ecken schon etwas vergilbt: Es zeigt Kohl und Genscher nebeneinander auf der Regierungsbank, Oppositionsführer Hans-Jürgen Vogel mit erhobener Hand am Rednerpult. Davor an einem halbrunden Tisch: drei Männer und eine Frau, emsig schreibend.

Die Frau ist Bärbel Heising, eine der dienstältesten Stenografinnen im Bundestag. 28 Jahre liegen zwischen der Aufnahme und heute, doch optisch hat sie sich kaum verändert. Schwarze Kleidung, die dunkelblonden Haare kurz und igelig. Nur die Brille hatte damals größere Gläser: “Das war während einer meiner allerersten Sitzungen im Plenum”, sagt Heising mit Blick auf das Bild an der Wand. Die 53-Jährige, die heute vor allem für die Gewinnung und Ausbildung des Nachwuchses im Stenografischen Dienst zuständig ist, steht in ihrem Büro, exakt drei Minuten vom Reichstagsgebäude entfernt. Wie alle 31 Bundestagsstenografen weiß Heising das genau – sie hat die Zeit gestoppt.

Ihre Arbeit ist durchgetaktet, ein täglicher Wettlauf gegen die Zeit. Schließlich darf nichts, was in den Plenarsitzungen passiert, verloren gehen. “Nicht nur die Reden, sondern das ganze Geschehen muss festgehalten werden”, erklärt Heising. Und damit jeder Zwischenruf, jeder Applaus, jedes Lachen oder Schimpfen. Ob Abgeordnete Plakate hochhalten und dafür des Saales verwiesen werden wie die gesamte Linksfraktion 2010, oder ob der CSU-Politiker Ernst Hinsken 2002 Kanzler Schröder eine rote Laterne als Symbol für die aus seiner Sicht misslungene Wirtschaftspolitik überreichen will: Alles muss im Protokoll nachzulesen sein und das innerhalb kürzester Zeit. Schon am nächsten Morgen ist der Stenografische Bericht des Bundestags online abrufbar, am Mittag liegt er auch gedruckt vor.

Damit das gelingt, muss man schnell sein. Sehr schnell. Über 400 Silben pro Minute schafft Heising im Schnitt, sie kann damit zehn Mal rascher stenografieren, als Menschen normalerweise schreiben. Zudem müssen Heising und ihre Kollegen exakt arbeiten, gerade wenn es im Plenum drunter und drüber geht: Was hat der Abgeordnete von den Grünen gerufen? Was dessen Banknachbarin von der SPD? “Wir müssen ganz sicher sein, dass wir einen Zuruf richtig verstanden haben und ihn im Protokoll an der richtigen Stelle notieren.” Eine große Verantwortung: “Es kann ja sein, dass der Abgeordnete deshalb einen Ordnungsruf erhält.”

Protokolle der Zeitgeschichte

Trotz aller elektronischen Hilfsmittel, wie Datenbanken zur Recherche oder Tonmitschnitte der Debatten, sind die Stenografen auch heute nicht zu ersetzen. “Es gibt keine Software, die in der Lage ist, all das verlässlich aufzuzeichnen, was 631 Abgeordnete im Plenum gerade sagen oder tun”, sagt Heising. “Selbst wenn wir eine so feine Tonanlage hätten, das Ergebnis wäre doch nur Wortsalat.” Vor allem die Interaktion könnten nur Stenografen dokumentieren: “Und das ist doch der Punkt, wo die politischen Meinungen par excellence aufeinanderprallen!”

Es gibt sogar Situationen, in denen die Stenografen völlig auf sich gestellt sind: Im November 1992 versagte plötzlich die Tonanlage des einen Monat zuvor bezogenen neuen Plenarsaals am Rhein, Behnisch-Bau genannt. “Der damalige Arbeitsminister Blüm erläuterte gerade seine Politik, da fiel sein Mikrofon aus”, erzählt Heising. Der Minister beendete seine Rede ohne technische Unterstützung, ebenso wie Heising und Kollegen das Stenogramm. Die Anlage blieb allerdings stumm, und der Bundestag musste weitere zehn Monate im alten Wasserwerk tagen – dort, wo bereits seit 1986 der provisorische Plenarsaal gewesen war.

Als Heising im selben Jahr ihren Dienst antrat, war Deutschland noch geteilt und die promovierte Germanistin eine der ersten Frauen in diesem Job. Seither hat sich viel getan: Die Bundestagsstenografinnen sind heute in der Mehrheit, die Mauer ist gefallen, Deutschland vereint und das Parlament nach Berlin übergesiedelt. Heising und ihre Kollegen haben derweil alles in ihrer extraschnellen, hauseigenen Kurzschrift notiert: die kleinen politischen Scharmützel am Rande ebenso wie die großen Wortgefechte.

“Gerade die Bonn-Berlin-Debatte war etwas Besonderes – sie hat natürlich auch uns Mitarbeiter berührt”, erinnert sich Heising. “Einige Kollegen wollten in dem Augenblick, als das Ergebnis der namentlichen Abstimmung bekannt gegeben wurde, unbedingt im Plenum sein, um es mitzuerleben.” Für die gebürtige Bochumerin stand danach rasch fest, dass sie und ihr Mann mit nach Berlin gehen würden.

15 Jahre ist das her. Bereut hat Heising die Entscheidung nicht. Von den drei Parlamentsgebäuden, in denen sie in ihrer bald 30-jährigen Karriere tätig war, ist ihr das Reichstagsgebäude das liebste: “Es ist ein historischer Ort, einer, der die besondere Geschichte des zusammengewachsenen Deutschlands auch äußerlich widerspiegelt. Außerdem gefällt mir, dass das Plenum für Besucher so einsehbar ist. Wenn ich am Stenografentisch sitze und nach oben schaue, kann ich sie in der Kuppel sehen.” Für so ein Innehalten hat Heising freilich selten Zeit gehabt.

Der Berliner Plenarsaal hat noch einen ganz praktischen Vorteil: Man kann ihn bei Regenwetter durch einen Tunnel erreichen. “Im Bonner Wasserwerk gab es zumindest den überdachten ‘Löwengang’, aber zum Behnisch-Bau mussten wir immer durchs Freie. Da ist es schon mal passiert, dass man sich auf dem Weg zur Arbeit die Schuhe ruiniert hat und mit nassen Füßen im Plenum saß.”

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Bonn – wo liegt das?. Das Heft können Sie hier bestellen.